Anne Wiazemsky: "Jeune fille"
Der
faszinierende Tyrann
Am 25. Mai 1966 hatte der Film "Au hasard Balthazar" (deutsch:
"Zum Beispiel Balthasar") in Frankreich Premiere (deutscher Start am
1. November 1967). Er ist das überwältigend einfache
und doch endlos
komplizierte Meisterwerk des französischen Regisseurs Robert
Bresson und gehört
zu den besten und brillantesten Arbeiten des einzigartigen
Filmemachers. Erzählt
werden Geburt, Leiden und Sterben des Esels Balthasar: Das Tier, das
kurz nach
seiner Geburt von zwei Kindern, Marie und Jacques, aufgenommen und
christlich
getauft wurde, wird im Laufe seines Lebens zum Träger
erniedrigender Arbeiten.
Robert Bresson, der eigentümlichste und am wenigsten
unvergleichbare
Filmemacher in der
Geschichte des Kinos, kreierte in seinen Filmen einen Stil der
völligen
Reinheit, Nüchternheit und augenscheinlichen Attraktions- und
Emotionslosigkeit. Er verzichtete auf die heutzutage nicht mehr
wegzudenkenden
Effekte, Tricks und Experimente. Bresson schuf Filme, die abseits der
breiten Öffentlichkeitsmeinung
und Massenkunst des 20. Jahrhunderts noch pures "Kino" waren. In einer
Filmkritik ist zu lesen "Wer 'Au Hasard Balthazar' mit zwei
wachen Augen
anschaut, ihm mit der gegebenen Aufgeschlossenheit begegnet, der
erfährt
vielleicht den unsagbaren Reichtum dieses Films und kann in ihm
wohlmöglich
tatsächlich 'die Welt in anderthalb Stunden' [Zitat von
Jean-Luc Godard]
entdecken."
Die Lebensgeschichte Balthasars kreuzt sich im Film immer wieder mit
der von
Marie. Die blutjunge Anne Wiazemsky, Enkelin des
Literaturnobelpreisträgers
François Mauriac, spielt darin die Hauptrolle. In ihrem
Roman "Jeune fille"
berichtet und verarbeitet die französische Schauspielerin,
Regisseurin und
Schriftstellerin ihr Debüt und die Zusammenarbeit mit dem
damals 64-jährigen Künstler.
Blutjung und unschuldig wird sie dessen Muse, streift ihre Kindheit ab
und reift
im Laufe der Dreharbeiten zur jungen Frau heran. "In wenigen
Wochen
hatte ich begriffen, dass Robert Bresson viel besser als ich selbst
wusste, was
gut für mich war. Es war so beruhigend, mit jemandem zu tun zu
haben, der zu
wissen schien, wer ich war. (...) Es schien mir, dass ich in seiner
Nähe
lernte, zu sehen und zu hören."
Behutsam verwobene, sehr persönliche Erinnerungen
Dieser autobiografische Roman ist zugleich eine große Hommage
an den eleganten,
liebevollen, ebenso jedoch auch besitzergreifenden und unerbittlichen
Regisseur.
Die Idee, über Bressons "zutiefst
rätselhaftes Wesen" zu
schreiben, das er ihr trotz aller Vertrautheit blieb, kam Wiazemsky bei
dessen
Beerdigung im Dezember 1999. "Damals kamen die Erinnerungen
wieder hoch,
all das, was ich ihm verdanke, und es entstand der Wunsch,
über ihn zu
schreiben, nur wusste ich lange nicht wie", berichtete sie in
einem
Interview. "Die Erinnerung ist ja trügerisch, mit
Memoiren hätte ich
mich, allein aus Respekt, einer Wahrheit verpflichtet, und so entschied
ich mich
für einen Roman, mit dem ich auch eine exemplarische
Geschichte erzählen
konnte: die eines Mädchens, das sich innerhalb eines Sommers
von seiner
Kindheit verabschiedet."
Und so verwebt Wiazemsky ihre Erinnerungen behutsam zu einem Roman. Sie
reflektiert, wie der eifersüchtige Filmemacher versucht, seine
"Lolita"
zu hüten und zu bezähmen, sie nach seinen
Vorstellungen zu
formen, aber vor allem ihre unschuldige Jugend zu bewahren. "Ich
brauchte ihm nur zuhören und tun, was er von mir verlangte,
auch wenn ich es
nicht verstand. Ich musste mich willenlos ihm überlassen. Aus
unerfindlichen Gründen
hat mir das genau gepasst. Ich empfand sogar ein ausgesprochenes
Vergnügen, ihm
zu gehorchen. Später habe ich oft gehört, das sei
eine mühselige und abstoßende
Erfahrung gewesen, unter der viele gelitten hätten. Bei mir
war das nie der
Fall. (...) Die Tage, die ich mit den Dreharbeiten zu 'Balthazar'
verbrachte, zählen
auch heute noch zu den glücklichsten meines Lebens. Ich
fühlte mich dort
sofort heimisch, mit dem erhebenden Eindruck, meine wahre Familie
gefunden zu
haben, mich endlich entfalten zu können und das einzigartige
Wesen zu werden,
das Robert Bresson in mir zu sehen glaubte."
Aber auch das junge Mädchen hat dem alternden Regisseur viel
gegeben. "In
Ihrer Nähe zu leben, hat mir unendlich viel bedeutet ... Ihre
Jugend hat mich
jung gemacht ... Oft hatte ich Ihr Alter ...", lässt
die Autorin
Bresson am Ende des Buches erzählen und angesichts ihrer
erstaunten Miene noch
hinzufügen: "Später werden Sie verstehen
... Später."
Anne Wiazemsky hat verstanden. "Jeune fille" ist ihre Antwort darauf.
Fazit:
"Jeune fille" offenbart eine "unentwirrbare Mischung aus
Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit", die Anne Wiazemsky ihrem
Entdecker
entgegenbringt. Ein liebevoller, sehr persönlicher,
autobiografischer Roman und
eine Hommage an den großen französischen Regisseur
Robert Bresson in
unprätentiöser, klarer Sprache, von Judith Klein
ausdrucksstark ins Deutsche
übersetzt.
(Heike Geilen; 08/2009)
Anne
Wiazemsky: "Jeune fille"
(Originaltitel "Jeune fille")
Aus dem Französischen von Judith Klein.
C.H. Beck, 2009. 206 Seiten.
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Anne Wiazemsky, geboren 1947, gab ihr Filmdebüt in Robert Bressons "Zum Beispiel Balthazar". Im Jahr darauf heiratete sie Jean-Luc Godard und übernahm die weibliche Hauptrolle in seinem Film "Chinesin". Sie spielte außerdem in "Weekend" und in "Der Schweinestall" und "Teorema - Geometrie der Liebe" von Pier Paolo Pasolini. Neben ihrer Arbeit als Schauspielerin machte sich Wiazemsky auch als Regisseurin und vor allem als Schriftstellerin einen Namen. Ihr wurde 1998 für ihren Roman "Une poignée de gens" von der Académie française der renommierte "Grand prix du roman" verliehen. Für "Jeune Fille" erhielt sie 2007 den "Grand Prix Littéraire de l'Héroïne Madame Figaro" und den "Prix Jean Freustié".