Heinz Walter (Hrsg.): "Vater, wer bist du?"

Auf der Suche nach dem "hinreichend guten" Vater


Dieser von dem Konstanzer Professor Heinz Walter herausgegebene Band versammelt Aufsätze von Berufskollegen, die eines verbindet. Ihr Thema ist der Vater in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen.
Zunächst führt der Herausgeber selbst in einem Aufsatz in das Thema ein, wirft einen historischen Blick auf die literarische und psychotherapeutische "Suche nach dem Vater" in den letzten 40 Jahren und erläutert die neuen Ansätze der Vaterforschung sowie die vielfältigen Versuche in den Familien und Partnerschaften, das Vaterbild zu verändern.
Oft spielt dabei, leider mehr im Negativen als im Positiven, die Erfahrung des eigenen, oft eben nicht als "hinreichend gut" erlebten Vaters mit, die man in der Begegnung mit eigenen Kindern auf keinen Fall wiederholen möchte.

Diesen oft lebenslang präsenten Vätern sind Aufsätze gewidmet, aber auch den nicht "hinreichend guten", etwa dem, der gar nicht wirklich präsent ist und durch diese Nicht-Anwesenheit nicht unwesentlich zu Delinquenzrate seiner Kinder beiträgt.
Oder der tragische, psychisch kranke Vater, der seinen Kindern keinen Halt geben kann.

Der Reichtum des Buches ist gleichzeitig sein Mangel: Es ist ein Sammelband mit Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen Zusammenhängen und keine Monografie. Eine solche hat im letzten Herbst Dieter Thomä bei Hanser unter dem Titel "Väter. Eine moderne Heldengeschichte" vorgelegt, die neben dem gegenständlich besprochenen instruktiven Sammelband sehr empfohlen werden kann.

Was aber beide Bücher nicht leisten und was dringend einer Analyse und Therapie bedarf, ist das moderne Phänomen, dass Kinder auf ihrem Weg durch die Erziehungsinstanzen des Kindergartens und der Schule bis auf verschwindend wenige Ausnahmen frühestens im 6. oder 7. Schuljahr dem ersten Mann als Erzieher begegnen, der dann vielleicht so alt ist wie ihr Großvater.
Unsere Erziehungsinstitutionen sind weiblich geprägt, sie können keine männlichen Identifikationsmuster vermitteln und lassen insbesondere die Knaben so im Regen stehen. Fällt zusätzlich der eigene Vater durch Trennung/Scheidung oder hohen Berufsstress aus, ist niemand da, der Buben und Mädchen das vermittelt, was Mannsein heißen könnte. Ich mag gar nicht daran denken, wie sich dieses Dilemma auf die nächste Generation auswirken wird, wenn schon die jetzige Elterngeneration durch einen eklatanten Mangel an elterlichen und erst recht väterlichen Vorbildern geprägt ist.

Doch es gibt viele Menschen, Väter und Mütter, aber auch Erzieherinnen, die dieses Dilemma begriffen haben, und in ihrer Berufs- und Lebenspraxis etwas dagegenzusetzen versuchen. (Vergleiche in diesem Zusammenhang das Buch von Robert Habeck, Verwirrte Väter.)

Zum Einlesen in die Thematik aber kann das vorliegende Buch sehr empfohlen werden.

(Winfried Stanzick; 03/2009)


Heinz Walter (Hrsg.): "Vater, wer bist du? Auf der Suche nach dem 'hinreichend guten' Vater"
Klett-Cotta, 2008. 294 Seiten.
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Heinz Walter, Professor Dr., forscht und lehrt am Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz und ist psychotherapeutisch und in präventiver Elternarbeit tätig; zahlreiche Veröffentlichungen zu Bedingungen der menschlichen Entwicklung.

Noch ein Buchtipp:

"Vater und Kind. Liebesgeschichten in Bildern"

Die Beziehungen zwischen Vätern und ihren Kindern sind so vielschichtig wie das Leben selbst. Und von besonderem Reiz ist es, die Fotoarchive großer Meister, wie jene von Robert Capa und Henri Cartier-Bresson zu durchstöbern oder die zeitgenössischer Fotografen, die zumeist in Einzelbildern oder kurzen Bildfolgen die besondere Intimität zwischen Vater und Kind festgehalten haben. Der Benteli Verlag veröffentlicht nun erstmals eine sorgsam editierte Auswahl dieser Momentaufnahmen: Fotografien, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und die unterschiedlichsten Lebensumstände und Augenblicke festhalten. Gemeinsam bilden sie die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen ab: Liebe, Humor und Freude aber auch Verzweiflung oder Trauer ist aus den Gesichtern der porträtierten Väter und Kindern zu lesen. Ergänzt wird das Buch durch einen literarischen Essay.
Erläuternder Text von Wladimir Kaminer, Guido Magnaguagno. (Benteli Verlag)
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Leseprobe:

Die Schwellensituation "Vaterschaft" vor dem Hintergrund eigener Vaterlosigkeit (Ursula Bück)

Wenn ein Sohn kurz nach seiner Geburt den Vater durch plötzlichen Tod verliert, wie dies in der nachfolgenden Kasuistik dargestellt werden wird, stellt sich aus psychoanalytischer Sicht die Frage nach der Bedeutung des fehlenden Vaters für die unbewusste Dynamik in der psychischen Struktur des erwachsenen jungen Mannes. Der junge Mann erkrankte in einer erstaunlichen biografischen Koinzidenz an lebensbedrohlichen akuten Magenblutungen im Zusammenhang mit der Geburt seines ersten (erwünschten) Sohnes. Es stellt sich daher die weitere Frage, inwiefern die Bewältigung der Schwellensituation "Vaterschaft" für diesen jungen Mann aufgrund der spezifischen psychischen Strukturbildung besonderen unbewussten Belastungen unterlag. Vor dem Hintergrund von D.W. Winnicotts Verständnis seelischer Entwicklung wird im Folgenden die Situation von Herrn S., die zur Behandlung führte, dargestellt und dabei das Augenmerk auf die unbewusste Psychodynamik gerichtet, die auf der Schwelle zur Vaterschaft aktualisiert wurde.

Das äußerlich Sichtbare und das Schicksal der primären Angewiesenheit

In der Vorbereitung dieser Arbeit ist mir der folgende Satz eingefallen, der von Paul Klee stammen soll: "Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar." Dieser Gedanke in seiner nur scheinbaren Widersprüchlichkeit trifft nach meinem Empfinden den Kern der Psychoanalyse und ihrer klinischen Anwendungskunst, der analytischen Psychotherapie. Das Verbindende zwischen so verstandener Kunst und der Betrachtung psychischer Vorgänge sehe ich dabei in der Anerkennung des Unbewussten als eines immer wirksamen seelischen Stroms, der sichtbare äußere Formen in einen für den Betrachter ungewohnten und daher neuen Bedeutungszusammenhang bringen mag. Bezogen auf die psychoanalytische Theorie und Praxis liegt es auf der Hand, dass - vor dem Hintergrund eines Krankheitsverständnisses, das die Symptomatik als unbewussten Selbstheilungsversuch versteht - Psychoanalytiker die Frage nach den Entstehungsbedingungen von seelischen und psychosomatischen Erkrankungen nicht im Sinne einer direkt von "außen" nach "innen" schädigenden Kausalkette beantworten können. Allgemeines menschliches Interesse, Zeit, professionelle Empathie im Verbund mit theoretischen Grundlagen und klinischer Erfahrung bilden die Zugangsvoraussetzungen zu der inneren Welt des Patienten. In der Begegnung und im Austausch mit dem Psychoanalytiker wird der Patient diese innere Welt als subjektiv empfundene Wahrheit allmählich erleben, "entschlüsseln" und symbolisieren.

Im Diskurs mit verwandten wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Entwicklung des Menschen und ihren Störungen befassen, aber auch im Diskurs mit der somatischen Medizin steht die klinisch-psychoanalytische Forschung somit vor der Aufgabe, ihre tiefenhermeneutische Sichtweise der Wirkung unbewusster Prozesse in der menschlichen Entwicklung und in den Entstehungsbedingungen von Krankheit zu vertreten und sich in einer Sprache auszudrücken, die den Austausch über den Verständigungsgraben hinweg ermöglicht.

