Heinz Walter (Hrsg.): "Vater, wer bist du?"
Auf der Suche nach dem "hinreichend guten" Vater
Dieser von dem Konstanzer Professor
Heinz Walter herausgegebene Band versammelt Aufsätze von
Berufskollegen, die eines verbindet. Ihr Thema ist
der Vater in seinen unterschiedlichen
Erscheinungsformen.
Zunächst führt der Herausgeber selbst in einem
Aufsatz in das Thema ein, wirft einen historischen Blick auf die
literarische und psychotherapeutische "Suche nach dem Vater" in den
letzten 40 Jahren und erläutert die neuen Ansätze der
Vaterforschung sowie die vielfältigen Versuche in den Familien
und Partnerschaften, das Vaterbild zu verändern.
Oft spielt dabei, leider mehr im Negativen als im Positiven, die
Erfahrung des eigenen, oft eben nicht als "hinreichend gut" erlebten
Vaters mit, die man in der Begegnung mit eigenen Kindern auf keinen
Fall wiederholen möchte.
Diesen oft lebenslang präsenten Vätern sind
Aufsätze gewidmet, aber auch den nicht "hinreichend guten",
etwa dem, der gar nicht wirklich präsent ist und durch diese
Nicht-Anwesenheit nicht unwesentlich zu Delinquenzrate seiner Kinder
beiträgt.
Oder der tragische, psychisch kranke Vater, der seinen Kindern keinen
Halt geben kann.
Der Reichtum des Buches ist gleichzeitig sein Mangel: Es ist ein
Sammelband mit Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen
Zusammenhängen und keine Monografie. Eine solche hat im
letzten Herbst Dieter Thomä bei Hanser unter dem
Titel "Väter.
Eine moderne Heldengeschichte" vorgelegt, die neben dem
gegenständlich besprochenen instruktiven Sammelband sehr
empfohlen werden kann.
Was aber beide Bücher nicht leisten und was dringend einer
Analyse und Therapie bedarf, ist das moderne Phänomen, dass
Kinder auf ihrem Weg durch die Erziehungsinstanzen des Kindergartens
und der Schule bis auf verschwindend wenige Ausnahmen
frühestens im 6. oder
7. Schuljahr dem ersten Mann als Erzieher begegnen, der dann vielleicht
so alt ist wie ihr Großvater.
Unsere Erziehungsinstitutionen sind weiblich geprägt, sie
können keine männlichen Identifikationsmuster
vermitteln und lassen insbesondere die Knaben so im Regen stehen.
Fällt zusätzlich der eigene Vater durch
Trennung/Scheidung oder hohen Berufsstress aus, ist niemand da, der
Buben und Mädchen das vermittelt, was Mannsein
heißen könnte. Ich mag gar nicht daran denken, wie
sich dieses Dilemma auf die nächste Generation auswirken wird,
wenn schon die jetzige Elterngeneration durch einen eklatanten Mangel
an elterlichen und erst recht väterlichen Vorbildern
geprägt ist.
Doch es gibt viele Menschen, Väter und Mütter, aber
auch Erzieherinnen, die dieses Dilemma begriffen haben, und in ihrer
Berufs- und Lebenspraxis etwas dagegenzusetzen versuchen. (Vergleiche
in diesem Zusammenhang
das Buch von Robert Habeck, Verwirrte
Väter.)
Zum Einlesen in die Thematik aber kann das vorliegende Buch sehr
empfohlen werden.
(Winfried Stanzick; 03/2009)
Heinz
Walter (Hrsg.): "Vater, wer bist
du? Auf der Suche nach dem 'hinreichend guten' Vater"
Klett-Cotta, 2008. 294 Seiten.
Buch
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Heinz
Walter, Professor Dr.,
forscht und lehrt am Fachbereich Psychologie der Universität
Konstanz und ist
psychotherapeutisch und in präventiver Elternarbeit
tätig; zahlreiche Veröffentlichungen
zu Bedingungen der menschlichen Entwicklung.
