Stephan Thome: "Grenzgang"


Flucht vor der Einsamkeit oder sich halten an das, was man hat

"Man müsste einmal innehalten, (...) gar nichts tun und gemeinsam dem eigenen Leben zuschauen, als wäre es ein Film über Eingeborenenrituale in Papua-Neuguinea. Wer könnte sich dann noch ernst genug nehmen ..." Dieser Satz kurz vor dem Ende des für den "Deutschen Buchpreis" 2009 nominierten Romans "Grenzgang" von Stephan Thome sprang beim Lesen geradezu hervor. Denn der im Hessischen Biedenkopf geborene Autor, der mittlerweile in Taiwan lebt, erlaubt sich in seinem Debüt eben diesen ruhenden Blick aus der Ferne in seine ehemalige Heimat.

In gewisser Weise offenbaren seine Beobachtungen bzw. Erinnerungen durchaus diverse Eingeborenenrituale, nur finden diese nicht im Pazifik statt, sondern mitten in Deutschland. Aber "einsichaadig" sind sie allemal, um bei dem typischen Dialekt dieses Landstriches mit der ausgeprägten "binnenhochdeutschen Konsonantenschwächung" - einer Abneigung gegen t, p und k und einer Vorliebe für d, b, und g - zu bleiben. Oder vielleicht doch nicht? Könnte Thomes gewählter Ort nicht auch im Brandenburgischen, Sächsischen oder Bayerischen angesiedelt sein?

Der Autor nennt sein Städtchen Bergenstadt. Eine Assoziation mit seiner Heimat fällt durchaus leicht. Biedenkopf oder Bergenstadt, egal, beides Orte, wo "jeder jeden kennt und allen alles bekannt ist." Alle sieben Jahre feiert man hier "Grenzgang", "eine Tradition, in der sich die Verbundenheit ausdrückt zwischen gestern, heute und morgen, zwischen den Generationen, zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einer Generation und schließlich die Verbundenheit einer ganzen Gemeinde zu ihrer Heimat (...) worauf wir stolz sind", weiß der Bürgermeister zu verkünden.

Stille Beobachter in Randstellung
Doch nicht alle Mitglieder scheinen diesen Stolz in sich zu fühlen. "Was für ein Stolz war das? Worin bestand der Sinn für das Besondere? Und ob es sich lohnte, Teil dieser Gemeinschaft zu sein" ist zumindest für zwei Protagonisten manchmal mehr als fraglich. Beide haben ihre Zweifel an der Szenerie dörflichen Amüsements, in der sich ansonsten die Dinge zwischen den Grenzgangjahren kaum bewegen.

Das ist zum einen Kerstin Werner, keine Einheimische, sondern eine Roigschmeckte, eine Eingeheiratete, eine Fremde, die es in jungen Jahren in das hessische Nest verschlagen hat. Ende der 1980er-Jahre wird Kerstin, die in Köln Sport und Tanz studierte, von ihrer Freundin zu einem Grenzgangfest mitgenommen, verliebt sich in einen aufstrebenden, einheimischen Rechtsanwalt, heiratet, bekommt ein Kind und wird zehn Jahre später gegen eine jüngere Frau ausgetauscht. Nun sitzt sie, geschieden, mit einem in einer handfesten Pubertätskrise steckenden Sohn und ihrer demenzkranken Mutter, mit hart erkämpfter und leicht ramponierter Würde noch immer in Bergenstadt fest.

Zum Anderen trifft der Leser auf Thomas Weidmann, "ein Erstsemestler im Nebenfach Leben", ein ehemaliger Ausreißer aus Bergenstadt. Er hatte es aus der hessischen Tiefebene bis nach Berlin an die Humboldt-Universität geschafft, wo er beinahe Professor wurde. Aber eben nur beinahe. Jetzt ist er zurückgekehrt, ausgerechnet in jenen Ort, in dem er aufwuchs und dem er für immer den Rücken kehren wollte. Weidmann unterrichtet im heimischen Gymnasium und ist trotzdem nicht Teil der aller sieben Jahre brodelnden Suppe, sondern eher der stille Beobachter in Randstellung. "Die Bergenstädter Genügsamkeit, das Mostige - auch davon hatte der Bürgermeister am Marktplatz gesprochen, wenngleich in anderen Worten. Und er, Thomas Weidmann, war dem nie entkommen. Was damals in den ersten Berliner Jahren in ihm eher geglimmt als gebrannt hatte, war ein mit Bergenstädter Phlegma durchsetzter Ehrgeiz gewesen, der vor allem der Form genügen und sich ein gutes Gewissen für den Fall des Scheiterns erarbeiten wollte. Mehr nicht oder jedenfalls nicht viel mehr."

Kreuzungen in Raum und Zeit
Zwei vielversprechende Lebensentwürfe, zwei Biografien, die dann irgendwann um die Vierzig plötzlich steckengeblieben sind. Doch wo und wann hat sich ihrer beider Aussicht auf eine vielversprechende Zukunft in das verfehlte Leben der Gegenwart gewendet? Wieso ist von den hochstrebenden Zielen der Jugend kaum noch etwas übrig? Und warum breitet sich in der Mitte des Lebens so etwas wie Enttäuschung aus? Ist diese wirklich die notwendige Folge davon, "dass die Struktur unserer Bedürfnisse und die der Realität so ungeheuer schlecht aufeinander abgestimmt sind"? Stephan Thomes fulminanter und faszinierend erzählter Debütroman versucht in wechselnden Rückblenden der Frage nachzugehen, wie viel von dem, was wir tun, wir wirklich erklären können. "So, dass es nicht nur andere überzeugt, sondern auch uns selbst", wie Thomas Weidmann eben jene Kerstin Werner fragt, der er im Laufe des Romans näher kommen soll, bei der er "Asyl in der Verzögerung" sucht.

Thome schildert die Ereignisse von Bergenstadt nicht chronologisch, sondern springt gekonnt durch die Zeiten. Sein "Grenzgang", ein Homonym, ein Wort mit mehreren Bedeutungen, berichtet dem Leser in wechselnden Kapiteln aus jeweils drei Tagen des "Grenzgang"-Festes.
Insgesamt achtundzwanzig Jahre umspannt der raffiniert konstruierte Roman. Zwei Lebensgeschichten werden in feingliedrigen Episoden mit viel Tiefenschärfe in einfachen Sätzen und knappen Dialogen sowie mit wunderbaren Nebendarstellern vor dem Leser ausgebreitet. Der weiteste Blick in die Vergangenheit liegt im Jahre 1985, der jüngste im Jahre 2006. Sogar einen Ausblick in die Zukunft des Jahres 2013 gewährt der Autor. Was sich in den jeweils sieben Jahren zwischen den Festlichkeiten ereignet, erfährt man ausschließlich anhand der Erinnerungen der Protagonisten. Stephan Thome gelingt es dabei grandios, mit wenigen Worten und einer stark begrenzten Handlungsdeskription die seelische Verfassung seiner Personen einzufangen, unaufgeregt und sensibel, aber authentisch und nachhaltig und vor allem mit erstaunlichen Kenntnissen der weiblichen Psyche.

Und wenn man am Ende, im Epilog, der zum "Grenzgang" ins Fußball-WM-Jahr 2006 zurückführt, die nachfolgende Passage liest, dann hat Stephan Thome mit diesen Sätzen auch die Grundstruktur des ganzen Romans umrissen: "Das hier mag der Anfang oder das Ende sein, der Aufbruch oder das Ziel. Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal. (...) Was es allenfalls gibt, sind Kreuzungen in Raum und Zeit, und wenn man dort steht, sieht man einen Moment lang alles: die Wege, die man gegangen ist, die anderen, die man hätte gehen können, und die ganz anderen, an die man nie gedacht hat."

Trotz des pessimistischen und stillen Grundtons gelingt Thome mit seinem Roman ein fesselnder und vor allem realistisch-präziser, vertrauter und äußerst reflektierender Blick in die deutsche Provinz. Das Buch offenbart einen Grenzgang "auf dem schmalen Grat zwischen Resignation und Euphorie" und entwirft ein alles Andere als langweiliges und unspektakuläres Zeitbild der vergangenen zwei Jahrzehnte. "Grenzgang" ist ein interessantes, souverän geschriebenes und wirklich lesenswertes Buch.

"Glück war ein zu großes Wort und Gleichgültigkeit ein zu kleines, aber irgendwo dazwischen lag das Gefühl - eine Leichtigkeit, die sich nicht fassen ließ." (Auszug aus "Grenzgang")

(Heike Geilen; 10/2009)


Stephan Thome: "Grenzgang"
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2009. 454 Seiten.
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Taschenbuch:
Suhrkamp, 2010.
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Digitalbuch:
Suhrkamp, 2010.
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Stephan Thome wurde 1972 in Biedenkopf/Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. Von 2005 bis 2011 arbeitete er in Taipeh als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur modernen Philosophie Chinas.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Gegenspiel" 
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"Gott der Barbaren" zur Rezension ...

"Fliehkräfte"
Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig und hat alles erreicht, was er sich gewünscht hat: Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Als ihm überraschend das Angebot zu einem Berufswechsel gemacht wird, will er endlich Klarheit: über das Verhältnis zu seiner Tochter, über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind.
Mit atemberaubendem Gespür für die Niederlage, für das, was wirklich schmerzt, schickt Thome seinen Helden auf eine alles entscheidende Reise. Über Frankreich und Spanien führt sie ihn bis nach Lissabon und zugleich in die Vergangenheit, ganz nah heran an die Verwerfungen und Abgründe des gelebten Lebens. (Suhrkamp)
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