Thomas von Steinaecker: "Schutzgebiet"
Eine
einzelne verirrte
Schwalbe, die - warum auch immer - nicht mit den anderen
Vögeln zurück nach
Europa geflogen ist, kreist über dem Turm, ziept. Wieder und
wieder.
(Auszug aus "Schutzgebiet")
Glückssucher in Afrika
Thomas von Steinaecker beschreibt
in seinem Buch das
Zusammenleben einer buntgemischten Gruppe Auswanderer, deren Wege sich
in Benesi,
einer kleinen Festung in der
deutsch-afrikanischen
Kolonie Tola,
kreuzen. Sie
sind dort aus unterschiedlichen Gründen gestrandet und wollen
sich - die
Vergangenheit hinter sich lassend - verwirklichen. Der Roman spielt
im
Jahr 1913 und endet ein Jahr später mit dem Beginn
des Ersten Weltkrieges.
Was sind das für Menschen, die - teils aus wohlhabenden
Elternhäusern stammend
- ihr Glück in einer entlegenen Kolonie in Afrika suchen? Es
sind Abenteurer,
gebrochene Charaktere, enttäuschte Individuen oder nach
Anerkennung heischende
Existenzen, deren Lebenslinien Frakturen aufweisen. Zuhause
können sie nicht
mehr Fuß fassen. Sie suchen ihr Glück fernab ihrer
Heimat.
Der Roman ist vielschichtig. Er integriert Kultur, Exotik,
Menschenkunde und
Romantik. Der kulturelle Rahmen ist durch die Zeit vorgegeben, und die
Exotik
ergibt sich aus den örtlichen Gegebenheiten. Die Handlung
besteht darin, unter
widrigen Umständen die Infrastruktur von Benesi zu verbessern.
Hierzu zählen
der Aufbau einer Stadt, die Aufforstung der umliegenden Steppe und die
Errichtung einer Schutztruppe. Die notwendige Würze
erhält der Roman auf einer
tieferen Ebene. Es sind die ausführlichen Vorgeschichten der
Protagonisten und
die intensiven Charakterstudien, die das Buch lesenswert machen.
Dadurch werden
die Motive verständlich, und die Darstellung der Beziehungen
gewinnt an
Plastizität und Glaubwürdigkeit.
In Benesi ticken die Uhren anders. Die Bewohner leben in einer
Traumwelt und
leiden an Selbstüberschätzung und
Realitätsferne. Sie halten ihre Festung für
den Nabel der Welt. Hierzu passt es, dass der Schiffbrüchige
Henry Peters in
die Rolle seines verstorbenen Chefs Gustav Selwin schlüpft, um
in Benesi die
notwendige Anerkennung zu finden, so als wäre der
Eintrittspreis die Aufgabe
des Selbst. Die Szenen wirken manchmal grotesk, insbesondere wenn
preußische
Tugenden im fernen Afrika aufleben. Die Mentalität der
Ureinwohner und die preußische
Ordnung stehen sich diametral gegenüber. Die Beziehung
zwischen der
geheimnisvollen Käthe Gerbers, Schwester des Verwalters, und
Henry Peters ist
keine Romanze, wie man sie aus zahlreichen Roman kennt, trotzdem
knistert es
immer vor Spannung, wenn die beiden sich begegnen.
Autor von Steinaecker beschreibt in einer einfachen Sprache die
skurrile Welt in
Benesi, deren reale Bedeutung im krassen Gegensatz zur
gefühlten Bedeutung
ihrer Bewohner steht. Der Titel "Schutzgebiet" ist mehrdeutig, da er
nicht nur die Festung Benesi beschreibt, sondern auch für die
Illusionen ihrer
Bewohner steht. "Schutzgebiet" ist nicht der typische Abenteuerroman,
in dem Eroberungen und spannende Kämpfe, gewürzt mit
einem Schuss Erotik, im
Vordergrund stehen. Es ist eher ein psychologischer Roman, bei dem
beleuchtet
wird, welche Sorte Menschen aus welchen Gründen ihre gewohnte
Umgebung
verlassen und nach
Afrika auswandern.
(Klemens Taplan; 09/2009)
Thomas
von Steinaecker: "Schutzgebiet"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2009. 388 Seiten.
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Thomas
von Steinaecker wurde 1977
geboren und lebt in München.
Er promovierte mit der Arbeit "Foto-Texte.
Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns,
Alexander
Kluges und W.G. Sebalds".1996 erhielt er den "Hattinger
Förderpreis",
2003/04 das "Autorenwerkstatt-Stipendium" des "Literarischen
Colloquium Berlin". Er nahm am 11. "Open Mike" in
Berlin
und am "textwerk"-Seminar des "Literaturhauses München"
teil. 2006 wurde er zum 10. "Klagenfurter Literaturkurs" eingeladen.
Sein Debüt "Wallner beginnt zu fliegen" wurde mit dem
"aspekte-Literaturpreis"
für das beste deutschsprachige Debüt und dem
"Bayerischen Kunstförderpreis"
ausgezeichnet und landete auf der Auswahlliste für den
"Deutschen
Buchpreis 2007".
Im Herbst 2008 erschien Thomas von Steinaeckers Roman "Geister". Vom
"Kulturkreis der deutschen Wirtschaft" erhielt er im gleichen Jahr den
"Förderpreis für Literatur".
Weitere Bücher des Autors:
"Wallner beginnt zu fliegen"
"Wallner beginnt zu fliegen" ist ein Familienroman, eine Saga
über
drei Familiengenerationen. Und ein Roman über die Frage, ob
man
Familiengeschichte erzählen kann, wie sie wirklich passiert
ist. Ein
faszinierendes Debüt in drei Kapiteln: Ein Wirtschaftsroman,
ein Musikerleben
und ein Frauenschicksal.
Stefan Wallner, verheiratet mit der Deutsch-Rumänin Ana, hat
sich mit seiner
Firma für Landmaschinen eine Heimat geschaffen. Der berufliche
Erfolg ließ ihn
seine katastrophale Vaterbeziehung vergessen. Aber über die
Jahre hinweg, in
denen die Firma floriert, schließlich mit einer anderen
fusioniert und an die Börse
geht, bröckelt das enge Verhältnis zu den
Mitarbeitern innerhalb des Betriebs.
Wallner fühlt sich verfolgt, wittert eine
Verschwörung.
Sein Sohn Costin ahnt von der beginnenden Paranoia seines Vaters
nichts. Doch
was bei Stefan Wallner nur im Kopf stattfindet, das erlebt Costin, der
sich
durch sein Leben und seine Rollen wie durch eine Fernsehserie zappt.
Er
macht Karriere als "Superstar" einer vom Fernsehen
zusammengestellten Popgruppe, er lebt Alternativkarrieren als
Synchronsprecher
in einem Hitler-Zeichentrickfilm oder als Ex-Promi in einer "Reality-Show".
Er gründet ein Rock-Label, lebt mit Romy
zusammen, der Sängerin der
Gruppe "Erich", und erfährt erst spät von seiner
unehelichen Tochter
Wendy.
Wendy trifft ihren Vater zum erstenmal kurz vor ihrer
Volljährigkeit. Die
Mutter hatte ihr das Verhältnis mit Costin verschwiegen. Doch
kaum hat sie
ihren leiblichen Vater kennen und lieben gelernt, da stirbt Costin. Als
Wendy
sich nach dem Tod Costins daran macht, ihre Familiegeschichte zu
rekonstruieren,
fällt es ihr bald schwer, zwischen Lebenslügen,
Irrtümern und der
nachrecherchierten Wirklichkeit zu unterscheiden. (btb)
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"Geister"
Die sechsjährige Ulrike ist eines Tages nicht mehr von der
Schule zurückgekehrt
und seitdem spurlos verschwunden. Für Jürgen, der
seine große Schwester nie
kennen gelernt hat, wird sie zum blinden Fleck in seiner Biografie.
Doch nicht
nur Ulrike, auch die Menschen in dem Wellness-Center,
in dem er als
Physiotherapeut arbeitet, haben für Jürgen etwas
Gespenstisches. Da begegnet
er eines Tages der Comic-Zeichnerin Cordula. In ihrem Comic greift sie
Ulrikes
Schicksal auf und erweckt die Verschwundene wieder zum Leben. Von da an
lässt
sich Jürgen mehr und mehr auf die geheimnisvolle Cordula ein
und taucht ab in
die bunten Fantasiereiche ihres Comics, die ihn vom Chiemsee bis ins
indische
Auroville führen. Nichts scheint in ihnen unmöglich.
Mit farbigen
Comics
von
Daniela Kohl. (Frankfurter
Verlagsanstalt)
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"Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen" zur Rezension ...
Leseprobe:
3 PARIS, 1913
Die Eingeborene hebt ihre Hängebrust mit der Hand an, damit
das Baby auf ihrem
Arm leichter daran saugen kann. Ab und zu kratzt sich die Frau. Bei
jeder
Bewegung klirren die Reife - aus Gold? -, die ihr wie ein
Mühlsteinkragen vom
Hals abstehen. Sie schaut teilnahmslos, als ob sie Henry nicht
wahrnehmen würde.
Auf der weißen Tafel vor dem Zaun ihres Geheges liest er: Négresse
avec
petit (Tola).
Auf der Wiese daneben haben sich die Schwarzen in einer Reihe vor einem
Lagerfeuer aufgestellt, über dem ein Tier brät,
machen zwei Schritte vor,
beugen den Oberkörper, treten zurück, eine
menschliche Welle, dazu singen sie
etwas. Sie tragen schwere Holzschilder und Lanzen, ihre nackten
Oberkörper sind
vollständig tätowiert. Der Rauch des
Feuers
weht so
dicht, dass der
Eiffelturm, der die ganze Zeit über mächtig im
Hintergrund in den Himmel
ragte, verschwunden ist. Fast scheint es Henry in diesem Moment, als ob
er sich
tatsächlich im afrikanischen Busch befände.
Was die Tätowierungen wohl darstellen?, fragt Henrys Cousine,
Mlle. Villiers,
die ihr Taschentuch wieder vom Mund genommen hat, so dass ihre schmalen
Lippen
zum Vorschein kommen.
Ob er etwas erkennen könne.
Sie beugt sich über den hüfthohen Holzzaun,
hält dabei ihren weißen Hut am
Hinterkopf mit der einen Hand fest, in der anderen ihr
zusammengebundenes
Spitzensonnenschirmchen. Eine brünette Strähne
hängt ihr ins Gesicht.
Henry ist unklar, ob das eine weitere Probe ist, das Stichwort
für etwas, das
von ihm erwartet wird. Kurzentschlossen ruft er nach dem
Wärter mit dem gelben
Tropenhelm. Einer der Eingeborenen im Gehege solle an den Zaun treten.
Der
harsche Befehlston aus seinem Mund überrascht ihn selbst - und
freut ihn
zugleich, weil er seine eigene Stimme sicher und, wie er meint, nahezu
akzentfrei in der fremden Sprache reden hört. Als seine
Cousine entrüstet
sagt, sie verlasse unverzüglich das Gelände,
weiß er, dass er richtig
gehandelt hat. Mehrmals dreht sie sich um und zeigt ihm ihr schnell
aufgespanntes Schirmchen, woraufhin er sie lächelnd bitten
muss, zu bleiben.
Schließlich lässt sie sich mit gespielt beleidigter
Miene und erhobener
Stupsnase dazu bewegen.
Wortlos, mittels eines Stocks, einer Art Zeigestab, hebt der
Wärter den tätowierten
Arm des schwarzen Mannes an, etwa so wie man ein Stück Fleisch
in der Pfanne
wendet, um zu überprüfen, ob es schon gar ist. Mlle.
Villiers wirft zunächst
nur einen kurzen angewiderten Blick darauf. Dann, nachdem Henry
über die bunten
Spiralen, Kreise und Rechtecke auf der Haut des Wilden streicht - ganz
glatt ist
sie, wie die eines Kindes -, berührt auch seine Cousine den
Arm vorsichtig mit
den Fingerkuppen. Ihren Handschuh hat sie dafür abgestreift.
Einen Augenblick
lang, das sieht Henry an ihrer gerunzelten Stirn, ist sie
völlig gefangen
genommen. Der Gedanke verwirrt ihn über die Maßen,
dass das der erste nackte Männerarm
sein könnte, den seine Cousine berührt, und dass er,
Henry, sich schuldig
gemacht haben, dass er zu weit gegangen sein könnte. Er
trägt die
Verantwortung bei diesem Ausflug. Eigentlich ist die Szene absolut
ungehörig -
und trotzdem befriedigt ihn der Anblick der schmalen Finger seiner
Cousine auf
den Tätowierungen des Eingeborenen. Henry ist es fast, als
könnte er ihre Berührung
auf seinem eigenen Oberarm spüren.
Später schlendern sie in Richtung Ausgang, da erblickt er
etwas, nach dem er
schon insgeheim Ausschau gehalten hatte. In der Sorge, dass seine
Cousine ihn
auslachen würde, wenn er darauf bestände, den Umweg
zu machen, hatte er sich
jedoch damit abgefunden, dass es sich eben wohl oder übel
nicht ergeben würde.
Nun steht es nur wenige Schritte entfernt vor ihnen: le manoir
à l’envers, das
verkehrte Haus.
"Attendez, attendez", murmelt Henry und greift seine Cousine an der
wieder behandschuhten Hand.
Ein kurioser Anblick, allerdings weniger imposant als Henry es sich
nach der
Zeitungslektüre vorgestellt hatte.
Eine auf den Kopf gestellte mittelalterlich anmutende Festung. Die vier
Türmchen
dienen als Fundament. Darauf, einige Meter über der Erde -
eine nicht zu
verachtende statische Leistung - ruht der Wehrgang; wie die Borte eines
Vorhangs
hängen die Zinnen davon herab. Dann folgt der erste Stock,
ganz oben schließlich,
mit umgedrehten Rundbogenfenstern, das Erdgeschoss.
"Mais c'est drôle!", entfährt es seiner Cousine.
Jetzt ist sie es,
die Henry zu der Schlange vor dem Eingang zieht. Nur widerwillig folgt
er ihr.
Als er die Menschenmassen erblickt, ist ihm mit einem Schlag die Lust
verloren
gegangen, das verkehrte Haus zu besichtigen. Das ist eine
Kuriosität; keine
Sache, auf die man als ernsthafter
Architekt, wie er einmal einer sein
würde,
Bezug nehmen könnte.
Während sie warten, fallen Henry die Schweißperlen
auf, die sich im trotz
ihrer ansonsten zarten Figur üppigen Dekolleté
seiner Cousine gebildet haben
und die sie wie nebenbei, dabei tief in die Furche fahrend, mit ihrem
Taschentuch abtupft.
Um die kopfstehende Festung an den Türmchen vorbei durch eine
Luke im Wehrgang
zu betreten, muss man eine steile Eisenleiter erklimmen. Im Inneren
quiekt seine
Cousine vor Vergnügen. Ein Tisch, Stühle, die von der
Decke hängen. Ein Lüster,
der aus dem Boden heraus, an einem straffen Drahtband in die
Höhe ragt. Die
Kerzen glimmen elektrisch. Bilder an den Wänden, mit dem Nagel
am unteren Rand
des Rahmens befestigt.
Ein Scherz, muss Henry denken. Er wandert hier im Stein gewordenen
Scherz des
Russen herum, der all das ersonnen hat. Henry wird ganz übel
bei dem Gedanken.
Dass er diesem Russen auf den Leim gegangen ist, ist ein Beweis mehr
für seine
Unreife, dafür, dass er noch weit davon entfernt ist, ein
wahrer Gentleman zu
sein, der über einen Lebensplan verfügt und die
Verantwortung für seine Taten
übernehmen kann, weil er sich seines Ziels gewiss ist.
Als seine Cousine und er das verkehrte Haus wieder verlassen, kommt es
Henry für
Sekunden so vor, als sei auch die Welt um ihn, die Bäume mit
ihren Wipfeln, die
Herren mit ihren Zylindern, die Damen mit ihren Schirmchen, falsch
herum. Am
Ausgang besteht seine Cousine darauf, zum Salon der Frézons
eine Droschke und
nicht die Métropolitain zu nehmen. "Ach, wissen Sie,
eingepfercht zwischen
so vielen Menschen überkommt mich auf der Stelle schlimmstes
Unwohlsein",
zwitschert sie mit ihrem Pariser Akzent und macht mit einem ganz und
gar
undamenhaften Pfiff einen Kutscher auf sich aufmerksam. "Allein schon
der
Gedanke, dass jetzt gerade" - sie deutet auf den Boden - "unter
unseren Füßen Hunderte von Franzosen in
Zügen durch enge Tunnels rasen! Also
eines kann ich Ihnen, cher cousin, versprechen: So lange ich lebe,
werde ich nur
ebenerdig reisen. Selbst auf die Gefahr hin, dass man mich deshalb
trotz meiner
Jugend in allen Salons für altmodisch erklären wird.
Ich werde mich, Sie sind
mein Zeuge, der Flut von Neuerungen, die jedes Jahr unsere Hauptstadt
überschwemmen,
verweigern. Jawohl. Manchmal habe ich ja sogar im Nachhinein das
Gefühl, in zwölf
Monaten ist nicht ein, sondern seien vier, fünf Jahre
vergangen. Ich weiß
nicht, wie es Ihnen dabei geht, aber mir dreht sich der Kopf!"
Henry bietet ihr beim Einsteigen in die Kutsche seine Hand an und
widerspricht
ihr nicht, obwohl er es
in New York liebte, mit der ratternden Subway
unter den
höchsten Häusern nicht nur Amerikas, der Welt!, wie
er dann stets dachte,
hindurch zu fahren, allein gezogen von der Kraft der
Elektrizität, die bald
auch in der Provinz alle Zugtiere oder gar vor Karren gespannte
Menschen überflüssig
machen würde.