In der wechselseitigen Beziehung von "Außen" und "Innen" geht psychoanalytisches Verständnis menschlicher Entwicklung, insbesondere dasjenige der Selbstpsychologie und der Objektbeziehungstheorien, von der unbewussten umwandelnden Verinnerlichung von Selbstobjekterfahrungen beziehungsweise der Introjektion von Objektbeziehungserfahrungen in das wachsende kindliche Selbst aus. Mit dem Begriff "Objekt" ist hier das "Nicht-Selbst" gemeint, also die für das kindliche Selbst entwicklungsrelevante psychische Bedeutung des wichtigen Anderen. Wenn dabei von realen Menschen gesprochen wird, verwende ich den Ausdruck "äußere Objekte". Dieses tiefenhermeneutische Denken wurde aus der klinischen Arbeit mit Menschen entwickelt, die ihr partiell unbewusst gewordenes Gewordensein in der sogenannten Übertragung zum Psychoanalytiker wiederholen und dadurch emotional verstehen lernen. Was sich in der psychoanalytischen Situation in Abhängigkeit von der Regressionstiefe an Vater- und Mutterintrojekten entfaltet, ist aber im Dienste der Beziehungsregulierung zu den bedeutsamen Menschen über unbewusste Abwehrformationen im Verlauf der seelischen Entwicklung so vielfältig verfremdet, verwoben, vereinseitigt oder verwischt worden, dass eine unmittelbare Zuordnung zur Rolle des realen historischen Vaters oder der Mutter nicht möglich ist. Das Kind erlebt den Vater durch die Mutter und die Mutter durch den Vater und ihre Beziehung oder Nicht-Beziehung als Ganzes in Abhängigkeit von den tagtäglichen Interaktionen. Der reale historische Vater entspricht so verstanden niemals in einem Eins-zu-eins-Verhältnis dem auf einem bestimmten Regressionsniveau aufgefundenen Vaterintrojekt (am ehesten noch bei schwerwiegenden Traumatisierungen durch die Primärobjekte); und dennoch knüpft das Vaterintrojekt an den historischen Vater an und kann über die ehemals makro- oder mikrotraumatisierenden, abgewehrten Beziehungserfahrungen verstanden werden. In solchem Zusammenhang wird als Beispiel das scheinbare Paradox verständlicher, warum psychisch oder physisch überwiegend abwesende Väter vom Kind heftig idealisiert werden können, während es das Gute, das in der Nähe liegen mag, kaum zu beachten scheint. Mit der Idealisierung als Abwehrform schützt sich das Kind unbewusst vor schmerzlichen oder aggressiven Gefühlen, die in seinem Erleben die Beziehung zu dem Menschen, den es braucht, zu sehr gefährden. Die Idealisierung macht es aber auch verletzbarer in Bezug auf Enttäuschungen, sodass der Vater oder die Mutter, die sich in der Pubertät oder Adoleszenz des Kindes plötzlich verstärkt engagieren, auf brüchigem Boden stehen können. Verinnerlichte Objektbeziehungserfahrungen und ihre Abwehrformationen bestimmen aus der Sicht der Objektbeziehungstheorie die psychische Struktur des Menschen. Konflikte mit den wichtigen Menschen der eigenen Geschichte sind so gesehen normal und kommen immer vor. Sie prägen über den Weg der Verinnerlichung unbewusst und vorbewusst die seelische Struktur; dies allerdings in Abhängigkeit von der Heftigkeit, mit der sie anfallen und vom überforderten kindlichen Selbst zum Schutz der lebenswichtigen Beziehungen irgendwie verarbeitet werden müssen.

