Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula
März, Elke Schmitter:
"Leidenschaften"
99 Autorinnen der Weltliteratur
Frauen über Frauen
Wir bekommen hier "99 Autorinnen der Weltliteratur" von vier
namhaften Kritikerinnen und Autorinnen präsentiert - flankiert von zwei
Grundgedanken: "Genie hat kein Geschlecht", wie es Madame
de
Staël formulierte und "Eine fehlt immer", wie das Vorwort
lakonisch überschrieben ist, um gleich allen den Wind aus den Segeln zu
nehmen, die an der getroffenen Auswahl herumzumäkeln gedenken. Überdies
wurden auch nur 99 Autorinnen ausgewählt, "weil immer eine fehlt zum
vollen, zufriedenen Hundert". In ihrem "Nachwort" bemerkt Elke
Schmitter über die 99 Autorinnen, dass "deren Beitrag zur Kultur-
und Literaturgeschichte von eminenter Wirksamkeit ist". Schmitter
betont, dass es zwischen einer "männlichen" und einer
"weiblichen" Bibliothek durchaus entscheidende Unterschiede gebe -
ebenso sei die vorliegende Sammlung eine "Galerie der Emanzipation".
Damit wird auch verwiesen auf die Schwierigkeiten in außereuropäischen
Ländern, dass sich dort überhaupt Autorinnen entwickeln konnten und
können. Erinnert wird aber auch an Virginia Woolfs berühmtes
Gedankenspiel, was aus einer Schwester Shakespeares geworden wäre,
welches "mit unverminderter Brisanz für weite Teile Afrikas, der
arabischen und muslimischen Welt" gilt.
Das vorliegende Buch spannt den Bogen von Sappho
bis Joanne
K.
Rowling unter der Maßgabe, dass die Geschichte der Autorinnen "eine
andere war und ist als die ihrer männlichen Kollegen." Ausgewählt
wurde nach der kulturgeschichtlichen Wirkung und nach der literarischen
Qualität - so ist zu erklären, dass z.B. Courths-Mahler und Jelinek
hier gleichermaßen gewürdigt werden. Etwa 40 der 99 Autorinnen waren von
Schwermut befallen, was bei etlichen zu Trunksucht oder Suizid führte.
Seit dem 19. Jahrhundert gibt es mehr Autorinnen, die von ihrem
Schreiben leben wollen und können, was mit der allgemeinen
gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hat und mit "einem Zugewinn an
Gesundheit, mit Geburtenkontrolle und Emanzipation" - und dem von
Virginia
Woolf einstmals beschworenen "Zimmer für sich allein".
Oder wie Erica Pedretti das einmal formulierte: "Wenn man schreiben
könnte, ohne den Mann, die Kinder oder sonst jemanden zu verletzen."
Jürgen Serke schrieb übrigens in seinem 1979 erschienenen Buch "Frauen
schreiben - Ein neues Kapitel deutschsprachiger Literatur" (welches
witzigerweise 33 Porträts enthielt): "Die abtrünnigen
Einzelgängerinnen sind zwar auch heute noch eine Minderheit, aber sie
haben inzwischen Millionen von weiblichen Sympathisanten auf ihrer
Seite." Erwähnt sei auch, dass Marcel
Reich-Ranicki in Anlehnung an Ruth Klügers Buch "Frauen lesen
anders" im Jahr 1998 einen Sammelband mit Interpretationen zu Gedichten
von Autorinnen mit dem Titel "Frauen schreiben anders" herausbrachte. In
seinem Vorwort bemerkte er damals: "Man
sollte sich hüten, die Poesie der Frauen auf bestimmte Typen und
Tendenzen festzulegen. Aber man sollte auch nicht darauf verzichten,
die vorherrschenden Merkmale und charakteristischen Kennzeichen dieser
Poesie zu ermitteln und zu erkennen." Interessanterweise lehnt
Ulla Hahn in ihrem 2006 erschienenen Buch "Dichter
in
der Welt" (welches übrigens u.A. Aufsätze zu 15 Autorinnen
enthält) es ab, von einer spezifischen "weiblichen Ästhetik" zu
sprechen, denn der "Raum der Kunst ist universell", und das
Geschlecht spielt nur "eine Rolle unter vielen anderen
soziokulturellen Merkmalen."
