Stefan Andres: "Wir sind Utopia"

Prosa aus den Jahren 1933-1945


Kitsch als Tarnung

Stefan Andres (1906-1970) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten "Inneren Emigration". Hier liegt nun der vierte Band der Werkausgabe mit "Prosa aus den Jahren 1933-1945" (Untertitel) vor, herausgegeben von Erwin und Heidrun Ehrke Rotermund. Enthalten sind die beiden bekanntesten Novellen "Wir sind Utopia" und "El Greco malt den Großinquisitor" sowie Anekdoten, Legenden und Parabeln, die in den 1930er-Jahren in diversen Zeitungen erschienen waren. Ein ausführlicher Anhang informiert über Entstehungs-, Deutungs- und Rezeptionsgeschichte der Texte.

Aus heutiger Sicht mag es erstaunlich erscheinen, dass Andres während der Nazizeit in Deutschland publizieren konnte, obwohl ihm unterschwellige Kritik an totalitärer Macht sowie eine christlich-humanistische Position attestiert werden. Die Schwierigkeit bei der Einschätzung der wahren Positionen von Autoren wie Stefan Andres, Hans Carossa, Ernst Jünger, Rudolf Pechel, Fritz Reck-Malleczewen, Reinhold Schneider oder Ernst Wiechert besteht darin, dass sie sich vielfältiger Formen der literarischen Tarnung bedienten, was als "Verdeckte Schreibweise" in der Literaturwissenschaft gilt. Werner Bergengruen sprach im Jahr 1947 einmal von einer "unterirdischen Literaturgeschichte", die geschrieben werden müsste, um den damals im Lande verbliebenen regimekritischen Autoren gerecht zu werden. Ein erster umfangreicher Versuch in diese Richtung war wohl bereits der von den beiden hier tätigen Herausgebern im Jahr 2000 vorgelegte Band "Zwischenreiche und Gegenwelten", wo es um Texte und Vorstudien zur "Verdeckten Schreibweise" im Dritten Reich geht.

Interessant ist wohl, dass Marcel Reich-Ranicki vor Jahren einerseits die auch hier abgedruckten beiden Hauptnovellen von Andres durchaus schätzt, spätere Werke ordnet er allerdings als "Edelkitsch" ein. Nun ließe sich ja eine bewusste Verkitschung als Tarnung von Systemkritik durchaus als legitim und raffiniert diskutieren. Wobei Andres durchweg in der Literaturgeschichtsschreibung eine zwiespältige Bewertung erfuhr, ja in etlichen größeren Kompendien überhaupt nicht erwähnt wird. Andres, der sich 1938 endgültig in Italien niederließ, war im Gegensatz zu den echten Emigranten von den Nazis mehr oder weniger geduldet. Er wird weder als "äußerer" noch als "innerer" Emigrant anerkannt, wollte aber offensichtlich vom Schreiben leben. Und da stellte sich freilich in seiner historischen Situation die Frage, wie er das tun könne. Und diese Frage sollte heutzutage fairerweise nicht allzu leichtfertig abgehandelt werden. Im Grunde wollte Andres offensichtlich gar kein "politischer" Autor sein, aber seine christlichen Grundwerte auch nicht komplett verleugnen.

Man muss heute schon fragen dürfen, warum die Novelle "El Greco malt den Großinquisitor" 1936 in Nazi-Deutschland erscheinen konnte und bis heute als Musterbeispiel für den "inneren" Widerstand gilt. Zur Zeit der spanischen Inquisition erhält der bekannte Maler El Greco den Befehl, den Großinquisitor Kardinal Fernando Nino de Guevara zu malen. El Greco bezeichnet die Kirche als "blutiges Feuer", malt den Kardinal aber in seiner tragischen Größe, als Mensch, der sich fanatisch seiner Idee opfert: "Er ist ein trauriger Heiliger, ein heiliger Henker." El Greco und sein Freund, der Arzt Cazallo, verzichten auf Widerstand aus ethischen Gründen. Für die Nazi-Zensur ging es hier wohl vordergründig um die Inquisition - eine Parallelisierung des Großinquisitors mit Hitler erschien nicht plausibel - und muss auch aus heutiger Sicht politisch verknotet erscheinen.

In der 1942 in Fortsetzungen und 1943 beim Verlag Riemerschmidt in Berlin erschienenen Novelle "Wir sind Utopia" wird die ganze verquere Problematik virulent. Der ehemalige Mönch und Prieser Paco, der auf Seiten der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg kämpft, kommt als Gefangener in das Kloster zurück, das er vor zwanzig Jahren verlassen hat, um seine Utopie von Toleranz und gerechter Gesellschaft zu verwirklichen. Der kommunistische Leutnant Pedro, in dessen Gefangenschaft sich Paco befindet und der die Insassen des Klosters brutal ermorden ließ, will bei Paco beichten. Paco hat ein Messer, mit dem er den Leutnant töten und seinen Mitgefangenen die Flucht ermöglichen könnte. Doch Paco wählt den Tod in den Maschinengewehrsalven der "Roten". Diese Konstellation muss aus heutiger Sicht doch ziemlich verquast erscheinen: Ein als Franco-Söldner agierender christlicher Priester als moralische Instanz und der "Republikaner" als Bösewicht. Auch der Gedanke Pedros, "Gott liebt die Welt, weil sie unvollkommen ist", kann die Grundkonstruktion der Novelle nicht vom Vorwurf  politischer Verworrenheit und naiver Verkitschung retten. Der Nazi-Zensur kam es offensichtlich entgegen, dass die "roten" Klosterbesetzer als verabscheuungswürdig gezeichnet wurden, die Brutalität der "mordgierigen Kommunisten" ließ sich propagandistisch eindeutig verwerten. Durch die geradezu widersinnige Vertauschung der Positionen (guter Faschist - böser Kommunist) erscheint es doch sehr schwierig, solch ein Werk als Musterbeispiel "verdeckter" Kritik am Nazi-Regime zu deuten. Warum sagen wir nicht endlich ganz mutig: Hier hat sich ein Autor unter dem Deckmäntelchen christlicher Ideologie an ein System angebiedert, um fürderhin Publikationserlaubnis zu behalten?! Vielleicht ist das ja die eigentliche dialektische Ironie dieser Novelle: Gib dem Affen Zucker?!

Wie den Angaben der Stefan-Andres-Gesellschaft zu entnehmen ist, gelang es Andres nur schwer, im nationalsozialistischen Deutschland Fuß zu fassen: Sein Leben bewegte sich "zwischen Angst und Anpassung". Immerhin hatte er eine halbjüdische Frau und hatte in den 1940er-Jahren seine fruchtbarste Schaffensperiode. In der Nachkriegszeit erfuhr Andres zahlreiche Ehrungen und engagierte sich politisch u.a. gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr und für eine Verständigung zwischen Ost und West. Literarisch widmete er sich zusehends Stoffen antiker und mythologischer Herkunft. Und diese Art Texte bilden dann auch den Schwerpunkt im vorliegenden Sammelband. Wer historisierende Geschichten mit leicht religiösen Untertönen mag, könnte hier ein wenig Unterhaltung finden. Witzigerweise erhebt Andres in seinem Text "Zwischen zwei Stühlen" (1941) dabei den Vorwurf: "Wer die heutige Massenerzeugung in historischen Romanen ernsthaft betrachtet, wird erkennen, daß es sich um eine Flucht in die Vergangenheit, weniger von seiten des Schriftstellers als der Leserschaft handelt."

Freilich gilt auch gerade das historisierende Gewand schon seit früheren Epochen als Möglichkeit, "verdeckte" Kritik zu üben. Dies hat der Rezensent übrigens auch schon in den Vorlesungen des hier als Mitherausgeber fungierenden Professors Erwin Rotermund lernen dürfen - denn zufälligerweise habe ich bei ihm (in den 1970er-Jahren noch in Würzburg) Germanistik studiert. Für viele Erkenntnisse und Einblicke bin ich auch Professor Rotermund dankbar - Stefan Andres hat aber eigentlich so viel Vertrauensvorschuss nicht unbedingt verdient. Und so ist dies denn auch ein Band für germanistisch interessierte Leser mit gemäßigtem literarischen Anspruch.

(KS; 08/2010)


Stefan Andres: "Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933-1945"
Herausgegeben von Erwin Rotermund und Heidrun Ehrke Rotermund unter Mitarbeit von Thomas Hilsheimer.
Wallstein Verlag, 2010. 314 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Der Knabe im Brunnen"

Herausgegeben von Christa Basten und Hermann Erschens.
Eine der schönsten Kindheitsgeschichten der deutschen Literatur - und ein bedeutender Erinnerungsroman der Moselregion.
"Der Knabe im Brunnen" ist ein meisterhaft erzählter autobiografisch geprägter Roman. Aus der Sicht des jüngsten von sechs Kindern eines Müllers im Moselland erzählt Stefan Andres von einer exemplarischen Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit großer Sensibilität nimmt der Knabe seine naturnah angeschaute Umgebung wahr: "Wo ich hinblickte, kletterte, kroch, sprang ein lebendiges Wesen und wenn ich die Augen schloß, hörte ich rings um mich her all diese kleinen feinen Geräusche: die Welt war wie der Eisentopf der Mutter, in dem die Speckgrieben tanzten und schrien." Die fantasie- und humorvolle Erzählweise trug dazu bei, dass dieser Roman zu einem der erfolgreichsten Werke von Stefan Andres wurde. Denn hinter den kindlich-naiven Beobachtungen des Kindes scheinen religiöse und philosophische Fragen von existentiellem Gewicht auf: Mit "Der Knabe im Brunnen" erschloss sich Stefan Andres die poetischen Qualitäten von Mythos und Erinnerung.
Das Nachwort informiert über die Entstehung, die Schauplätze und die Wirkung des Werkes, verbunden mit einer über die autobiografische Erinnerung hinausgehenden inhaltlichen Deutung. (Wallstein Verlag)
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