César Aira: "Gespenster"
Jahreswechsel mit
Gespenstern - Ein literarisches nature morte ...
César Airas bereits 1990 im Original veröffentlichter, aber erst anno
2010 erstmals ins Deutsche übersetzte Roman "Gespenster" beginnt am
Morgen des 31. Dezember mit der Begehung eines noch unfertigen
Wohnhauses durch die neuen Wohnungseigentümer. Dieser Tag ist eigentlich
als Tag der Schlüsselübergabe geplant, doch wie es im Baugewerbe so ist,
wird es nicht dazu kommen, da das Haus und die Wohnungen noch nicht
fertig sind.
Während die Wohnungseigentümer ihr neues Domizil inspizieren und sich
Gedanken zur Einrichtung und Fertigstellung machen und die chilenische
Familie, die momentan am Dach beim noch nicht fertigen Schwimmbecken
zwecks Bewachung der Anlage wohnt, die Vorbereitungen zur Silvesternacht
trifft, turnen nackte Männer dreist und übermütig zwischen den Leuten.
Diese Männer, die durch den Baustaub nur von Kindern und ganz wenigen
Personen, wie Patri, der post-pubertären Tochter der chilenischen
Familie, gesehen werden können, sind Geister.
"In diese ihm aufmerksam lauschende kleine Gemeinde, diese zum
zweiten Mal verheirateten Eheleute mit gemeinsamen
Glücksvorstellungen, waren zwei Individuen eingesickert, zwei Männer,
die nackt waren, die Haut mit Kalkstaub bedeckt. Auch sie hörten genau
zu, aber nur, um alle Augenblicke in ein lautes, wildes Gelächter
auszubrechen. Mehr noch als Gelächter war es ein ungeheures Geheul
voll übertriebenem Sarkasmus. Da keiner sie hörte oder sah,
plätscherte das Gespräch im höflichen, entspannten Rhythmus weiter.
Die beiden brüllten lauter und, wie wenn sie miteinander wetteiferten
... Ihre Zehen standen weit auseinander, wie bei den Wilden, und sie
benahmen sich wie unartige Kinder. Es waren aber Erwachsene ... Ein
zufällig vorbeikommender Bauarbeiter, mit einem Eimer voll Schutt
unterwegs zu dem Brett, das den Container hinaufführte, streckte die
Hand aus, die er frei hatte, ergriff im Vorbeigehen umstandslos den
Schwanz von einem der beiden und zog daran. Das Glied dehnte sich zwei
Meter lang, dann drei, dann fünf, dann zehn, bis hin zum Bürgersteig.
Als er es wieder losließ, schnallte es mit einem Peitschenknall
seltsamer Harmonien zurück, Töne, die auf den unverfugten Fliesen, auf
den marmorlosen Treppen und in den hohen aufzuglosen Schächten
widerhallten wie die tiefste Saite einer japanischen Harfe."
Aus diesem Zitat ist ersichtlich, dass César Airas Gespenster, die er in
diesem Roman so wichtig zeichnet, keine beängstigenden Wesen, keine
Verursacher von Albträumen sind oder sein sollen. Diese Gespenster sind
Schelme, Clowns, freche Wesen, die aber im Grunde trotz der
virtuosen Verbindung einer realistischen Erzählung, die den Silvestertag
der chilenischen Familie im Mittelpunkt hat, mit einem surrealistischen
Handlungsstrang bzw. einer quasi surrealen Parallelwelt, eigentlich ein
symbolisches Spiegelbild, oder eine Projizierung des Unterbewusstseins
der Protagonisten selbst sein könnten.
Das Unverständnis der Eltern und Patris Wunsch, Silvester mit den
Geistern zu verbringen, zeichnet eine weitere Ebene der Wahrnehmung und
des Auslebens bzw. der Angst des Auslebens der eigenen, meist im
Verborgenen schlummernden Wünsche
und Begierden.
César Airas
Prosa ist geschliffen scharf und springt oft innerhalb von Sätzen
bzw. Absätzen innerhalb der Handlung und der Handlungsstränge umher. Die
Ebene der Handlung ist wenig bis mäßig aufregend, da bis auf einen
Mittagsumtrunk und die Vorbereitungen auf bzw. die Silvesterfeier nicht
viel passiert.