Die Porträts sind in alphabetischer Reihung angeordnet und jeweils
zwischen vier bis acht Seiten lang. Somit sind Übersichtlichkeit und
schnelle Orientierung gegeben. Zu einem Foto charakterisiert ein Text
die kulturelle Wertigkeit des Werks, dazu gibt es jeweils einen
biografischen Abriss und einige wenige Titel als Leseempfehlung. Die
Darstellung geschieht quasi im modernen Jargon - z.B. gilt Ingeborg
Bachmann als " Star der deutschsprachigen Literatur in der
Nachkriegszeit", sie sei eine "Kultfigur" geblieben und
erlebte ihre "feministische Auferstehung als Prosa-Autorin".
Oder zu Djuna Barnes heißt es etwa: "Wie ein Überraschungsei liegt
im Heuhaufen der Weltliteratur" ihr Buch "Nachtgewächs", der Roman
sei angesiedelt im "wuseligen Paris", und zur intellektuellen
Schande wird eingestanden: "Es war aber nicht die abgründig komplexe
Poesie, es waren ihre Liebschaften, die das Interesse an Djuna Barnes
bei den Mitgliedern der Frauenbewegung weckte." Man kann sich auch
nicht vorstellen, dass ein Autor in der Weise charakterisiert würde, wie
dies etwa bei Colette
geschieht: "Sie stand gern auf der Bühne, sie zeigte gern ihre
wohlgerundeten, zwischen Stämmigkeit und Weichheit ideal balancierten
Glieder. Sie mochte ihre etwas breiten Hüften, ihre festen Brüste und
Oberschenkel und erst recht ihre prachtvollen dunklen Locken." Man
stelle sich vor, man schriebe in dieser Weise über Fontane oder Dürrenmatt
- oder ein Mann würde über die körperlichen Reize von Autorinnen
schwärmen, wie fiele dann das feministische Erynnienensemble über ihn
her. Abgesehen von alledem: wenn man eine Literaturgeschichte liest,
interessiert man sich wohl eher für die Bücher als den Hüftumfang einer
Autorin.
Andererseits tut es der heutigen Lesbarkeit möglicherweise gut, wenn
Misserfolge als "Flops" bezeichnet werden, verwickelte
Familienkonstellationen eben als "Patchwork-Verhältnisse"
erscheinen oder der "mediale Firlefanz" in dieser schlichten
Deutlichkeit denunziert wird. Zu konzedieren ist allerdings ausdrücklich
und deutlich, dass die Autorinnen der vorliegenden Porträts mit
Nachdruck versuchen, die porträtierten Kolleginnen sowohl als Individuen
erscheinen zu lassen als sie auch zu typisieren, um sie voneinander zu
unterscheiden und einprägsamer werden zu lassen. Die Analysen sind
plausibel und einprägsam, sie helfen auf jeden Fall, eine gewisse
Leselust mit gewissen Details zu motivieren bzw. zu rechtfertigen. Und
selbst Negativbeispiele werden so erläutert, dass man neugierig wird,
selbst einmal einen Trivialroman zu lesen. Der Titel der vorliegenden
Sammlung kann so verstanden werden, dass die vier Autorinnen sich
durchaus mit Leidenschaft ihren Kolleginnen gewidmet haben und wir als
Leser angesteckt werden können.
Vielleicht kann ja über dem Projekt die berühmte Fragestellung der Marie
Luise
Kaschnitz schweben: "Können wir etwas, was ein Mann nicht
kann? Können wir etwas nicht, was ein Mann kann?"
Beantwortet wurde diese Frage selten - und wenn, dann selten seriös. Und
vielleicht müssen wir eine Sentenz von Friederike
Mayröcker akzeptieren lernen: "Immer stimmt alles ein bißchen
nicht ganz." So ist es mit der Zusammenstellung des vorliegenden
Buches wie mit dem restlichen Leben. Wahrscheinlich finden wir aber bei
Joyce Carol Oates die zentrale Grundaussage nicht nur des "weiblichen"
Schreibens: "Je verletzlicher wir sind, desto mehr suchen wir die
Ruhe in der Imagination." Und das gilt für Autoren und Leser bzw.
Autorinnen und Leserinnen gleichermaßen. Ob nun aber die Imagination bei
Autorinnen leidenschaftlicher ist als bei Autoren, möge man durch eigene
Lektüre der vorliegenden Porträtsammlung herausfinden.
(KS; 01/2010)
Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula
März, Elke Schmitter:
"Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur"
C. Bertelsmann, 2009. 639 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Ingeborg Gleichauf: "Worte, mir nach! Acht Dichterinnen und ihr Leben"
Acht unsterbliche Dichterinnen im Porträt: Von der faszinierenden
Verbindung zwischen Kunst und Leben.
Sappho
scheute sich nicht, aufzuschreiben, was sie im Innersten bewegte, Marina
Zwetajewa versuchte, den Reichtum ihrer Sprache der äußeren Armut und
dem politischen Unfrieden entgegenzusetzen. Else
Lasker-Schüler half die Bilderwelt ihrer jüdischen Ahnen, auch in
der Zeit des Nationalsozialismus den Glauben an eine bessere Zukunft
nicht zu verlieren. Djuna Barnes erlaubte sich einen kritischen Blick
und eine scharfe Zunge, Annette
von Droste-Hülshoff und Emily Dickinson schrieben ohne Vorbilder
und setzten eigene Maßstäbe. Sylvia
Plath stemmte sich mit ihren Gedichten gegen die eigene Depression,
und Ingeborg Bachmann erfand neue Bilder und Register für die
nachkriegsdeutsche Sprache. Mit Porträts
von Peter Schössow. (dtv Reihe Hanser)
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Ulla
Hahn (Hrsg.): "Stechäpfel. Gedichte von Frauen aus drei
Jahrtausenden"
Alt wie die Dichtung selbst sind die Themen dieser Anthologie: Liebe
und Tod, Ich- und Welterfahrung, das Bemühen um die Sprache, um das
lyrische Wort. Welch ein weiter Weg aber von Sappho bis Adrienne Rich,
von Li Tsching-dschau bis zu Ingeborg Bachmann und ihren jüngeren
Schwestern. In dieser von Ulla
Hahn zuerst 1992 herausgegebenen Sammlung von Frauenlyrik aus
aller Welt, die jetzt beträchtlich erweitert, "globalisiert" und
aktualisiert erscheint, begegnen sich Klassikerinnen aus vielen
Jahrhunderten mit frischen Stimmen einer neuen Generation. (Reclam)
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Ulrike Stamm: "Der Orient der Frauen.
Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19.
Jahrhundert"
Das Buch erschließt mit den Orientreiseberichten von
Schriftstellerinnen des frühen 19. Jahrhunderts ein vernachlässigtes
Segment weiblicher Autorschaft. Unter Rückgriff auf feministische
und postkoloniale Theorieansätze fragt es nach
Legitimationsstrategien weiblichen Reisens und Schreibens und
analysiert die Selbstdarstellung der Autorinnen - darunter Ida
Hahn-Hahn und Ida Pfeiffer - im Spannungsfeld von Heroismus und
Sentimentalität. Darüber hinaus wird die unterschiedliche
Darstellung des Orients, d.h. vor allem der Orientalin und
ihrer Räume verglichen. Im Fokus stehen der Zusammenhang von Selbst-
und Fremdrepräsentation sowie die Frage, welche Deutungsmuster die
zwei völlig unterschiedlichen Kulturen von Orient und Okzident
erfahren. (Böhlau)
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