Verständigungsprobleme zwischen "Außen" und "Innen" ergeben sich nicht nur zwischen der Psychoanalyse und verwandten Disziplinen, sondern auch innerhalb der psychoanalytischen Forschung selbst. Am Beispiel der modernen Säuglingsforschung (Stern, 1985) und ihren Implikationen für die psychoanalytische Klinik und Entwicklungspsychologie wird dies besonders deutlich. In den letzten zwei Jahrzehnten erschienen die ersten Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung von Stern und ihrer Übersetzung und Rezeption für den deutschen Sprachraum durch Dornes (1993). Stern (1985, S. 9) erwähnt als Psychoanalytiker seine Unzufriedenheit mit dem klinisch damals vorherrschenden älteren Symbiosekonzept Margaret S. Mahlers als Motor und Ausgangspunkt für seine empirischen Untersuchungen. Ebenso beklagt er die unbefriedigende Aufgabe einer "Rekonstruktion des Säuglings" bei Patienten mit frühen Störungen allein aus der klinischen analytischen Situation (Übertragung). Die Frage "wie es damals wirklich war" (Dornes, 1993, S. 15), die Frage also nach der sogenannten historischen Wahrheit, inspirierte Stern über die Direktbeobachtung von Säuglingen und die empirische Untersuchung der frühen Mutter/Eltern-Kind-Beziehung die frühesten Phasen der postnatalen Entwicklung zu erforschen; einerseits um eine Lücke in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie zu schließen, andererseits um in der klinischen Situation präsymbolische Übertragungsmodi besser zu verstehen. Die bekannten Untersuchungsergebnisse, die bei dem Neugeborenen ein differenziertes Wahrnehmungsvermögen und eine angeborene basale Ausstattung im Bereich des mimischen Ausdrucks von Affekten feststellen, wurden von Stern in entwicklungspsychologischer Hinsicht als eine von Anfang an bestehende Fähigkeit des Säuglings zur Subjekt-Objektdifferenzierung, also einem primären Erleben von Getrenntheit als Ausgangspunkt der Selbstentwicklung, interpretiert - dies in Abgrenzung zu Mahlers Vorstellung einer frühen symbiotischen Verschmelzung von Baby und Mutter. Stern (1985) war sich dabei der erkenntnistheoretischen Schwierigkeit, von äußerer Beobachtung auf inneres Erleben zu schließen, bewusst: "Wir wissen nun einmal nicht, ob Säuglinge das, was ihr Gesicht, ihre Stimme und ihr Körper uns so eindringlich zu vermitteln scheinen, tatsächlich empfinden; doch fällt es schwer, angesichts dieser Ausdrucksfähigkeit nicht auf eine entsprechende Empfindungsfähigkeit zu schließen." (S. 101) In diesem Dilemma, das meines Erachtens aufgrund der fehlenden Symbolisierungsfähigkeit des Säuglings niemals aufgelöst werden kann, sodass Psychoanalytiker in der empathischen Erfassung frühester Selbstzustände auf einseitige, spekulative und adultomorphe Begrifflichkeiten angewiesen bleiben werden, entschloss sich Stern (Stern, 1985, S. 382 f.) zu seiner Interpretation, von der er annahm, dass sie längerfristig verändernd wirken würde auf die klinische Praxis, das psychoanalytische Menschenbild und gesellschaftliche Einstellungen zum Kleinstkind überhaupt. Dornes (1993) seinerseits betonte mit dem Begriff des "kompetenten Säuglings", der nach meinem Eindruck seither wie eine Metapher für das neue Paradigma einer frühen Unabhängigkeit des Menschen durch die psychoanalytische Literatur geistert, die Eigeninitiative des abgegrenzten Säuglings in den frühen Interaktionsformen mit den Eltern.

In diesem Zusammenhang bemühen sich Psychoanalytiker im Rahmen der deutschsprachigen neueren Väterforschung vermehrt um eine Einbeziehung des frühen Vaters in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie. Ich beziehe mich hier auf L. Schon (1995), J. C. Aigner (2001) und J. Grieser (1998). Schon und Aigner greifen in ihren Argumentationen unter anderem gerne auch auf den "kompetenten Säugling" zurück, den sie kraft seiner äußerlich beobachtbaren Differenzierungsmöglichkeiten in der Lage sehen möchten, Vater und Mutter intrapsychisch als unterschiedliche Objekte von Anfang an entwicklungsrelevant zu nutzen.

Schon (1995, S. 48-70) bezieht sich unter anderen auf Buchholz, wenn er die verinnerlichte Triade als die "Urform menschlicher Beziehung" postuliert. Die Diskussion um das, was der Säugling in der Beziehung zu Vater oder Mutter ist, kann, braucht oder nicht ist, nicht kann und nicht braucht, ist nach meinem Empfinden dann so irritierend und skeptisch zu betrachten, wenn die tiefenhermeneutische Sichtweise verwischt wird durch einfache Rückführungen des äußerlich Festgestellten auf innere Vorgänge oder aber gesellschaftspolitische und sozialwissenschaftliche Anliegen vermengt werden mit psychoanalytischen entwicklungspsychologischen Überlegungen. In diesem Zusammenhang geht nach meinem Eindruck der auch klinisch relevante Gedanke verloren, dass nämlich der Säugling der modernen Säuglingsforschung ursprünglich nur "kompetent" war im Vergleich zu Mahlers passiv-symbiotischen Vorstellungen und nicht "kompetent" an sich im Sinne einer wirklichkeitsfernen Übertreibung seiner frühen Beziehungsfähigkeit. Positiv ausgedrückt könnte ich auch sagen, dass der Säugling der modernen Säuglingsforschung lebendig beziehungsweise nachweislich lebendig ist. So gesehen und im Wissen um seine äußerst schutzbedürftige Lebendigkeit können meines Erachtens die Fähigkeiten des Neugeborenen im Bereich der Affekte, der Wahrnehmung und Unterscheidung ebenso gut verstanden werden als Grundlage, das Primärobjekt im Sinne Winnicotts unter anderen äußeren Objekten zu "finden" und in die Dyade mit ihm einzutreten.

Für den britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott waren primäre Angewiesenheit und Lebendigkeit keine Ausschlusskriterien. Sie bilden nach seinem Verständnis vielmehr den Kern der conditio humana. In einer lebenslänglichen Entwicklungsleistung erfahren diese zentralen Aspekte menschlichen Daseins unter günstigen Umständen eine Reifung von archaischen Beziehungsformen hin zu reifer "Objektverwendung", in der sich Menschen, obwohl sie aufeinander angewiesen bleiben, als eigenständig und getrennt voneinander erleben können. Somit besteht der entwicklungspsychologische Kerngedanke Winnicotts in der Reifung des Kindes aus einer archaischen Mutter-Kind-Matrix hin zu der Angewiesenheit des Erwachsenen auf bedeutsame Menschen. Sie erfolgt über den Weg der Subjekt-Objekt-Differenzierung und dem Entstehen eines psychischen Raums zwischen Objekt und Subjekt, dem Übergangsraum, der Ursprung ist für Kreativität, Sprache und Kultur im weitesten Sinn.

Für eine gesunde Entwicklung des Kindes misst Winnicott den frühen Stadien grundlegende Bedeutung zu. Den Vater zieht er an verschiedenen Stellen seiner Schriften in seine Überlegungen zur psychischen Bedeutung des Primärobjekts für den Säugling mit ein (Winnicott, 1965, S. 71, 89, 108, 114, 125). Er sieht bei dem durchschnittlich begabten Vater dieselben sensiblen und intuitiven Fähigkeiten, bezogen auf das Kind, wie bei der "hinreichend guten" Mutter. Er schließt deshalb nicht aus, dass auch der Vater (oder Dritte) das Primärobjekt für das Kind sein könnten, doch kannte er offenbar aus seiner Tätigkeit als Kinderarzt und Psychoanalytiker keine Kleinstkinder, die vom Vater allein oder wirklich paritätisch mit der Mutter großgezogen wurden.

Winnicott (1988, S. 165) macht aber kein Hehl daraus, dass er die Mutter, die gerne für den Säugling sorgt, als Primärobjekt bevorzugt, allein schon aufgrund der frühen psycho-physischen Verbundenheit der Mutter mit ihrem Baby. Aus der Sicht Winnicotts ist der Vater, der ebenso wie die Mutter über empathische Fähigkeiten, bezogen auf den Säugling, verfügt, im optimalen Fall von Anfang an dabei (Winnicott, 1965, S. 125). Indem er in einer libidinösen Beziehung zu seiner Frau steht, unterstützt er sie in ihren psychischen Möglichkeiten, sich in der benötigten Weise dem Säugling zuzuwenden. Die Mutter-Kind-Dyade Winnicotts sollte insofern als metaphorischer Begriff verstanden werden, als sie eine Beziehung beschreibt, innerhalb welcher das Kind das Primärobjekt in der Phase der absoluten Abhängigkeit ganz im Sinne seiner frühen Bedürftigkeit als "subjektives Objekt" und nicht in seiner Abgegrenztheit und in seinen individuellen Eigenschaften braucht. Das Primärobjekt stellt seinerseits vorübergehend eigene Interessen weitgehend zurück, um sich der Bedürftigkeit des Kindes nach Halt, Nahrung, Reizschutz, Körperpflege, Körperkontakt und emotionaler Zuwendung über die Einfühlung zuzuwenden. In der direkten Interaktion mit dem Baby, das seine Objekte in der frühen Phase als subjektive benötigt, sind deshalb auch vom Vater "mütterliche" Fähigkeiten gefordert, wenn damit die empathische Wahrnehmung dessen, was das Kind braucht, gemeint ist. Der Vater als Vater mit spezifischen "männlichen" Eigenschaften kommt nach Winnicott später dazu, wird also mit diesen "männlichen" Eigenschaften erst später zum entwicklungsrelevanten Objekt. Winnicott (1971, S. 147) stand dem Symbiosebegriff Mahlers skeptisch gegenüber, weil er ihm zu biologistisch erschien. Symbiose impliziert Austausch zwischen den Symbiosepartnern. Er fragte sich, was denn in dieser frühen Phase ausgetauscht würde, und betonte stattdessen die primäre absolute psycho-physische Abhängigkeit des Neugeborenen von der Mutter (oder einem Mutterersatz) und deren relative psychophysische Abhängigkeit von dem Kind.

