Lew Tolstoj: "Anna Karenina"


Die Geschichte der leidenschaftlichen Liebe zwischen einer verheirateten Frau und einem jungen Offizier im zaristischen Russland

Sehr häufig wird dieser Roman in einem Atemzug mit Fontanes "Effi Briest" und Flauberts "Madame Bovary" genannt. Was sicherlich auch damit zu tun hat, dass diese drei Titel sehr zeitnah zueinander veröffentlicht wurden und jeweils eine nach Freiheit strebende Frau im Titel führen. Doch an dieser Stelle sollte der Vergleich eigentlich schon aufhören.

"Anna Karenina" besteht sozusagen aus zwei große Romanen, die sich an verschiedenen Punkten berühren. Auf der einen Seite ist da die junge Anna Karenina, die gut verheiratet ist, einen Sohn hat und in der besseren russischen Gesellschaft als ein Muster an Güte und Tugend gilt.
Weil sie intelligent, charmant und gutaussehend ist, weckt sie bei vielen Frauen, deren Lebensumstände weniger untadelig sind, allerlei Eifersüchteleien. Als sie sich dann einen Liebhaber nimmt und dies herauskommt, ist folglich die Schadenfreude groß; und die Reaktion ihres Ehemannes ist genauso durchdacht und tugendhaft, wie für Anna verstörend, da sie ihr weiteres Leben klar einschränkt. Dies macht ihren für die damalige Zeit dann deutlich ungewöhnlichen Lebensentwurf für sie selbst, aber auch für ihren neuen Lebenspartner, sehr schwer erträglich und führt zu im Grunde vorhersehbaren Konsequenzen.

Der zweite große Handlungsstrang befasst sich mit Lewin, der allgemein als Spiegel der Person Tolstojs selbst gesehen wird. Er versucht einen großen landwirtschaftlichen Betrieb zu modernisieren, was im damaligen Russland gar nicht so einfach ist, und daneben auch ein guter Mensch zu sein, der allen wichtigen gesellschaftlichen Ansprüchen genügt. Dies ist aus verschiedenen Gründen überaus schwierig, denn ständig hinterfragt Lewin im Umgang mit seinen Untergebenen, seinen Verwandten und seinen Standesgenossen seine eigene Motivation und die Gesellschaft an sich, so dass er ein sehr unsteter und unruhiger Geist ist, bis ihm die Ehe mit der jungen Kitty und die Geburt seines ersten Kindes nachgerade die Erleuchtung bringen.

In "Anna Karenina" spannt Tolstoj einen sehr weiten thematischen Bogen und bringt alle wichtigen politischen sowie gesellschaftlichen Ereignisse im Russland der damaligen Zeit mit in die Handlung ein, ohne dass dies an irgendeiner Stelle aufgesetzt wirkt. Hier unterscheidet sich "Anna Karenina" bereits sehr deutlich von "Effi Briest", wo die Standesgrenzen nicht überschritten werden.

Psychologisch ist der Roman, auch nach heutigem Verständnis, erstaunlich, denn die meisten Charaktere hinterfragen sich selbst und ihre Motive unaufhörlich und sind sich selbst gegenüber manchmal in geradezu unwahrscheinlicher Art und Weise ehrlich, so dass der Leser ganz erstaunliche Einblicke in die innere Handlung erhält. Das hat kaum jemals ein Schriftsteller derart hervorragend hinbekommen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2009)


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