Noch ein Buchtipp:
"Vater und Kind. Liebesgeschichten in Bildern"
Die Beziehungen zwischen Vätern und ihren Kindern sind so
vielschichtig wie das
Leben selbst. Und von besonderem Reiz ist es, die Fotoarchive
großer Meister,
wie jene von Robert Capa und Henri Cartier-Bresson zu
durchstöbern oder die
zeitgenössischer Fotografen, die zumeist in Einzelbildern oder
kurzen
Bildfolgen die besondere Intimität zwischen Vater und Kind
festgehalten haben.
Der Benteli Verlag veröffentlicht nun erstmals eine sorgsam
editierte Auswahl
dieser Momentaufnahmen: Fotografien, die in den letzten Jahrzehnten
entstanden
sind und die unterschiedlichsten Lebensumstände und
Augenblicke festhalten.
Gemeinsam bilden sie die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen ab:
Liebe,
Humor und Freude aber auch Verzweiflung oder Trauer ist aus den
Gesichtern der
porträtierten Väter und Kindern zu lesen.
Ergänzt wird das Buch durch einen
literarischen Essay.
Erläuternder Text
von
Wladimir Kaminer, Guido Magnaguagno. (Benteli Verlag)
Buch
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Leseprobe:
Die Schwellensituation "Vaterschaft"
vor dem Hintergrund eigener Vaterlosigkeit (Ursula Bück)
Wenn ein Sohn kurz nach seiner
Geburt den Vater durch plötzlichen Tod verliert, wie dies in
der nachfolgenden
Kasuistik dargestellt werden wird, stellt sich aus psychoanalytischer
Sicht die
Frage nach der Bedeutung des fehlenden Vaters für die
unbewusste Dynamik in der
psychischen Struktur des erwachsenen jungen Mannes. Der junge Mann
erkrankte in
einer erstaunlichen biografischen Koinzidenz an lebensbedrohlichen
akuten
Magenblutungen im Zusammenhang mit der Geburt seines ersten
(erwünschten)
Sohnes. Es stellt sich daher die weitere Frage, inwiefern die
Bewältigung der
Schwellensituation "Vaterschaft" für diesen jungen Mann
aufgrund der
spezifischen psychischen Strukturbildung besonderen unbewussten
Belastungen
unterlag. Vor dem Hintergrund von D.W. Winnicotts Verständnis
seelischer
Entwicklung wird im Folgenden die Situation von Herrn S., die zur
Behandlung führte,
dargestellt und dabei das Augenmerk auf die unbewusste Psychodynamik
gerichtet,
die auf der Schwelle zur Vaterschaft aktualisiert wurde.
Das äußerlich Sichtbare und
das Schicksal der primären Angewiesenheit
In der Vorbereitung dieser
Arbeit ist mir der folgende Satz eingefallen, der von Paul Klee stammen
soll:
"Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."
Dieser Gedanke in seiner nur scheinbaren Widersprüchlichkeit
trifft nach meinem
Empfinden den Kern der
Psychoanalyse und ihrer klinischen
Anwendungskunst, der
analytischen Psychotherapie. Das Verbindende zwischen so verstandener
Kunst und
der Betrachtung psychischer Vorgänge sehe ich dabei in der
Anerkennung des
Unbewussten als eines immer wirksamen seelischen Stroms, der sichtbare
äußere
Formen in einen für den Betrachter ungewohnten und daher neuen
Bedeutungszusammenhang bringen mag. Bezogen auf die psychoanalytische
Theorie
und Praxis liegt es auf der Hand, dass - vor dem Hintergrund eines
Krankheitsverständnisses, das die Symptomatik als unbewussten
Selbstheilungsversuch versteht - Psychoanalytiker die Frage nach den
Entstehungsbedingungen von seelischen und psychosomatischen
Erkrankungen nicht
im Sinne einer direkt von "außen" nach "innen"
schädigenden
Kausalkette beantworten können. Allgemeines menschliches
Interesse, Zeit,
professionelle Empathie im Verbund mit theoretischen Grundlagen und
klinischer
Erfahrung bilden die Zugangsvoraussetzungen zu der inneren Welt des
Patienten.
In der Begegnung und im Austausch mit dem Psychoanalytiker wird der
Patient
diese innere Welt als subjektiv empfundene Wahrheit allmählich
erleben, "entschlüsseln"
und symbolisieren.
Im Diskurs mit verwandten
wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Entwicklung des
Menschen und
ihren Störungen befassen, aber auch im Diskurs mit der
somatischen Medizin
steht die klinisch-psychoanalytische Forschung somit vor der Aufgabe,
ihre
tiefenhermeneutische Sichtweise der Wirkung unbewusster Prozesse in der
menschlichen Entwicklung und in den Entstehungsbedingungen von
Krankheit zu
vertreten und sich in einer Sprache auszudrücken, die den
Austausch über den
Verständigungsgraben hinweg ermöglicht.
In der wechselseitigen Beziehung
von "Außen" und "Innen" geht psychoanalytisches
Verständnis
menschlicher Entwicklung, insbesondere dasjenige der Selbstpsychologie
und der
Objektbeziehungstheorien, von der unbewussten umwandelnden
Verinnerlichung von
Selbstobjekterfahrungen beziehungsweise der Introjektion von
Objektbeziehungserfahrungen in das wachsende kindliche Selbst aus. Mit
dem
Begriff "Objekt" ist hier das "Nicht-Selbst" gemeint, also
die für das kindliche Selbst entwicklungsrelevante psychische
Bedeutung des
wichtigen Anderen. Wenn dabei von realen Menschen gesprochen wird,
verwende ich
den Ausdruck "äußere Objekte". Dieses
tiefenhermeneutische Denken
wurde aus der klinischen Arbeit mit Menschen entwickelt, die ihr
partiell
unbewusst gewordenes Gewordensein in der sogenannten
Übertragung zum
Psychoanalytiker wiederholen und dadurch emotional verstehen lernen.
Was sich in
der psychoanalytischen Situation in Abhängigkeit von der
Regressionstiefe an
Vater- und Mutterintrojekten entfaltet, ist aber im Dienste der
Beziehungsregulierung zu den bedeutsamen Menschen über
unbewusste
Abwehrformationen im Verlauf der seelischen Entwicklung so
vielfältig
verfremdet, verwoben, vereinseitigt oder verwischt worden, dass eine
unmittelbare Zuordnung zur Rolle des realen historischen Vaters oder
der Mutter
nicht möglich ist. Das Kind erlebt den Vater durch die Mutter
und die Mutter
durch den Vater und ihre Beziehung oder Nicht-Beziehung als Ganzes in
Abhängigkeit
von den tagtäglichen Interaktionen. Der reale historische
Vater entspricht so
verstanden niemals in einem Eins-zu-eins-Verhältnis dem auf
einem bestimmten
Regressionsniveau aufgefundenen Vaterintrojekt (am ehesten noch bei
schwerwiegenden Traumatisierungen durch die Primärobjekte);
und dennoch knüpft
das Vaterintrojekt an den historischen Vater an und kann über
die ehemals
makro- oder mikrotraumatisierenden, abgewehrten Beziehungserfahrungen
verstanden
werden. In solchem Zusammenhang wird als Beispiel das scheinbare
Paradox verständlicher,
warum psychisch oder physisch überwiegend abwesende
Väter vom Kind heftig
idealisiert werden können, während es das Gute, das
in der Nähe liegen mag,
kaum zu beachten scheint. Mit der Idealisierung als Abwehrform
schützt sich das
Kind unbewusst vor schmerzlichen oder aggressiven Gefühlen,
die in seinem
Erleben die Beziehung zu dem Menschen, den es braucht, zu sehr
gefährden. Die
Idealisierung macht es aber auch verletzbarer in Bezug auf
Enttäuschungen,
sodass der Vater oder die Mutter, die sich in der Pubertät
oder Adoleszenz des
Kindes plötzlich verstärkt engagieren, auf
brüchigem Boden stehen können.
Verinnerlichte Objektbeziehungserfahrungen und ihre Abwehrformationen
bestimmen
aus der Sicht der Objektbeziehungstheorie die psychische Struktur des
Menschen.
Konflikte mit den wichtigen Menschen der eigenen Geschichte sind so
gesehen
normal und kommen immer vor. Sie prägen über den Weg
der Verinnerlichung
unbewusst und vorbewusst die seelische Struktur; dies allerdings in
Abhängigkeit
von der Heftigkeit, mit der sie anfallen und vom überforderten
kindlichen
Selbst zum Schutz der lebenswichtigen Beziehungen irgendwie verarbeitet
werden müssen.
Verständigungsprobleme zwischen
"Außen" und "Innen" ergeben sich nicht nur zwischen der
Psychoanalyse und verwandten Disziplinen, sondern auch innerhalb der
psychoanalytischen Forschung selbst. Am Beispiel der modernen
Säuglingsforschung
(Stern, 1985) und ihren Implikationen für die
psychoanalytische Klinik und
Entwicklungspsychologie wird dies besonders deutlich. In den letzten
zwei
Jahrzehnten erschienen die ersten Ergebnisse der modernen
Säuglingsforschung
von Stern und ihrer Übersetzung und Rezeption für den
deutschen Sprachraum
durch Dornes (1993). Stern (1985, S. 9) erwähnt als
Psychoanalytiker seine
Unzufriedenheit mit dem klinisch damals vorherrschenden
älteren Symbiosekonzept
Margaret S. Mahlers als Motor und Ausgangspunkt für seine
empirischen
Untersuchungen. Ebenso beklagt er die unbefriedigende Aufgabe einer
"Rekonstruktion
des Säuglings" bei Patienten mit frühen
Störungen allein aus der
klinischen analytischen Situation (Übertragung). Die Frage
"wie es damals
wirklich war" (Dornes, 1993, S. 15), die Frage also nach der
sogenannten
historischen Wahrheit, inspirierte Stern über die
Direktbeobachtung von Säuglingen
und die empirische Untersuchung der frühen
Mutter/Eltern-Kind-Beziehung die frühesten
Phasen der postnatalen Entwicklung zu erforschen; einerseits um eine
Lücke in
der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie zu schließen,
andererseits um in
der klinischen Situation präsymbolische
Übertragungsmodi besser zu verstehen.
Die bekannten Untersuchungsergebnisse, die bei dem Neugeborenen ein
differenziertes Wahrnehmungsvermögen und eine angeborene
basale Ausstattung im
Bereich des mimischen Ausdrucks von Affekten feststellen, wurden von
Stern in
entwicklungspsychologischer Hinsicht als eine von Anfang an bestehende
Fähigkeit
des Säuglings zur Subjekt-Objektdifferenzierung, also einem
primären Erleben
von Getrenntheit als Ausgangspunkt der Selbstentwicklung, interpretiert
- dies
in Abgrenzung zu Mahlers Vorstellung einer frühen
symbiotischen Verschmelzung
von Baby und Mutter. Stern (1985) war sich dabei der
erkenntnistheoretischen
Schwierigkeit, von äußerer Beobachtung auf inneres
Erleben zu schließen,
bewusst: "Wir wissen nun einmal nicht, ob Säuglinge das, was
ihr Gesicht,
ihre Stimme und ihr Körper uns so eindringlich zu vermitteln
scheinen, tatsächlich
empfinden; doch fällt es schwer, angesichts dieser
Ausdrucksfähigkeit nicht
auf eine entsprechende Empfindungsfähigkeit zu
schließen." (S. 101) In
diesem Dilemma, das meines Erachtens aufgrund der fehlenden
Symbolisierungsfähigkeit
des Säuglings niemals aufgelöst werden kann, sodass
Psychoanalytiker in der
empathischen Erfassung frühester Selbstzustände auf
einseitige, spekulative
und adultomorphe Begrifflichkeiten angewiesen bleiben werden,
entschloss sich
Stern (Stern, 1985, S. 382 f.) zu seiner Interpretation, von der er
annahm, dass
sie längerfristig verändernd wirken würde
auf die klinische Praxis, das
psychoanalytische Menschenbild und gesellschaftliche Einstellungen zum
Kleinstkind überhaupt. Dornes (1993) seinerseits betonte mit
dem Begriff des
"kompetenten Säuglings", der nach meinem Eindruck seither wie
eine
Metapher für das neue Paradigma einer frühen
Unabhängigkeit des Menschen
durch die psychoanalytische Literatur geistert, die Eigeninitiative des
abgegrenzten Säuglings in den frühen
Interaktionsformen mit den
Eltern.
In diesem Zusammenhang bemühen
sich Psychoanalytiker im Rahmen der deutschsprachigen neueren
Väterforschung
vermehrt um eine Einbeziehung des frühen Vaters in die
psychoanalytische
Entwicklungspsychologie. Ich beziehe mich hier auf L. Schon (1995), J.
C. Aigner
(2001) und J. Grieser (1998). Schon und Aigner greifen in ihren
Argumentationen
unter anderem gerne auch auf den "kompetenten Säugling"
zurück, den
sie kraft seiner äußerlich beobachtbaren
Differenzierungsmöglichkeiten in der
Lage sehen möchten, Vater und Mutter intrapsychisch als
unterschiedliche
Objekte von Anfang an entwicklungsrelevant zu nutzen.
Schon (1995, S. 48-70) bezieht
sich unter anderen auf Buchholz, wenn er die verinnerlichte Triade als
die
"Urform menschlicher Beziehung" postuliert. Die Diskussion um das, was
der Säugling in der Beziehung zu Vater oder Mutter ist, kann,
braucht oder
nicht ist, nicht kann und nicht braucht, ist nach meinem Empfinden dann
so
irritierend und skeptisch zu betrachten, wenn die tiefenhermeneutische
Sichtweise verwischt wird durch einfache
Rückführungen des äußerlich
Festgestellten auf innere Vorgänge oder aber
gesellschaftspolitische und
sozialwissenschaftliche Anliegen vermengt werden mit psychoanalytischen
entwicklungspsychologischen Überlegungen. In diesem
Zusammenhang geht nach
meinem Eindruck der auch klinisch relevante Gedanke verloren, dass
nämlich der
Säugling der modernen Säuglingsforschung
ursprünglich nur "kompetent"
war im Vergleich zu Mahlers passiv-symbiotischen Vorstellungen und
nicht "kompetent"
an sich im Sinne einer wirklichkeitsfernen Übertreibung seiner
frühen
Beziehungsfähigkeit. Positiv ausgedrückt
könnte ich auch sagen, dass der Säugling
der modernen Säuglingsforschung lebendig beziehungsweise
nachweislich lebendig
ist. So gesehen und im Wissen um seine äußerst
schutzbedürftige Lebendigkeit
können meines Erachtens die Fähigkeiten des
Neugeborenen im Bereich der
Affekte, der Wahrnehmung und Unterscheidung ebenso gut verstanden
werden als
Grundlage, das Primärobjekt im Sinne Winnicotts unter anderen
äußeren
Objekten zu "finden" und in die Dyade mit ihm einzutreten.
Für den britischen Kinderarzt
und Psychoanalytiker Winnicott waren primäre Angewiesenheit
und Lebendigkeit
keine Ausschlusskriterien. Sie bilden nach seinem Verständnis
vielmehr den Kern
der conditio humana. In einer lebenslänglichen
Entwicklungsleistung erfahren
diese zentralen Aspekte menschlichen Daseins unter günstigen
Umständen eine
Reifung von archaischen Beziehungsformen hin zu reifer
"Objektverwendung",
in der sich Menschen, obwohl sie aufeinander angewiesen bleiben, als
eigenständig
und getrennt voneinander erleben können. Somit besteht der
entwicklungspsychologische Kerngedanke Winnicotts in der Reifung des
Kindes aus
einer archaischen Mutter-Kind-Matrix hin zu der Angewiesenheit des
Erwachsenen
auf bedeutsame Menschen. Sie erfolgt über den Weg der
Subjekt-Objekt-Differenzierung und dem Entstehen eines psychischen
Raums
zwischen Objekt und Subjekt, dem Übergangsraum, der Ursprung
ist für Kreativität,
Sprache und Kultur im weitesten Sinn.