Schwere Fehlentwicklungen, wie die späteren Borderline-Persönlichkeiten mit ihrer lebenslänglichen existenziellen Abhängigkeit von äußeren Objekten als Schutz vor Fragmentierung des Selbst, sah Winnicott im Kontext früher Störungen im Bereich der Dyade. Der Säugling andererseits, der sein Primärobjekt in ausreichender Weise als subjektives nutzen kann, bildet Urvertrauen (Erikson) in seine Umwelt aus im Sinne des von Winnicott so benannten gesunden "Omnipotenzerlebens": Der Säugling "schafft sich die Mutter", indem sein Schrei die Mutter herbeiholt und sein Hunger die Milch fließen lässt. Die Dyade Winnicotts wird nicht gut genug verstanden, wenn sie - in Anlehnung an Mahlers Symbiosekonzept - nur als Ort der archaischen, passiven Bedürfnisbefriedigung und frühen Verschmelzung gesehen wird. Sie stellt vielmehr eine frühe Beziehungsform dar, innerhalb welcher der Säugling das Primärobjekt als subjektives nutzt und dadurch seine Erfahrungen mit diesem als von ihm geschaffene Erfahrungen erleben kann (Tenbrink, 2000, S. 751). Im Einklang mit seiner allmählichen Reifung stimmt die hinreichend gute ("good-enough") Mutter ihre Zuwendung auf die gewachsene Fähigkeit des Babys, kleine Aufschübe oder kurze Abwesenheiten des Primärobjekts zu ertragen, intuitiv ab. Sie relativiert dadurch sein Omnipotenzerleben und tritt deutlicher als "objektives Objekt" in Erscheinung, dies allerdings in allmählicher, nicht zu harter Weise. Die Fähigkeit des Kindes, "Innen" und "Außen" zu unterscheiden, kann sich jetzt entwickeln. Die Bildung einer psychischen "Haut" zwischen Baby und Mutter und die Entwicklung eines Kernselbst beim Säugling in der Phase der absoluten Abhängigkeit sieht Winnicott behindert durch ständig grob unempathisches, für den Säugling unpassendes Reagieren des Primärobjekts auf seine "Gesten"; oder durch perfektionistische Primärobjekte, die immer schon wissen, was das Kind braucht, bevor es sich geäußert hat. Die Abwehrvorgänge, mit denen das Kind sein auf diese Weise bedrohtes Kernselbst schützt, sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter besprochen werden. (In diesem Zusammenhang sei auf W. R. D. Fairbairn, 1944, 1946, S. 115–171, hingewiesen.) Im günstigen Fall entwickelt sich ein Kind, das seine Eltern ambivalent besetzen kann, das heißt, Liebe und Hass erlebt, ohne dadurch fürchten zu müssen, die Eltern zu zerstören oder zu verlieren.

Mit der kognitiven und emotionalen Reifung wächst die Fähigkeit des Babys, die unterschiedlichen äußeren Objekte zu verinnerlichen und in entwicklungsrelevanter Weise psychisch zu nutzen. Damit wächst die intrapsychische und intersubjektive Bedeutung des Vaters, der im optimalen Fall von Anfang an dabei war, für das Kleinkind (Stichwörter: Unterstützung und Ausgleich der präödipalen Mutter, frühe Geschlechtsdifferenzierung). Diese psychische Fähigkeit zur Triangulierung, also die Möglichkeit, mehrere wichtige Personen zu verinnerlichen, die untereinander und mit dem Kind in Beziehung stehen, ergibt sich für Winnicott erst aus der einigermaßen glücklich durchlaufenen dyadischen Phase, die zu der Entwicklung eines metaphorischen intersubjektiven Raums, des Übergangsraums, geführt hat. Hier findet erster symbolisierter, kreativer Austausch zwischen objektiven Objekten statt. Übergangsobjekte (Kuscheltiere, Schmusedecken) beinhalten das Selbst des Kindes und das Selbst des Primärobjekts und dienen der Bewältigung von Trennungsangst. Das Kind entwickelt jetzt die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen über die vorübergehende unbewusste Identifizierung mit ihnen. Es bildet die "Fähigkeit zur Besorgnis" aus als Grundlage späterer zufriedenstellender und stabiler Beziehungen, in denen "Tiefe" möglich wird. Die wichtigen Menschen werden jetzt zunehmend in ihrer Eigenart erkannt und als objektive Objekte intrapsychisch genutzt. (...)

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