Was diesen Roman so spannend macht, ist César Airas Virtuosität in der
Beobachtung seiner Figuren und die Einbindung der abstrakt-surrealen
Momente in die nie vorhersehbare Entwicklung. So ist der Leser nach
einhundertneunundsechzig literarisch spannenden Seiten zusammen mit den
Protagonisten des Romans begeistert im neuen Jahr und wundert sich nur,
wie dieser César Aira das gemacht hat. Sehr beeindruckend.
(Roland Freisitzer)
César Aira: "Gespenster"
(Originaltitel "Los fantasmas")
Übersetzt von Klaus Laabs.
List, 2012.
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César Aira, im Jahr 1949
geboren in Coronel Pringles, gilt als einer der wichtigsten Autoren
Argentiniens.
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Die Nächte von Flores"
Buenos Aires im Ausnahmezustand- die Wirtschaftskrise fordert ihren
Tribut. In diesem Vakuum blühen aber auch Kreativität,
Eigeninitiative - und Liebe. Das Ehepaar Aldo und Rosa stürzt sich
fasziniert in das Abenteuer Neuanfang. "Die Nächte von Flores" erzählt
fantasievoll von der Widerstandskraft des Menschen in einer Zeit des
Umbruchs.
Flores war immer eines der besseren Viertel von
Buenos
Aires. Doch die Wirtschaftskrise trifft schließlich auch seine
Bewohner. Aldo und Rosa versuchen das Beste aus dieser Situation zu
machen. Ein Freund vermittelt ihnen Arbeit bei einem
Pizza-Lieferservice. Bald schon kennt sie ganz Flores. Wer sonst ist
schon nachts zu zweit und zu Fuß unterwegs? Und dabei immer freundlich.
Aldo und Rosa lernen aber auch die dunkle Seite der Krise kennen:
Familien, die obdachlos
geworden sind, randalierende Jugendbanden, herumirrende Alte und Kinder.
Die Entführung des kleinen Jonathan stellt das Viertel schließlich auf
eine harte Probe.
César Aira ist ein Wortkünstler, in dessen Händen sich die Realität in
eine atemberaubende und doch wahrscheinliche Fantasie verkehrt.
(Claassen)
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"Der Literaturkongress" zur Rezension ...
Noch ein Buchtipp:
Macedonio Fernández: "Das Museum von Eternas Roman (der erste gute
Roman)"
Jorge Luis Borges: "Ich imitierte ihn ... bis hin zum Plagiat."
Ein vergessenes und wundersames Meisterwerk der argentinischen Literatur
- für "Die Andere Bibliothek" erstmals ins Deutsche übertragen.
Macedonio Fernández (1874-1952) war der wegweisende Freund von Jorge
Luis Borges. Sein literarisches Werk nimmt vieles vorweg, was wir
bei Borges und später bei Italo
Calvino oder
Julio Cortázar als "postmodern" bewundern.
Erst fünfzehn Jahre nach Fernández' Tod wurde 1967 "Eternas Roman"
veröffentlicht - ein Manuskript, an dem er sein Leben lang schrieb: als
eine faszinierend widersprüchliche und mystifizierte Figur, die als
"erster Metaphysiker" und "Sokrates" eine ganze Generation
avantgardistischer argentinischer Autoren prägte.
Sein schon 1925 begonnenes Opus "Das Museum von Eternas Roman" beginnt -
und beginnt nicht; es ist ein Anfang nach bald 60 Prologen, ein
aufgeschobener Roman, der nach diesem grotesken Prolog aus Prologen sich
zu einer großen philosophisch-literarischen und sprachbarocken Artistik
ausweitet - einer Verwandlung aller Wirklichkeit in Fiktion. In dieser
Suche nach Ewigkeit ist Fernández' Meta-Roman auch ein großes Testament
der Liebe: gerichtet an Eterna, die Muse dieses einzigartigen Autors.
(Die Andere Bibliothek)
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