Bereits in den ersten
Geschichten, die Kinder von ihren Eltern vorgelesen bekommen, kann man
die krude Einteilung in gut und böse, alt und jung, schön und hässlich
erkennen. Mythen, Märchen
und Sagen, deren Wurzeln wohl ganz nah beieinander liegen, wenn man auch
die Mythen als grundlegenden Ursprung aller Geschichten begreift, fassen
die Urgedanken der Menschen in schriftlicher Form zusammen und
präsentieren Geschichten, die auch immer von Macht und Unterdrückung
sprechen. Fast immer ist dies ein Tauziehen zwischen oppositionären
Parteien, und paradoxerweise, vielleicht gar absurderweise, kann auch
die Geschichtsschreibung viele Lieder davon singen.
Die Herrschaft der Nationalsozialisten und die damit einhergehende
Unterdrückung, Vernichtung und "Ausschlachtung" der Juden gilt, wenn man
dies einmal so ketzerisch bezeichnen darf, als "Paradebeispiel".
Politik, Geschichtsforschung, Kultur-, Literatur- und
Sozialwissenschaft, die Liste könnte man wohl unendlich fortsetzen,
haben sich immer wieder mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, und
natürlich sind es die Einzelschicksale, die uns Menschen berühren, und
wichtig ist es, diese realen Geschehnisse zu bewahren, sie
weiterzutragen, damit das Einfühlen der Nachkommen ermöglicht werden
kann, denn das Einfühlen und Nachempfinden, wie es beim Lesen eines
Romans der Fall ist, gestaltet eine ganz wichtige Instanz zur
Selbstbewusstwerdung in Bezug auf eine Welt, die sich oft mit recht
grobschlächtigen Einteilungen beschäftigt und doch so viel tiefer
gehende Nuancen vorzuweisen hat.
Mit Maria Àngels Angladas "Die Violine von Auschwitz" liegt in der
deutschen Übersetzung von Theres Moser der als ihr bekanntestes Werk
bezeichnete Roman vor, der sich mit genau den vorstehend beschriebenen
Phänomenen auseinandersetzt.
Der Roman ist letztlich am Schicksal Daniels, eines Geigenbauers,
orientiert, der in Auschwitz inhaftiert war. Doch die personale, an
Daniels Perspektive orientierte Erzählung ist in eine in der Gegenwart
spielende Rahmenhandlung eingebettet.
"Immer wenn ich ein Konzert gegeben habe, fällt es mir schwer, nachts
einzuschlafen. So als ließe ich ein Tonband laufen, das sich pausenlos
wiederholt, kehrt es dann ständig in mein Gedächtnis zurück. (...) Vor
allem der Klang der Geige hatte meine Aufmerksamkeit erweckt. Die
Konzertmeisterin, eine ältere Frau, spielte sie mit äußerst reiner
Intonation und, wie mir schien, mit echter, verhaltener Leidenschaft."
Climent, ein Musiker aus Paris, lernt auf einer Gastspielreise in Krakau
die polnische Geigerin Regina kennen. Sie begeistert ihn, und sein
großes Interesse für diese besondere Violine führt dazu, dass er
Bekanntschaft macht mit Regina. Sie sprechen bis in die Morgenstunden
miteinander. Ein fast erotisches Verhältnis hängt da in der Luft,
zumindest fühlt Climent dies so. Doch die Wege der beiden trennen sich,
und er erhält durch die Kollegin und Cellistin Gerda ein Manuskript, das
ihm die Geschichte von Reginas Geige erzählt.
Damit beginnt die Haupthandlung, "die Geschichte der Geige meiner
Freundin (...), die ich niemals mehr werde vergessen können."
