Botho Strauß: "Mikado"


Geschichten von Suchenden und Wartenden

"Wenn man es ganz ins Enge treibt und alles Überflüssige wegnimmt, so bleiben am Ende nur zwei Grundformen des menschlichen Daseins: die Suche und das Warten." Dieses Zitat aus der Geschichte "Der Fremde" könnte als Leitmotiv stehen, das sich in zahlreichen Erzählungen dieses Bandes wiederfindet. Und was steht am Ende all dieses Wartens, dieses Suchens? "Rings um mich geht alles zu. Ein Buch, ein Haus, ein Mensch nach dem anderen verschließen sich mir. Ein Tor nach dem anderen fällt ins Schloss." (Das sind die letzten Sätze der Geschichte "Messer und Gabel"). 41 Geschichten, exakt die Anzahl der Stäbe eines Mikado-Spieles, präsentieren sich dem Leser dieses Buches. Sie handeln vom Mit- und Gegeneinander der Menschen, von Berührungen, Komplikationen, Zwängen und auch immer wieder vom Warten und Suchen. Die Alltagssituationen, die hier beschrieben werden, sind von der gleichen Instabilität wie die Stäbe des Mikado-Spieles, die durch den Wurf des Zufalls eine bestimmte Anordnung erfahren haben. Den Leser erwartet hier ein Sinn und Geist erfrischendes Potpourri subtil strukturierter Geschichten. Und diese kurzen Texte von Botho Strauß atmen eine sprachliche Souveränität, die nur aus dem Talent entspringen konnte. So etwas lässt sich weder erlernen noch erzwingen.

Täuschungen, Missverständnisse und Verwechslungen stören den Ablauf eines normalen Alltags der Protagonisten. Mehr noch, das Extraordinäre und das Banale erscheinen hier als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ja, vom Triumph der Zweideutigkeit gibt uns dieses Buch Kunde, und das auch ganz explizit und auf originelle Weise in der kurzen Erzählung, die den Titel "Würzburg" trägt. Immer wieder gerät die Welt aus den Fugen, die persönliche Alltagswelt eines jeden Menschen. Die Wahrnehmungen des Einen sind nicht mehr kongruent mit den Wahrnehmungen eines Anderen. Was aber lauert hinter der grauen Fassade des Alltags? Das Grauen? Was verbergen Menschen, die wir zu kennen glauben, in ihrem Innersten? Eine Umwertung der Dinge geschieht, etwas Anziehendes, Wunderbares kann schnell zum Zerstörerischen, Anarchischen werden. Nicht wenige Geschichten spielen im Theatermilieu. Stehen wir vielleicht alle nur als Marionetten auf einer Bühne, als Hampelmänner und -frauen, an denen ein unerkannter Puppenspieler die Fäden zieht? "... und ich handelte die ganze Zeit, als hätte ich die Bühne nicht verlassen." (Zitat aus "Die Gaukler") Wie eine kleine Lücke in einem ansonsten voll besetzten Theatersaal die Vorstellung von Ordnung untergraben kann, erfahren wir in der Erzählung "Die Lücke". Einer Liebe, die buchstäblich zum Steinerweichen taugt, begegnen wir in "Mauergeburt". Und was während eines langen Wartens passieren kann, wenn sich eine überbordende Fantasie des Menschen bemächtigt und an seinem bisherigen Selbstverständnis zu rütteln beginnt, das zeigt uns der Autor in "Minutio" auf.

Aber nicht nur die unter einer seltsamen Entfremdung leidenden Menschen, auch andere merkwürdige Wesen wie Firle oder Teppichgeister buhlen hier um die Aufmerksamkeit des Lesers. Einige der Geschichten weisen also auch fantastische Züge auf. Und groteske Zufälle bitten die Protagonisten zum Stelldichein. Es sind aber auch Zufälle, die das Schicksal einem jeden Menschen in das Leben würfeln könnte. Oder ist am Ende doch alles Bestimmung? Sich fremde, völlig unterschiedliche Menschen verschmelzen miteinander, während sich eng verbunden geglaubte trennen müssen. Am Schluss seiner Erzählung "Trias" fragt Botho Strauß: "Was sind wir?" Und die Antwort schickt er dann postwendend hinterher: "Nur ein Lichthieb durch Nacht und Nichts. Ein aufflammendes Vorbei." Bedauerlich für den Leser, dass die Lektüre dieses fantastischen Buches so schnell vorbei geht.

(Werner Fletcher; 07/2009)


Botho Strauß: "Mikado"
dtv, 2009. 176 Seiten.
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Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale als Sohn eines Lebensmittelberaters geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Remscheid und Bad Ems studierte er fünf Semester Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie in Köln und München. 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Zeitschrift "Theater heute". 1970-1975 dramaturgischer Mitarbeiter an der "Schaubühne am Hallischen Ufer" in Berlin. Botho Strauß ist Mitglied des "PEN"-Zentrums und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der "Jean-Paul-Preis" und 1989 der "Georg-Büchner-Preis" verliehen. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.