Herbjørg Wassmo: "Zwischen zwei Atemzügen"


Seit ihrem 1989 erschienenen Roman "Das Buch Dina" ist die preisgekrönte norwegische Schriftstellerin Herbjørg Wassmo auch weit über die Grenzen ihres nordischen Heimatlandes hinaus bekannt geworden. Dort gilt sie als die meistgelesene und angesehenste Autorin, die in ihren Büchern immer wieder Frauenfiguren porträtiert und ihr zum Teil bewegtes Schicksal beschreibt. Ich wage zu behaupten, dass sie damit mehr zur Emanzipation und zur Gleichstellung und zur Würde von Frauen beigetragen hat, als so manches feministische Manifest.

Auch in "Zwischen zwei Atemzügen" verfolgt sie das Schicksal einer jungen Frau. Diese erfundene, gleichwohl in Litauen und in Norwegen hervorragend recherchierte Geschichte der fünfzehnjährigen Dorte ist ein Beispiel für das Schicksal von Zehntausenden junger Frauen, die nach der Öffnung der Grenzen nach 1989 aus dem Bereich des ehemaligen Ostblocks in die Länder Westeuropas gelockt und verschleppt wurden und dort, oft unter Androhung und Ausübung roher Gewalt, sexuelle Sklavendienste leisten mussten für Männer, die bei der Benutzung der jungen und oft sichtbar geschundenen jugendlichen Frauenkörper nicht einmal darüber nachdenken, wie ihre Sexualpartnerin unter Zwang und gegen Geld wohl in diese Situation gekommen ist.

Der Roman erzählt die Geschichte von Dorte, die zusammen mit ihrer Mutter und Schwester bei Verwandten in einem kleinen Dorf in Litauen lebt. Dortes Vater, ein Jude, der den Holocaust überlebt hat, ist vor kurzem plötzlich gestorben, und so fehlt das Lebensnotwendige überall. Ihre Mutter, sehr religiös, versucht die beiden Mädchen so gut es geht zu erziehen. Permanent im Gespräch mit ihrem Gott, erzählt sie ihm im Beisein der Töchter all ihre Sorgen und bittet ihn insbesondere darum, die beiden Mädchen zu behüten und ihnen einmal gute Männer zu schenken.

Während Vera auf den Tod des Vaters eher wütend und trotzig reagiert, ist Dorte eine stille Träumerin, die sich nach Stockholm fantasiert, um dort als Kellnerin zu arbeiten und von dort ihre Schwester und ihre Mutter finanziell zu unterstützen. Mit dem Bäckerjungen Nikolaj verbinden Dorte zarte Bande. Sie ist verliebt in den älteren Jungen, der ebenfalls vom Fortgehen träumt und dies dann auch tut. Über ihn lernt Dorte die etwas ältere Nadja kennen. Als Lockvogel der Schlepper eingesetzt, wie sich bald, aber zu spät, herausstellt, erzählt sie Dorte von einer Anstellung als Kellnerin in Schweden. Sie würde auch mitkommen, sagt sie, was nach einigen Tagen des Zögerns bei Dorte die Entscheidung beeinflusst. Ohne ihrer Mutter Bescheid zu sagen, geht sie zu dem vereinbarten Treffpunkt. Nadja ist nicht gekommen, nur zwei freundliche Männer, die aber während der Fahrt schon ihr wahres Gesicht zeigen.

Sie bringen Dorte an einen Ort, wo sie sofort meistbietend als Jungfrau zur Defloration versteigert wird. Mehrere Männer benutzen sie nacheinander, und als sie verzweifelt die Muttergottes anruft, flippt einer von ihnen total aus und rammt ihr einen Baseballschläger in ihren schon geschändeten und blutenden Unterleib.

Sie wird nach Norwegen verkauft, wo ein Zuhälter namens Tom an ihr Gefallen findet und sie den ersten Eigentümern abkauft. Dorte begegnet Lara, einem russisch sprechenden Mädchen, das sich im Auftrag Toms um sie kümmert und selbst schon alles in der Szene mitgemacht hat. Es dauert lange, bis Dorte wieder gesund wird, doch dann muss sie erneut Kunden empfangen.

Herbjørg Wassmo verfolgt Dortes Geschichte minutiös. Immer wieder gelingt es ihr, die Hoffnungen und Enttäuschungen dieser gequälten jungen Frau mit ihrer Sprache auf den Leser zu übertragen. Er zittert regelrecht mit, freut sich über die kleinsten Verbesserungen in ihrem Leben, um dann doch wieder von der nächsten Tortur mit gepeinigt zu werden.

Der Autorin ist es auf diese Weise ganz hervorragend gelungen, mit einem Roman eine Welt zu schildern, die auch bei uns existiert und die alle Appelle bisher nicht verändert haben. Der sexuelle Sklavenhandel blüht nach wie vor. Bei der großen Zahl von Frauen, die bis zu zwanzig Freier am Tag bedienen müssen, frage ich mich oft, wie viele der Männer, denen man so tagtäglich begegnet, an diesem Unrecht schon bezahlenderweise mitgewirkt haben. Es müssen unglaublich viele sein, sonst könnten die Zahlen so nicht zustande kommen.

Warum tun Männer das? - so fragt man sich bei Lesen mehr als einmal. Herbjørg Wasso hat mit ihrem bewegenden Roman einen unschätzbar großen Beitrag dazu geleistet, dass dieses Unrecht einen Namen bekommt und öffentlich gemacht wird.

Neben allem Elend und Leid transportiert der Roman aber auch Hoffnung; Hoffnung für Dorte und all die anderen namenlosen Opfer des Mädchenhandels in Europa und anderswo auf der Welt.

(Winfried Stanzick; 01/2009)


Herbjørg Wassmo: "Zwischen zwei Atemzügen"
(Originaltitel "Et glass melk, takk")
Übersetzt von Gabriele Haefs.
Droemer, 2009. 426 Seiten.
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