Viktor Timtschenko: "Ukraine"
Einblicke in den neuen Osten Europas
Geschichte, Kultur und Wirtschaft eines im Westen wenig beachteten,
zutiefst europäischen Landes
Es soll in Deutschland Menschen geben, die keine Ahnung haben, wo die
Ukraine liegt - weiß Viktor Timtschenko, aus ebendieser Ukraine
gebürtiger, heute in Deutschland lebender Journalist. Erst recht
kennt man Land und Leute nicht. Das sollte man aber, wie der Autor des
hier besprochenen Buchs meint. Und er vermag die Ukraine solcherart zu
porträtieren, dass man ihm recht gibt.
Der Leser erfährt pauschal über Leben und Lebensart in der
Ukraine, wobei zwischen den Großstädten und der Provinz zu
unterscheiden ist, über die bewegte Geschichte, insbesondere die
Konflikte mit den russischen "Brüdern", über die ukrainische
Entsprechung der Berliner "Love Parade"
und die Eigenheiten der ukrainischen Sprache und Schrift, die er nach
der Lektüre nie mehr mit der russischen gleichsetzen oder
verwechseln wird.
Nebst Kultur spielt auch die jüngere Geschichte immer wieder eine
große Rolle, etwa die "Revolution in Orange", dank derer die
Ukraine zum ersten Mal nach ihrer Abspaltung von der Sowjetunion
beziehungsweise
Russland ins Bewusstsein Westeuropas rückte, den äußerst widersprüchlichen, zum Teil noch heute
ungeklärten Krimi um Juschtschenko und seine Dioxin-Vergiftung inklusive, der
Umgang mit dem Holocaust - Babi Jar, eine der entsetzlichsten
Massentötungsstätten, liegt auf ukrainischem Gebiet -,
Stalins
Kampagne gegen die ukrainischen Bauern mit Millionen Verhungerten und
nicht zuletzt Tschernobyl, auf Ukrainisch Tschornobyl; wer sich nicht
bereits anderweitig über den menschenverachtenden Umgang der
sowjetischen Behörden mit dieser Katastrophe befasst hat,
dürfte schockiert sein.
Auch neueste Entwicklungen, etwa, wie die Neureichen in der Ukraine zu
ihrem Geld gekommen sind, sowie Kulinarisches werden porträtiert.
Humor, nicht selten pechschwarzer Färbung, und Sachlichkeit stehen
in diesem Buch unmittelbar nebeneinander. Denn manche Aspekte lassen
sich nur amüsiert und bissig schildern, andere sind so
erschütternd, dass sie keiner Ausschmückung bedürfen.
Hierzu gehören unter anderem Tschornobyl, Babi Jar (Babyn Jar) und
die rund fünf Millionen verhungerten ukrainischen Bauern in den
frühen 1930er-Jahren.
Die Vorgänge um Juschtschenko im Rahmen der Revolution in Orange und so
manche weitere Praxis haben das Zeug zum Krimi, andere Kapitel wirken ganz
einfach unterhaltsam und dennoch informativ, etwa, wenn es um Kulturelles geht.
Kann man dem schwer Erträglichen oder Untragbaren nur durch
Zynismus begegnen, so greift der Autor gern auf original ukrainische
Witze zurück, die mit ihren sarkastischen Pointen den Nagel stets
auf den Kopf treffen.
Viktor Timtschenko ist kein ukrainischer
Wladimir Kaminer,
auch wenn er es an Witz und Originalität durchaus mit diesem
aufnehmen kann. Ihm geht nicht zuletzt darum, auch Schattenseiten der
Ukraine aufzuzeigen. Dass der Tourist sich in der Ukraine sicher
fühlen kann, steht nach der Lektüre dennoch nicht zur Debatte
- und darum geht es dem Autor: Er möchte neugierig machen auf sein
Land, jene neue, noch störungsanfällige Demokratie im
äußersten Osten Europas, die sich so europäisch
fühlt und doch von Europa in Gestalt der EU regelmäßig
im Stich gelassen wird. Wer Lust auf eine Reise in die Ukraine bekommen
hat, findet entsprechende Informationen im Anhang.
Ein spannendes, sehr informatives, an keiner Stelle langweiliges Buch, das in
Kurzform einen Überblick über ukrainische Geschichte, Kultur und Wirtschaft
vermittelt.
(Regina Károlyi; 05/2009)
Viktor Timtschenko: "Ukraine. Einblicke in den neuen Osten Europas"
Ch. Links Verlag, 2009. 224 Seiten.
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Viktor Timtschenko: Jahrgang
1953, Studium der Journalistik und Wirtschaftswissenschaft in Kiew und München,
Redakteur bei verschiedenen Kiewer Zeitungen und Zeitschriften, 1975 Ehe mit
einer deutschen Frau, drei Kinder, 1990 Umsiedlung nach Deutschland,
Wirtschaftsredakteur bei einer Leipziger Zeitung, Redakteur des Auslandssenders
"Deutsche Welle" in Köln und Bonn, lebt als freischaffender Autor bei
Leipzig, zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Weitere Buchtipps:
Steffen Höhne, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): "Wo
liegt die Ukraine? Standortbestimmung einer europäischen
Kultur"
In den Debatten über die kulturelle Identität Europas oder die Grenzen der
Europäischen Union gehört die Frage, wo die postrevolutionäre und postsozialistische
Ukraine zu verorten sei, zu den heißen Eisen. Auch innerhalb des Landes ist die
Frage nach der nationalen Einheit und Identität ein Dauerthema der innen- und
kulturpolitischen Debatten. Bei einer vorurteilsfreien Betrachtung wird schnell
deutlich, dass die heutige Ukraine neue kulturelle und literarische Formen
aufweist, die sich kaum auf die Rolle des Epigonalen reduzieren oder als letzte
Ausfaltung eines großen Erbes lesen lassen. Die Beiträge des Bandes entwickeln
einen differenzierten Blick auf den angeblichen "Rand" Europas, der
auch den Blick einschließt, mit dem man von dort aus nach Europa schaut. (Böhlau)
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Juri
Andruchowytsch: "Das letzte Territorium. Essays"
Die Ukraine, der zweitgrößte europäische Staat, ist auf unserer literarischen
Landkarte nicht einmal in Umrissen vorhanden. Juri Andruchowytsch nimmt die
begrenzten Kenntnisse seines Publikums in Westeuropa und anderswo ernst und
bringt ihm in einer Reihe von Essays diese unbekannte Region nahe. Jeder, der
einmal die westliche Staatsgrenze der Ukraine überquert hat, erfährt, dass
hier auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer eine Trennlinie verläuft:
"zwischen Europa und etwas Anderem". Erfrischend im Ton, farbig
im Detail und voller Ironie beschreibt er die postsowjetische Realität seines
Landes: Lemberg und Kiew, Spuren des untergegangenen
Galiziens und die
Katastrophe von Tschernobyl, aber auch die sonderbare Existenz von Künstlern,
Schriftstellern und Intellektuellen in einem Land, "aus dem man weggeht".
(edition suhrkamp)
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Evelyn Scheer, Irina Serdyuk: "KulturSchock Ukraine"
Das plötzliche Erscheinen der Ukraine auf der Landkarte des modernen Europa kam
für den Westen völlig überraschend. Gehört diese terra incognita tatsächlich
zu Europa? Oder ist sie vielmehr in "Halbasien" gelegen? Sind die
Ukrainer unterwürfige Sowjetmenschen oder eher kriegerische Kosaken? Die
Ukraine ist der flächenmäßig größte Staat, der ganz zu Europa gehört, und
die Ukrainer sind eine der ältesten Nationen des Kontinents, die furchtlos und
selbstbewusst gegen die politische Bevormundung aufbegehrt und die Welt in
Erstaunen versetzt.
Inhalt: Ukrainische Geschichte: Rückkehr nach Europa; Der Glaube an "Väterchen"
Staat und ukrainischer Widerspruchsgeist; Multikulturelle Tradition: Ukrainer
und ethnische Minderheiten; Sprachen in der Ukraine: Ukrainisch, Russisch und
das Phänomen "Surzyk"; Die ukrainische Familie: Moderne Amazonen und
zerbrechliche Kosaken; Religiosität: Vielfalt der Konfessionen zwischen
Atheismus, Spiritualität und Aberglauben; Bitterarm und steinreich: Das
Wohlstandsgefälle; Raue Sitten: Ukrainisches Geschäftsleben; Essen und
Trinken: Speck, Horilka und andere Kräuterchen; Exportschlager "Ukrainer";
Der neue Chic der Revolution; Humor als wichtigste Überlebensstrategie: "Hände
hoch!" heißt "Herzlich willkommen!". (Reise Know-How Verlag Rump)
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