Die einleitende Geschichte gibt somit die Weiterreichung menschlichen
Schicksals an die Nachfahren wieder, um Bewusstwerdung zu erzielen, um
Mitgefühl und ein moralisches Lernen damit in Verbindung zu setzen. Ganz
reell und konkret betrachtet, bietet diese Ausgangssituation natürlich
auch eine sehr verbindende Beziehung zwischen Leser und Text. Der Leser
wird zum Musiker Climent, der selbst das Manuskript der
zusammengetragenen Geschichte von Reginas Adoptivvater Daniel in Händen
hält. Zum Anderen schürt dieser letzte Satz der Rahmenhandlung, zu der
der Text nie wieder zurückkehren wird, eine enorme Erwartungshaltung an
die folgende Geschichte. Spannung wird erzeugt und Authentizität schon
allein dadurch erreicht, dass jedem einzelnen Kapitel offizielle
Dokumente vorangestellt sind, die den behördlichen Alltag im Getto
widerspiegeln und gleichzeitig kontrastiv zum Einzelschicksal stehen,
das Daniel erlebt und dem Leser somit in seiner Individualität ganz klar
zu Herzen geht.
Daniel ist ein Internierter im Auschwitzer Getto wie jeder Andere. Als
Tischler hat er sich ausgegeben bei der Ankunft, denn dies schien ihm
nützlicher als sein wahrer Beruf, Geigenbauer, zu sein. Bei einem
Auftrag, der ihn in das Haus des Kommandanten führt, hört er zufällig
das Spiel der jüdischen Musiker, die zur Belustigung der Nationalsozialisten
spielen. Der schräge Klang der Geige führt beinahe zu einer deftigen
Bestrafung des Musikers Bronislaw, doch dies weiß Daniel zu verhindern,
indem er dazwischen geht und erklärt, dass dafür einfach ein Riss in der
Geige verantwortlich ist, den er schnell beseitigen könne.
So bekommt er letztlich vom Kommandanten des Lagers, der ein fanatischer
Instrumentensammler ist, den Auftrag, eine Geige "in bester
italienischer Tradition" anzufertigen. Doch dieser für ihn
seelisch rettende Arbeitsauftrag ist gekoppelt mit einer teuflischen
Wette zwischen dem Kommandanten und dem Lagerarzt: Sollte Daniel den Bau
der Geige im vereinbarten Zeitraum bewältigen, bekommt der Kommandant
eine Kiste Wein - sollte er scheitern, wird Daniel zur Versuchsperson
für die Experimente des Lagerarztes.
Die als Manuskript ausgegebene Geschichte um Daniel changiert zwischen
verschiedenen Erzählperspektiven, die zu Beginn ganz klar den Fokus auf
Daniels Gefühle und Wahrnehmungen richten, dann aber in die
Innenperspektive des Musikers Bronislaw übergehen. Der Roman ist des
Weiteren in all seinen Kapiteln mit verschiedenen Epigrafen versehen,
wie zum Beispiel vor dem 8. Teil des Buches: "So wie in den Wäldern,
rafft die erste Kälte des Herbstes die Blätter hinweg. / Vergil Äneas,
VI-309". Damit wird eine intertextuelle Verwebung vorgenommen, die
letztendlich bedeutet, dass es hier nicht nur um das Schicksal Daniels
und die Bestialität der Nazis geht, die Teil der kulturellen Geschichte
ist und weitergetragen werden soll, sondern auch um die menschliche
Existenz generell, die so leicht zwischen Grausamkeit und Schönheit
schwankt und deren Miteinander- und Nebeneinander-Bestehen wohl
Grundlage des Lebens überhaupt ist.
Die Tiefe der Geschichte wird durch diese Zitate in jedem Fall
erweitert, dennoch krankt das Buch in seiner sprachlichen Poesie
deutlich. Die Rahmenhandlung fühlt sich ein wenig gezwungen an, die
Sätze sind kurz gehalten, wirken zeitweise schwerfällig, so, als ob sie
unsicher zustande gekommen wären. Man kann diese Form des Erzählens, die
sehr roh und wie eine Aneinanderreihung von Tatsachen erscheint, auch
als die authentische Form eines Menschen begreifen, der wiederum Anderen
die Geschichte von Daniel, dieses Schicksal, das nicht vergessen werden
soll, nahebringen möchte. Doch der Roman sendet in all seinen Teilen die
deutlichen Signale, er möchte emotional sein und berühren, ja, auch von
der Schönheit, vom Schaffen, von der Musik erzählen - das aber scheint
Maria Àngels Anglada nicht ganz gelungen zu sein. Die
Perspektivenwechsel, die zeitweise allwissend gehaltene Erzählweise, das
Ich aus der Rahmenhandlung, die Verschränkungen der Personen machen kein
einheitlichen Bild möglich, da in der Kürze des Buches, es umfasst 176
Seiten, die Entwicklung der einzelnen Figuren gar nicht möglich ist,
aber die Erzählung ja vorangetrieben werden muss, weil es ja allein um
die Geschichte der Geige geht.
Dennoch, das muss man festhalten, ist die Idee dieses Romans wunderbar.
Jorge
Semprún, der später das Drehbuch für diese Geschichte schrieb,
behauptete, dass sie eine der glaubhaftesten Geschichten einer Autorin
ist, die selbst nicht Opfer des Holocaust
war. Damit hat er unbedingt recht; die Verdeutlichung des Lageralltags,
die nicht so verschwommen daher kommt wie die allgemeine Auffassung der
Nachfahren ist, die alles eigentlich nur noch vom Hörensagen kennen,
gibt einen bleibenden Eindruck davon, wie ein Gefangener von morgens bis
abends im Lager gelebt hat. Diese Perspektive und das plastische
Darstellen der Umstände muss man der Autorin ganz klar zugutehalten. Der
Rest scheitert gewissermaßen an der Unentschiedenheit der Erzählweise,
die es aber dennoch möglich werden lässt, sich als Leser mit der
Geschichte zu identifizieren und das Buch als eine Bereicherung des
Lesealltags zu empfinden.
(Christin Zenker; 01/2010)
Maria Àngels Anglada: "Die Violine von
Auschwitz"
(Originaltitel "El violí d'Auschwitz")
Aus dem Katalanischen von Theres Moser.
Luchterhand Literaturverlag, 2009. 176 Seiten.
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Maria Àngels Anglada, 1930 in
Vic geboren, 1999 in Figueres gestorben, gilt als eine der
renommiertesten Autorinnen Kataloniens, die sowohl für ihre Prosa als
auch für ihre Gedichte, literaturkritischen Studien und Essays verehrt
wird und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.
Weitere Buchtipps:
Agata
Tuszyńska: "Die Sängerin aus dem Ghetto. Das Leben der Wiera Gran"
Warschau, 1941/42. Tagsüber kümmert sie sich um ihre kranke Mutter,
abends ist sie der Star des Ghettos.
Wunderschön und geheimnisvoll, so erleben die Besucher die 25-jährige
Sängerin allabendlich auf der Bühne des Café Sztuka, wo sie zumeist
von Wladyslaw Szpilman am Klavier
begleitet wird, von dem Mann, den Polanski in seinem Film "Der
Pianist" weltberühmt machen sollte. Kurz nach den ersten Deportationen
flieht Wiera Gran aus dem Ghetto und überlebt den Holocaust.
Nach dem Krieg kehrt sie nach Warschau
zurück, doch Szpilman beschuldigt sie der Kollaboration mit den Nazis.
Obwohl Wiera Gran von diesem Vorwurf freigesprochen wird, bleibt das
Stigma an ihr haften. Wo sie auch auftritt, in der Carnegie Hall
oder in Israel, allein oder mit Charles Aznavour, immer wieder wird
sie mit einer Vergangenheit, die nicht die ihre ist, konfrontiert.
Vereinsamt, verbittert und vergessen stirbt Wiera Gran 2007 in Paris.
Agata Tuszynska konnte das Vertrauen der Sängerin gewinnen und mit ihr
sprechen. Geschrieben hat sie ein Buch über den Lebenskampf einer
Frau, ein hartes und gleichsam warmherziges Plädoyer gegen die
Grausamkeit des Schicksals.
Agata Tuszyńska, geboren 1957 in Warschau, ist Schriftstellerin,
Publizistin und Essayistin.
Ihre Gedichte wurden ins Französische, Hebräische, Spanische und
Englische übersetzt. Einem internationalen Publikum wurde sie 1998 mit
ihrer Biografie über Isaac B. Singer bekannt.
Tuszyńska wurde unter Anderem mit dem "Preis des polnischen PEN-Clubs"
ausgezeichnet. Ryszard
Kapuściński lobte ihr "besonderes Gehör für die Stimmen
ihrer Gesprächspartner". (Insel)
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Quim Monzó: "Tausend
Trottel"
"Ewige Liebe" ist für den Helden der Geschichte Voraussetzung, endlich
zu heiraten. Eine Bedingung, die einzulösen er sich nicht in der Lage
fühlt. Bis er zufällig eine alte Liebe wieder trifft und über Umwege
erfährt, dass sie todkrank ist und nur noch wenige Monate zu leben hat.
Ihr also kann er ewige Liebe schwören; sie heiraten. Doch dann stellt
sich ihm ein Problem: Sie will einfach nicht sterben. Monzós Geschichten
verknüpfen das Alltägliche mit dem einmalig Besonderen: Eine Frau, die
mit der Schere auf ihre Erinnerungen losgeht. Zwei Männer, die sich
neben einem angesagten Club eine Wohnung leisten, um mit dem neuesten Flirt
sofort ins Bett steigen zu können. Das Nachdenken über die angeblich
spießigste aller menschlichen Beschäftigungen: das aus dem Fenster
Schauen. Ein berühmter Schriftsteller, der durch ein unbedachtes Lob
einem jungen Kollegen zum Ruhm verhilft und später von ihm vernichtet
wird.
In seinen 19 Kurz- und Kürzestgeschichten zeigt sich Quim Monzó, der
bekannteste katalanische Gegenwartsautor, auf der Höhe seiner
Erzählkunst: Geschichten, für die Monzó berühmt ist - energiegeladen,
pointiert und humorvoll, aber auch von einer dunklen Schönheit;
meisterhaft, makaber, schnörkellos. (Frankfurter Verlagsanstalt)
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Francesc
Miralles: "Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen"
Der Literaturdozent Samuel hat es sich in seiner Einsamkeit bequem
gemacht - bis ihm eine junge Katze zuläuft und ihn aus seiner
Lethargie zurück ins Leben holt. Schritt für Schritt öffnet sich
Samuel für das kleine
Glück des Alltags, für Begegnungen, Freundschaften
und schließlich für die Liebe.
Am Neujahrsmorgen wacht Samuel in der festen Überzeugung auf, das neue
Jahr werde ihm nichts Außergewöhnliches bescheren. Doch dann dringt
ein eigenwilliger Besucher in seine Wohnung im Herzen Barcelonas ein:
Mishima. Mit der jungen Katze verändert sich das beschauliche, aber
einsame Leben Samuels von Grund auf. Er freundet sich mit seinem
Nachbarn Titus an und begegnet nach dreißig Jahren seiner ersten Liebe
Gabriela wieder. Mit ihr kommt die Erinnerung an einen längst verloren
geglaubten Moment zurück. Ein bezauberndes Buch für alle, die sich auf
unterhaltsame Weise mit den großen Fragen des Lebens beschäftigen
wollen.
Francesc Miralles, geboren 1968 in
Barcelona, studierte Germanistik und arbeitete einige Jahre als
Verleger, bevor er selbst zu schreiben begann. Neben Sachbüchern
verfasste er sowohl Romane für Kinder und Jugendliche als auch für
Erwachsene. 2002 erhielt er den "Gran Angular Preis", 2006 den "Premio
Columna Jove". (List)
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