Lambert Wiesing: "Das Mich der Wahrnehmung"
Eine Autopsie
Die
Existenz von Wahrnehmung lässt
sich nicht erklären, dies müssen wir als gegeben
hinnehmen
Gesehen wird im philosophischen Diskurs die Wahrnehmung als ein Produkt
des
Wahrnehmenden, die sich nach den subjektiven Möglichkeiten des
Wahrnehmenden
richtet und somit ein Endprodukt von Konstruktions- oder
Interpretationsleistungen ist, welche vom Subjekt der Wahrnehmung
erbracht
wurden.
Lambert Wiesing, Prof. Dr. phil., seit 2001 Inhaber der Professur
"Vergleichende Bildtheorie", seit Dezember 2008 Lehrstuhl für
Bildtheorie und Phänomenologie an der
Friedrich-Schiller-Universität in Jena,
thematisiert in seinem Buch "Das Mich der Wahrnehmung - Eine Autopsie"
nicht das "Ich", welches die Wahrnehmung hervorbringt, sondern die
Wahrnehmung, welche "mich" hervorbringt. Und man könne
besser
in den Aufgaben der Wahrnehmungsphilosophie fortkommen, wenn man
annehme, der
Wahrnehmende müsse sich nach seiner Wahrnehmung richten.
Der aktuelle philosophische Diskurs gibt ein Bild, in dem der Mensch
nicht Teil
der Welt ist, sondern über Zugänge hinüber
zur Welt verfügt. Und wer von Zugängen
zur Welt spreche, erzeuge eine Kluft zwischen Welt und Mensch. Weder
die
Wahrnehmung noch das Handeln noch das Denken könne uns etwas
unmittelbar präsent
sein lassen. Erfahren könne der Mensch nur über
Medien, und diese seien die
Grenzen seiner Welt.
Der Mensch lebe in einer Mittelwelt ohne direkte Gegenwart von irgend
etwas, er
lebe in einem ausbruchsicheren
Mediengefängnis. So lautet
zumindest der Mythos
des Mittelbaren.
Was ist ein Mythos in diesem Zusammenhang? Werden wissenschaftliche
Modelle an
einen Wahrheitsanspruch gekoppelt, so werden sie zu einem Mythos, wobei
Wahrheit
und Methode verwechselt werden. Philosophie sei jedoch der eigenwillige
Versuch,
die Wirklichkeit einmal ausnahmsweise ohne Modell zu denken, dabei aber
wissenschaftlich zu bleiben.
Wiesing verlangt, man müsse das Bild vom Zugang zur Welt
dekonstruieren. Denn
der Mythos des Mittelbaren - sowie der Mythos des Gegebenen - baue eine
Kluft
zwischen dem Ich und der Welt auf, zwischen dem erkennenden Subjekt und
der
erkannten Wirklichkeit. Doch derart auf Distanz gebracht, komme man
nicht mehr
an die Welt heran. Wird nach Zugängen gefragt, tut man, als ob
es ein weltloses
Subjekt gäbe, das vor seiner Benutzung des Weltzugangs kein
Teil der Welt ist.
Nach Wiesing habe der Mensch keinen Zugang zur Welt, sondern lebe als
ein Teil
der Welt in der Welt - bis zum Abgang. Er widerspricht der Ansicht, die
Eigenschaften von mentalen Zuständen können im Moment
ihres Daseins eine
Illusion sein. Phänomenales Wissen, also bewusste
Phänomene, haben genau die
Eigenschaft, die sie für jemanden haben. Und jemand, der
wisse, dass er sei,
wisse eben auch, wie es ist, der zu sein, der er ist.
Hier gelte es, "mich" in Relationen zu denken. Wie ich selbst sei,
erfasse ich nicht direkt, sondern indem ich darauf achte, wie die Welt
für mich
ist, wie es mich in der Welt gibt, wie mich mein Zustand des Seins in
Beziehungen verstrickt.
Dann verändert Wiesing die Fragestellung der
Wahrnehmungsphilosophie: Er fragt
nicht nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von
Wahrnehmung, sondern
stattdessen nach den Folgen der Wirklichkeit von Wahrnehmung
für das Subjekt.
Denn die Wirklichkeit der Wahrnehmung werde nicht bestritten. Auch wenn
ich
nichts über die Entstehung der Wahrnehmung wisse, habe ich
Kenntnis davon, wie
es sei, ein Wahrnehmender zu sein, und das sei ein Muss.
Denn Wahrnehmender zu sein sei mit dem Zwang zu einer
bewussten
Befindlichkeit
verbunden. Und so leitet Wiesing vom Primat des Wahrnehmenden zum
Primat der
Wahrnehmung.
Es geht um die Konstellation zwischen der Wahrnehmung, dem
Wahrnehmenden und dem
Wahrgenommenen. Die erste Konstellation entstehe durch ein Primat des
Wahrnehmungsgegenstands. Die Grundannahme lautet, es gebe die
Wahrnehmung, weil
es einen wirklichen, materiellen, wahrgenommenen Gegenstand gebe, der
die
Wahrnehmung von diesem so sein lasse, wie sie sei.
Die zweite Konstellation entstehe, sobald das Wahrnehmungssubjekt zum
Fixpunkt
werde, es gebe die Wahrnehmung, weil es ein wahrnehmendes Subjekt gebe,
welches
die Wahrnehmung von einem Gegenstand so sein lasse, wie sie sei. Hier
wird das
Subjekt zum aktiven Produzenten.
Worauf Wiesing hinaus will, zeigt folgende dritte Konstellation mit der
Grundannahmen, es gebe den Wahrnehmenden, weil es das Wahrnehmen von
Gegenständen
gebe, welches den Wahrnehmenden so sein lasse, wie er sei. Und weil es
meine
Wahrnehmung gebe, gebe es mich in der Welt.
Und hier wechsele das Interesse zwar vom Subjekt der Wahrnehmung zur
Wirklichkeit dieses Zustands des Wahrnehmens selbst, aber dies
ermögliche, mehr
über das Subjekt zu erfahren. Und um die Konsequenzen der
Wahrnehmung für den
Wahrnehmenden geht es dann im Weiteren.
Zugegeben handelt es sich bei diesem Buch um keine leichte
philosophische Kost,
und philosophisches Grundwissen erleichtert die Lektüre, aber
der
Perspektivenwechsel regt an und hält wach. Und so sei dieses
Buch all jenen zu
empfehlen, welche die intellektuelle Herausforderung reizt und die
bereit sind,
sich den Inhalt eines Buchs auch zu erarbeiten.
(Pierre Carois; 07/2009)
Lambert
Wiesing: "Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie"
Suhrkamp, 2009. 228 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen