Mario Vargas Llosa: "Die Welt des Juan Carlos Onetti"
Ein Essay
Über
die Wahrheit der literarischen Lüge
Schon 1967 hat Mario Vargas Llosa öffentlich darauf
hingewiesen, dass Juan Carlos Onetti einer der wichtigsten
Einflüsse, dass Juan Carlos Onetti so etwas wie eine
literarische Vaterfigur für ihn sei.
Auch Gabriel García Márquez und
Carlos
Fuentes haben immer wieder auf die Wichtigkeit der Prosa Juan
Carlos
Onettis hingewiesen.
Im deutschsprachigen Raum konnte sich Juan Carlos Onetti leider nie
wirklich durchsetzen, seine bei Suhrkamp verlegten Romane und
Erzählungen sind großteils vergriffen und nur
über Antiquariate und Restpostenbuchläden
erhältlich.
Zum hundertsten Geburtstag bemüht sich Suhrkamp jetzt um eine
größere Rezeption dieses wichtigen Oeuvres mit der
deutschen Erstveröffentlichung von Juan Carlos Onettis drittem
Roman "Für diese Nacht", eines weiteren Bandes in der
Gesamtausgabe und einem essayistischen Buch über die wunderbar
magisch lügenhaft literarische Welt des Juan Carlos Onetti von
Mario Vargas Llosa.
Schon in Mario Vargas Llosas Einführung wird klar, wie
tiefgehend und bewundernd er sich mit dem Schaffen des
am 1. Juli 1909 in Montevideo geborenen Onetti beschäftig hat,
indem er auf das in Onettis Schaffen fast durchgehend anwesende
ambivalente Verhältnis zwischen Lüge und
Realität eingeht, es ausgehend von seinem eigenen Roman "Der
Geschichtenerzähler" und einer sich darauf beziehenden
Geschichte durchleuchtet und somit eine brillante Ouvertüre
für die folgenden Kapitel komponiert.
"Eines ist jedenfalls universell bekannt: die Fiktion, diese
andere Wirklichkeit, die der Mensch ausgehend von seiner
Lebenserfahrung erfindet und mit dem Treibmittel seiner
unerfüllten Wünsche und seiner Imagination versieht,
begleitet uns wie ein Schutzengel, seit wir in den Tiefen der
Vorgeschichte den gewundenen Pfad betraten, der uns im Laufe der
Jahrtausende dazu brachte, zum
Mond zu fliegen,
das
Atom zu beherrschen
und unglaubliche Entdeckungen auf dem Gebiet des Wissens und der
Zerstörungsgewalt zu machen, Menschenrechte,
Freiheit
und das
autonome Individuum zu proklamieren. Wahrscheinlich wäre keine
dieser Entdeckungen und Fortschritte möglich gewesen,
hätten Millionen Jahre zuvor unsere Vorfahren aus der
Steinzeit sich nicht nachts wärmesuchend aneinandergepresst
und
zu
fabulieren
begonnen, um, bevor der Schlaf sie
überkam,
im Geiste in eine andere Welt zu reisen, in ein leichteres, weniger
gefährliches, beglückenderes Leben."
Systematisch geht Mario Vargas Llosa vor; er beginnt bei Juan Carlos
Onettis erstem Roman "Der Schacht" (1939) und führt, die
Entwicklung der imaginären Stadt Santa María
verfolgend (die sich durch fast alle Romane Onettis zieht), bis zum
letzten Roman aus der Feder Onettis, "Wenn es nicht mehr wichtig ist"
(1993).
Er analysiert die stilistische Entwicklung Onettis in diesen 54 Jahren
schriftstellerischer Tätigkeit, scheut nicht vor einer
behutsamen Beleuchtung des doch sehr turbulenten Privatlebens des
mehrfach verheirateten und einmal aus politischen Gründen
inhaftierten Onetti zurück und zeigt die Einflüsse
William Faulkners,
Louis
Ferdinand
Célines und (wenn auch sehr
ambivalent)
Jorge
Luis Borges' auf.
Er beschäftigt sich mit dem Schaffen Onettis unter
Berücksichtigung der Entwicklung Uruguays, vom
südamerikanischen Vorzeigeland schlechthin, zu einem Land der
politischen Unterentwicklung bzw. zu einer Art
uruguayischen Dekadenz, im Gesamtbild Lateinamerikas. Nur so
lässt sich die Entwicklung von Juan Carlos Onettis
erträumter Stadt Santa María erklären,
deren eine (durch einen Fluss von der anderen Stadthälfte
abgetrennte) dekadente Hälfte deutlich an Montevideo angelehnt
zu sein scheint. Auch Onettis männliche und weibliche Figuren
sind von einer traumwandlerisch sicheren Neigung zur
Selbstzerstörung, von einem durch Sex und Alkohol inspirierten
Verschwinden in das imaginäre Reich der Fantasie gezeichnet.
Figuren, die Antonio Muñoz Molina treffend als "die
friedliebendsten, faulsten und nutzlosesten der Welt"
bezeichnet hat. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist Onettis
Meisterwerk "Das kurze Leben" (1950).
Vargas Llosa beschriebt die Grundidee wie folgt: "Während
Juan María Brausen in Buenos Aires eine düstere
Existenz lebt, seiner Frau Getrudis wurde eine Brust abgenommen, er
selbst ist kurz davor, aus der Werbeagentur, in der er arbeitet,
entlassen zu werden -, erfindet er bei seinen vergeblichen
Bemühungen, ein Drehbuch für Julio Stein zu
schreiben, die Stadt Santa María und eine Reihe von Figuren,
für die er selbst und einige ihm nahe stehende Personen Modell
stehen. Diese Stadt entspringt also einem literarisch-filmischen
Projekt im Kopf des von Gertrudis' Operation gequälten
Brausen, der sich genötigt sieht, die ihm anvertraute Arbeit
voranzubringen ... Dennoch wird aus dieser Idee keine Literatur, denn
Brausen wird das Drehbuch für Julio Stein niemals schreiben.
Die Idee wird unabhängig von ihrem Ursprung und ihrem
Schöpfer eine eigene imaginäre Existenz
führen, losgelöst sogar von ihrem Vermittler, als
eine autonome Realität ... Brausen wird kein Drehbuch
schreiben, und Santa María wird ihn nicht mehr brauchen, um
seine eigene Geschichte zu leben und die andere - reale - Geschichte
zu
verschlingen und zu ersetzen, in der es geboren wurde ... "
Mario Vargas Llosas genau recherchiertes und geistreich formuliertes
Buch ist eine wunderbare Einführung in die Gegenwelt, in die
Nebenwelt, in die Fantasiewelt der kaputten Männer und Frauen,
der Prostituierten, der Alkoholiker, der Zuhälter und anderen
dekadenten Persönlichkeiten, sowie dem sich deutlich von
Faulkners Yoknapatawpha County und
García Márquez' Macondo
unterscheidenden Santa María.
Eine überzeugende literarische Einführung in ein
großes Gesamtwerk, dem zu wünschen wäre,
auch in unserem Sprachkreis die ihm gebührende Anerkennung zu
ernten, die es in Lateinamerika hat. Mario Vargas Llosas "Die Welt des
Juan Carlos Onetti" sollte auch jene Leser, die sich noch nie auf eine
literarische Reise nach Santa María begeben haben, dazu
inspirieren, den Weg über die Erzählungen und Romane
Juan Carlos Onettis zu nehmen und diese einzigartige Reise zu
genießen.
(Roland Freisitzer; 07/2009)
Mario
Vargas Llosa: "Die Welt des Juan
Carlos Onetti. Ein Essay"
(Originaltitel "El viaje a la Ficción. El mundo de Juan
Carlos Onetti")
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Suhrkamp, 2009. 221 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Lien:
https://www.onetti.net/
Weitere Buchtipps:
Juan Carlos Onetti: "Für diese Nacht"
Eine Hafenstadt
im
Bürgerkrieg, die Sache ist entschieden, in
dieser Nacht wird abgerechnet. Einem, der verloren hat, folgt Juan
Carlos Onetti auf seiner Suche nach einem Schlupfloch. Noch
während er darauf aus ist, die eigene Haut zu retten, sieht er
sich genötigt, die Tochter eines früheren politischen
Gefährten und jetzigen Widersachers vor dem sicheren Tod zu
bewahren. Und ein Anderer, der ihm auf den Fersen ist und sich als
Sieger wähnt, muss erkennen, dass er das Spiel nicht bis zum
letzten Zug durchschaut.
In seiner literarischen Auseinandersetzung mit dem Krieg wagt Onetti
den Blick auf einen Menschen, der sich unausweichlich und wissentlich
auf sein Ende zu bewegt, dem alle Fundamente von Überzeugung
und Moral
weggebrochen sind, dem jede Begegnung mit einstigen
Weggefährten zu Farce oder Bluff gerät.
"Für diese Nacht", Juan Carlos Onettis Roman aus dem Jahr
1943, ist bedrängend dicht in seiner Schilderung. Durch seine
radikale Vorurteilsfreiheit und die mittlerweile berühmte
sprachliche Präzision des Autors entfaltet der Roman einen
außergewöhnlichen Sog. (Suhrkamp) zur
Rezension ...
Buch
bei amazon.de bestellen
Juan
Carlos Onetti: "Gesammelte Werke Band 1. Der Schacht. Niemandsland.
Für
diese Nacht."
Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Jürgen
Dormagen und
Sabine Giersberg. Mit
einem Nachwort von Gerhard Poppenberg. Mit einer Zeittafel zum Leben
des Autors.
Am Anfang steht sein ruppiger Erstling "Der Schacht" von 1939 - ein
unausschöpflicher, immer neu zu lesender Text. Daneben
enthält der Band die
beiden bislang noch nie auf deutsch erschienenen frühen Romane
"Niemandsland"
(1941) und "Für diese Nacht" (1943).
"Niemandsland" erzählt von einer lose verbundenen Clique mit
sich überkreuzenden
erotischen Beziehungen: ein Maler, ein Schriftsteller, ein Anwalt, ein
linksrevolutionärer Gewerkschafter, der Zuhälter
Larsen, ein junges Mädchen,
die Frau mit dem gelben Haar, eine Prostituierte - nicht das
Gefüge der
Handlung, sondern wie Onetti die Lebenswünsche und die
Lebenslügen
all dieser
Personen evoziert, macht die Intensität des Romans aus.
"Für diese Nacht" von 1943 erzählt vor dem
Hintergrund einer
Hafenstadt im Bürgerkrieg davon, wie ein Mann in dem von ihm
als vergeblich
gewussten Versuch, vor seinen politischen Gegnern aus der Stadt zu
flüchten,
durch die Nacht hetzt. Ein Roman, der etwas von der schwarzen Serie der
Kriminalromane der frühen 1940er-Jahre hat: ein Effekt, der
bei Onetti naturgemäß
von existenzieller Eindringlichkeit ist. Unter dem Titel "Une nuit de
chien" wurde der Roman von Werner Schroeter verfilmt. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Juan
Carlos Onetti: "Gesammelte Werke Band 2. Das kurze Leben. Abschiede.
Für
ein Grab ohne Namen."
Herausgegeben und Überarbeitung der Übersetzungen von
Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg.
Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg. Mit einer Zeittafel zum
Leben des
Autors.
"La vie est brève": Chansonweisheit,
nächtlich gesungen im
Salon der Señora Mami in Buenos Aires. Doch "man
kann viele Male leben,
viele mehr oder minder lange Leben". Juan María
Brausen,
illusionsloser Texter in einer Werbeagentur, macht nach einer schweren
Operation
seiner Frau die Erfahrung, dass er nicht zu einer einzigen Existenz
verurteilt
ist. Hinter der dünnen Wand der Nachbarwohnung hört
er die Lebensäußerungen
der Prostituierten Queca, und in Gedanken wird er zu Juan
María Arce, ihrem
brutalen Geliebten. Zugleich fantasiert er sich in die Gestalt des
Arztes Díaz
Grey, Hauptfigur eines Drehbuchs, an dem er schreibt. Als die Queca von
ihrem
Zuhälter ermordet wird, identifiziert Brausen sich mit dem
Mörder und flieht,
als Juan María Arce, nach Santa María, in die von
ihm entworfene Stadt, wo
sich sein Weg mit dem von Díaz Grey kreuzt.
"Das kurze Leben", 1950 erschienen, hat Onettis Ruhm
begründet: ein
herausforderndes, ebenso faszinierendes wie hartes Stück
Literatur.
Noch stärker verdichtet, enigmatisch bei erster
Lektüre und immer leuchtender
beim Wiederlesen, sind Onettis Kurzromane "Abschiede" und "Für
ein Grab ohne Namen" von 1954 und 1959.
Die Übersetzungen von Curt Meyer-Clason und
Wilhelm
Muster
wurden von den
Herausgebern für diese Ausgabe Satz für Satz
revidiert, so dass Onetti, dieser
nur scheinbar dunkle Jahrhundertautor, ganz neu zu lesen ist. Der Band
enthält
einen ausführlichen Anhang mit Anmerkungen, Zeittafel,
Bibliografie und
Nachwort. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Juan
Carlos Onetti: "Gesammelte Werke Band 3. Leichensammler. Die Werft."
Aus dem Spanischen von Anneliese Botond. Die Werft. Aus dem Spanischen
von Curt
Meyer-Clason.
Mit wenigen Strichen eine Gestalt in ihrer widersprüchlichen
persönlichen
Wahrheit hervortreten zu lassen, eine Konstellation zweier Menschen wie
eingeätzt
zu umreißen, herausgelöst aus allen vorgegebenen
Mustern: diese Kunst Onettis
(1909-1994) ist oft bewundert worden.
Sein Rang erweist sich nicht zuletzt darin, dass seine Prosa im
Wiederlesen
immer gegenwärtiger ist, weil sie unmittelbar mit der
schmerzhaften, unsauberen
Erfahrung des Lebens verbunden bleibt; seine Romane und
Erzählungen entfalten
sich dabei in ihrer Vielschichtigkeit, ohne das Geheimnis ihrer Wirkung
ganz
preiszugeben.
In gründlich revidierten Übersetzungen und zum Teil
erstmals auf Deutsch
bietet die Werkausgabe sämtliche vollendeten Romane und
Erzählungen Onettis,
zusammen mit Anmerkungen und Nachworten der Herausgeber. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Juan
Carlos Onetti: "Willkommen, Bob.
Gesammelte Erzählungen"
Aus dem Spanischen von Jürgen Dormagen, Wilhelm Muster
und Gerhard Poppenberg.
Zu dem Direktor einer heruntergekommenen Theatertruppe in einer
argentinischen
Provinzstadt kommt eine Frau, nicht mehr jung, aber merkwürdig
zeitlos
gekleidet und frisiert, und bittet ihn, ein Stück von ihr
aufzuführen. Der
routinierte Theatermann glaubt zu verstehen: eine Dilettantin, die
rasch
abzufertigen ist. Aber die Frau insistiert, es gehe nicht um Literatur,
sagt
sie, sie brauche kein Publikum. Einen Titel hat das nicht
aufgeschriebene Stück
auch, "Ein verwirklichter Traum". - Die kleine
Szene, die dann
improvisiert wird, scheint nichts Anderes zu sein als das, ein
glücklicher
Traum einer Frau; aber was dort in wenigen Augenblicken auf der
Bühne
geschieht, sprengt die Vorstellungen von Glück und
Unglück und übersteigt
alles Begreifen des erfahrenen Theatermanns. Davon muss er
erzählen.
Mit wenigen Strichen eine Gestalt in ihrer widersprüchlichen
persönlichen
Wahrheit hervortreten zu lassen, eine Konstellation zweier Menschen wie
eingeätzt
zu umreißen, herausgelöst aus allen vorgegebenen
Mustern: diese Kunst Onettis,
seine an William Faulkner geschulte atmosphärische
Präsenz, ist oft bewundert
worden. Heute, wo sein Lebenswerk vorliegt, ist deutlicher zu sehen,
dass er
einer der großen Erzähler des 20. Jahrhunderts ist,
dessen Rang vielleicht am
klarsten damit benannt ist, dass er die literarische Moderne und die
Brüchigkeit
der Formen nicht noch einmal nachvollzieht, sondern erzählend
hinter sich lässt.
Onettis Geschichten können immer wieder gelesen werden; sie
entfalten sich
dabei in ihrer Vielschichtigkeit, ohne das Geheimnis ihrer Wirkung ganz
preiszugeben. Die Geschichten des Uruguayers, dessen Gestalt
früh zur Legende
wurde, scheinen einer umfassenden Schwärze abgewonnen. Die
Themen jedenfalls
sind zumeist auf der Nachtseite zu finden:
Liebe
und
Sexualität in ihren
dunklen, unglücklichen Formen, unentrinnbare Einsamkeit von
Mann und Frau,
Scheitern als Grundform der menschlichen Existenz. Und doch ist seine
Prosa überaus
dicht an Glücksmomenten ganz eigener Art: den Augenblicken
sinnlich erfahrbarer
Erkenntnis, die verknüpft bleibt mit der schmerzhaften,
unsauberen Erfahrung
des Lebens.
Neben seinen berühmtesten Erzählungen
enthält der vorliegende Band in
deutscher Erstübersetzung sieben Geschichten aus den 1940er-
und frühen
50er-Jahren sowie zahlreiche Erzählungen und Skizzen, die seit
den
1970er-Jahren und bis kurz vor seinem Tod entstanden sind. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen