Kristín Steinsdóttir: "Eigene Wege"
Ein
Stück selbstständiger
Frauengeschichte
Es ist für mich eines der unbegreiflichsten und
erstaunlichsten Phänomene an
Island, wie ein doch kleines Land mit einer Einwohnerzahl von gerade
einmal 320
000 Menschen immer wieder, und das seit langer Zeit, Schriftsteller von
außerordentlicher
Qualität und Reife hervorbringt. Kristín
Steinsdóttir, eine 1946 geborene
Grund- und Gymnasiallehrerin, die seit 1988 auch als
Kinderbuchautorin
arbeitet (das erinnert ein wenig an die deutsche Schriftstellerin
Gudrun
Pausewang), hat mit "Eigene Wege" ihr zweites Buch für
Erwachsene
vorgelegt und damit in Nordeuropa einige Preise gewonnen.
Zu Recht, wie ich meine, denn der kleine Roman über eine arme
Witwe namens
Siegtrud aus Reykjavik, die über ihr Leben nachdenkt,
unspektakulär und
radikal nüchtern, ist ein ganz exquisites Stück
Prosa. Die Handlung der
relativ kurzen Kapitel bewegt sich zwischen einer Jetzt-Zeit und den
Lebenserinnerungen von Siegtrud, die sich für den Leser
langsam zusammensetzen
und am Ende das Bild eines trotz aller Fährnisse doch
erfüllten Lebens malen.
In der Jetzt-Zeit lebt die seit kurzem verwitwete Siegtrud in
ärmlichen Verhältnissen
allein, nur umgeben von ihren Erinnerungen, einem alten Koffer, der ihr
von der
Mutter geblieben ist, und einen französischen Seidenschal,
einen Bildband von
Frankreich
und ein Bild ihres Großvaters Magnus enthält. Er
soll Franzose gewesen sein,
und die Suche nach ihren Wurzeln und ihre Träume von
Frankreich ziehen sich
durch ihr Leben wie ein roter Hoffnungsfaden.
Siegtrud kommt mit wenig Geld aus. Sie geht auf Beerdigungen und isst
sich
danach an der Trauertafel satt, bis die engen
Familienangehörigen vom Friedhof
kommen und sie wieder verschwindet. Oder sie schaut sich Wohnungen an,
wo in
Island offenbar von dem vermittelnden Makler für die
Interessenten meist ein
Imbiss gereicht wird; sie nimmt an Vernissagen teil und trinkt
Champagner, oder
sie geht zu Demonstrationen und Versammlungen, besucht Ausstellungen
und nutzt
die Museumstage mit freiem Eintritt.
Siegtrud ist eine genügsame Frau, genießt, was das
Leben ihr bietet, kommt mit
dem Alleinsein gut zurecht und vor allen Dingen ist sie nicht
verbittert, obwohl
sie manchen Grund dazu hätte, wie man ihren Erinnerungen
entnehmen kann.
Sie ist als Waise aufgewachsen und leidet schon als Kind unter einer
Behinderung, die im Buch "Schandflosse" genannt wird. Ihre linke Hand
sieht aus wie eine Flosse, und Siegtrud wird auch oft deswegen
gehänselt.
Ihre Ziehmutter Hallfrithur, die sie von ihrer kurz nach der Geburt
gestorbenen
Mutter Petrina entbunden hatte, ist gut zu ihr, sorgt für ihre
Schulausbildung
und ist ihr eine enge Vertraute. Immer wieder flüchtet
Siegtrud quasi in ihren
Koffer, der nach Frankreich riecht und sie nach Paris entführt.
Als junges Mädchen wird sie von einem jungen Mann schwanger,
mit dem sie eine
leidenschaftliche Zeit verbringt, doch das Kind kommt tot auf die Welt.
Als sie später Tomas heiratet, einen bodenständigen
guten Mann, dessen kranke
Mutter Siegtrud jahrelang ohne Murren pflegt, bleiben den beiden die
ersehnten
gemeinsamen Kinder versagt.
Als auch Tomas relativ früh stirbt, beginnt Siegtrud ihr oben
beschriebenes
bescheidenes Leben. Doch der Koffer, der Schal, das Buch und ihre
französischen
Wurzeln lassen sie nicht los. Sie beginnt, alle möglichen
isländischen Archive
aufzusuchen, um nach ihrer Herkunft zu forschen, sie lernt
Französisch, und
schließlich packt sie den alten Koffer und macht sich auf den
Weg nach
Paris ...
"Eigene Wege" ist nicht nur eine poetisch erzählte
Lebensgeschichte
einer Frau, sondern zwischen den Zeilen auch eine Sozialgeschichte
Islands auf
seinem schnellen Weg von einer Nation von Bauern und Fischern zu einer
hochentwickelten modernen Gesellschaft.
Es ist ein schönes Buch; so bescheiden wie eindrucksvoll seine
Protagonistin
daherkommt, so sind die Sprache und der Stil Kristín
Steinsdóttirs. Ohne
feministische Attitüde wird hier bescheiden ein Stück
selbstständiger
Frauengeschichte geschrieben, ein Beispiel, wie mit knappen Mitteln und
mit
benachteiligten Lebensvoraussetzungen ein Leben doch glücken
und gelingen kann.
In einer Zeit, in der nichts gut genug sein kann, und in der jeder
darüber
klagt, was in seinem Leben fehlt, eine Wohltat, findet ein von dem Buch
sehr
beeindruckter Rezensent.
(Winfried Stanzick; 09/2009)
Kristín
Steinsdóttir: "Eigene Wege"
(Originaltitel "Á eigin vegum")
Aus
dem Isländischen von Tina Flecken.
C.H. Beck, 2009. 127 Seiten.
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Kristín
Steinsdóttir, 1946
geboren, lebt in Reykjavík und arbeitete zunächst
als Grundschul- und
Gymnasiallehrerin. Seit 1988 arbeitet sie als Schriftstellerin und ist
eine der
meistgelesenen, preisgekrönten Kinderbuchautorinnen Islands.
Der Roman "Eigene
Wege" ist ihr zweites Buch für Erwachsene,
war auf der Auswahlliste
für den "Literaturpreis des Nordischen Rates 2008" und erhielt
den
"Isländischen Literaturpreis der Frau 2007".
Weitere Buchtipps:
Sabine
Barth (Hrsg.):
"Reise nach Island. Kulturkompass fürs Handgepäck"
Auf halbem Weg zwischen Europa und Amerika verdankt das am
dünnsten besiedelte
Land dieser Welt seine Existenz der glühenden Lava und
führt seit der ersten
Besiedlung ein charaktervolles Eigenleben.
Wer in heißen Gletscherseen baden oder neben dampfenden
Bächen wandern will,
wer die Begegnung mit
Elfen,
Trollen und den Gestalten der Sagas sucht, findet
in diesem Band die richtige Reiselektüre: reiche Einsichten in
eine blühende
Erzählkunst, die über alle Regionen der Insel und
ihre gegenwärtigen
Schicksalsfragen zu berichten weiß. (Unionsverlag)
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Kristín
Marja Baldursdóttir: "Die Farben der
Insel"
Die Malerin Karitas lebt allein und zurückgezogen in einem
kleinen Dorf an der
Küste. Ihre Kinder sieht sie nur selten, Sigmar, ihren Mann,
fast gar nicht.
Auch ihre künstlerische Karriere will nicht voranschreiten, zu
unverständlich
und düster wirken ihre Bilder auf die
Dorfbevölkerung. Doch Anfang der 1950er-Jahre
ändert sich die Lage. Karitas reist
nach
Paris, um dort neue Inspirationen für
ihre Kunst zu erhalten. Zurück in Island findet sie endlich
die Anerkennung,
die sie verdient. Kann sie Sigmar jetzt auch an ihrem Leben teilhaben
lassen?
Kristín Marja Baldursdóttir ist eine der
bekanntesten Journalistinnen und
Schriftstellerinnen in Island. (Krüger)
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