Für eine gesunde Entwicklung
des Kindes misst Winnicott den frühen Stadien grundlegende
Bedeutung zu. Den
Vater zieht er an verschiedenen Stellen seiner Schriften in seine
Überlegungen
zur psychischen Bedeutung des Primärobjekts für den
Säugling mit ein (Winnicott,
1965, S. 71, 89, 108, 114, 125). Er sieht bei dem durchschnittlich
begabten
Vater dieselben sensiblen und intuitiven Fähigkeiten, bezogen
auf das Kind, wie
bei der "hinreichend guten" Mutter. Er schließt deshalb nicht
aus,
dass auch der Vater (oder Dritte) das Primärobjekt
für das Kind sein könnten,
doch kannte er offenbar aus seiner Tätigkeit als Kinderarzt
und
Psychoanalytiker keine Kleinstkinder, die vom Vater allein oder
wirklich paritätisch
mit der Mutter großgezogen wurden.
Winnicott (1988, S. 165) macht
aber kein Hehl daraus, dass er die Mutter, die gerne für den
Säugling sorgt,
als Primärobjekt bevorzugt, allein schon aufgrund der
frühen psycho-physischen
Verbundenheit der Mutter mit ihrem Baby. Aus der Sicht Winnicotts ist
der Vater,
der ebenso wie die Mutter über empathische
Fähigkeiten, bezogen auf den Säugling,
verfügt, im optimalen Fall von Anfang an dabei (Winnicott,
1965, S. 125). Indem
er in einer libidinösen Beziehung zu seiner Frau steht,
unterstützt er sie in
ihren psychischen Möglichkeiten, sich in der
benötigten Weise dem Säugling
zuzuwenden. Die Mutter-Kind-Dyade Winnicotts sollte insofern als
metaphorischer
Begriff verstanden werden, als sie eine Beziehung beschreibt, innerhalb
welcher
das Kind das Primärobjekt in der Phase der absoluten
Abhängigkeit ganz im
Sinne seiner frühen Bedürftigkeit als "subjektives
Objekt" und nicht
in seiner Abgegrenztheit und in seinen individuellen Eigenschaften
braucht. Das
Primärobjekt stellt seinerseits vorübergehend eigene
Interessen weitgehend zurück,
um sich der Bedürftigkeit des Kindes nach Halt, Nahrung,
Reizschutz, Körperpflege,
Körperkontakt und emotionaler Zuwendung über die
Einfühlung zuzuwenden. In
der direkten Interaktion mit dem Baby, das seine Objekte in der
frühen Phase
als subjektive benötigt, sind deshalb auch vom Vater
"mütterliche" Fähigkeiten
gefordert, wenn damit die empathische Wahrnehmung dessen, was das Kind
braucht,
gemeint ist. Der Vater als Vater mit spezifischen "männlichen"
Eigenschaften kommt nach Winnicott später dazu, wird also mit
diesen "männlichen"
Eigenschaften erst später zum entwicklungsrelevanten Objekt.
Winnicott (1971,
S. 147) stand dem Symbiosebegriff Mahlers skeptisch gegenüber,
weil er ihm zu
biologistisch erschien. Symbiose impliziert Austausch zwischen den
Symbiosepartnern. Er fragte sich, was denn in dieser frühen
Phase ausgetauscht
würde, und betonte stattdessen die primäre absolute
psycho-physische Abhängigkeit
des Neugeborenen von der Mutter (oder einem Mutterersatz) und deren
relative
psychophysische Abhängigkeit von dem Kind.
Schwere Fehlentwicklungen, wie
die späteren Borderline-Persönlichkeiten mit ihrer
lebenslänglichen
existenziellen Abhängigkeit von äußeren
Objekten als Schutz vor
Fragmentierung des Selbst, sah Winnicott im Kontext früher
Störungen im
Bereich der Dyade. Der Säugling andererseits, der sein
Primärobjekt in
ausreichender Weise als subjektives nutzen kann, bildet Urvertrauen
(Erikson) in
seine Umwelt aus im Sinne des von Winnicott so benannten gesunden
"Omnipotenzerlebens":
Der Säugling "schafft sich die Mutter", indem sein Schrei die
Mutter
herbeiholt und sein Hunger die Milch fließen lässt.
Die Dyade Winnicotts wird
nicht gut genug verstanden, wenn sie - in Anlehnung an Mahlers
Symbiosekonzept -
nur als Ort der archaischen, passiven Bedürfnisbefriedigung
und frühen
Verschmelzung gesehen wird. Sie stellt vielmehr eine frühe
Beziehungsform dar,
innerhalb welcher der Säugling das Primärobjekt als
subjektives nutzt und
dadurch seine Erfahrungen mit diesem als von ihm geschaffene
Erfahrungen erleben
kann (Tenbrink, 2000, S. 751). Im Einklang mit seiner
allmählichen Reifung
stimmt die hinreichend gute ("good-enough") Mutter ihre Zuwendung auf
die gewachsene Fähigkeit des Babys, kleine Aufschübe
oder kurze Abwesenheiten
des Primärobjekts zu ertragen, intuitiv ab. Sie relativiert
dadurch sein
Omnipotenzerleben und tritt deutlicher als "objektives Objekt" in
Erscheinung, dies allerdings in allmählicher, nicht zu harter
Weise. Die Fähigkeit
des Kindes, "Innen" und "Außen" zu unterscheiden, kann sich
jetzt entwickeln. Die Bildung einer psychischen "Haut" zwischen Baby
und Mutter und die Entwicklung eines Kernselbst beim Säugling
in der Phase der
absoluten Abhängigkeit sieht Winnicott behindert durch
ständig grob
unempathisches, für den Säugling unpassendes
Reagieren des Primärobjekts auf
seine "Gesten"; oder durch perfektionistische Primärobjekte,
die
immer schon wissen, was das Kind braucht, bevor es sich
geäußert hat. Die
Abwehrvorgänge, mit denen das Kind sein auf diese Weise
bedrohtes Kernselbst
schützt, sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter
besprochen werden. (In
diesem Zusammenhang sei auf W. R. D. Fairbairn, 1944, 1946, S.
115–171,
hingewiesen.) Im günstigen Fall entwickelt sich ein Kind, das
seine Eltern
ambivalent besetzen kann, das heißt, Liebe und Hass erlebt,
ohne dadurch fürchten
zu müssen, die Eltern zu zerstören oder zu verlieren.
Mit der kognitiven und
emotionalen Reifung wächst die Fähigkeit des Babys,
die unterschiedlichen äußeren
Objekte zu verinnerlichen und in entwicklungsrelevanter Weise psychisch
zu
nutzen. Damit wächst die intrapsychische und intersubjektive
Bedeutung des
Vaters, der im optimalen Fall von Anfang an dabei war, für das
Kleinkind
(Stichwörter: Unterstützung und Ausgleich der
präödipalen Mutter, frühe
Geschlechtsdifferenzierung). Diese psychische Fähigkeit zur
Triangulierung,
also die Möglichkeit, mehrere wichtige Personen zu
verinnerlichen, die
untereinander und mit dem Kind in Beziehung stehen, ergibt sich
für Winnicott
erst aus der einigermaßen glücklich durchlaufenen
dyadischen Phase, die zu der
Entwicklung eines metaphorischen intersubjektiven Raums, des
Übergangsraums,
geführt hat. Hier findet erster symbolisierter, kreativer
Austausch zwischen
objektiven Objekten statt. Übergangsobjekte (Kuscheltiere,
Schmusedecken)
beinhalten das Selbst des Kindes und das Selbst des
Primärobjekts und dienen
der Bewältigung von Trennungsangst. Das Kind entwickelt jetzt
die Fähigkeit,
sich in andere einzufühlen über die
vorübergehende unbewusste Identifizierung
mit ihnen. Es bildet die "Fähigkeit zur Besorgnis" aus als
Grundlage
späterer zufriedenstellender und stabiler Beziehungen, in
denen "Tiefe"
möglich wird. Die wichtigen Menschen werden jetzt zunehmend in
ihrer Eigenart
erkannt und als objektive Objekte intrapsychisch genutzt. (...)