Jón Kalman Stefánsson: "Himmel und Hölle"
Ein
wunderbares, poetisches Buch eines Schriftstellers, der im deutschen
Sprachraum noch viel zu wenig Beachtung findet.
Island ist ein literarisches Phänomen. Bei einer
Einwohnerzahl von etwa 320.000 Menschen bringt diese Insel seit
Jahrzehnten eine unverhältnismäßig
große Zahl von Schriftstellern hervor. Selbst in der Gattung
der Kriminalromane haben sich in den vergangenen zehn Jahren etliche
isländische Autoren in die vorderste Reihe der
europäischen
Kriminalliteratur geschrieben.
Jón Kalman Stefánsson schreibt Romane und Texte über die Menschen in Island, ihre
Kultur, ihre Arbeit, ihre religiösen Vorstellungen und immer
und immer wieder ihr Verhältnis und ihre Bindung zur Natur,
insbesondere zum Meer, das Island als Insel von allen Anfängen
mit seinem Fisch ernährend und mit seinen Stürmen
bedrohend umgibt.
Seine vorigen drei Romane "Verschiedenes
über Riesenkiefern und die Zeit", "Das Knistern der
Sterne" und "Sommerlicht,
und dann kommt die Nacht", in denen Stefánsson
zum Teil autobiografische Erfahrungen verarbeitete, hat der Rezensent
nach deren Erscheinen jeweils begeistert besprochen und war nun auf
Stefánssons Roman entsprechend gespannt.
In "Himmel und Hölle" - auch dieses Buch hat Karl-Ludwig
Wetzig wie die anderen drei erwähnten sensibel ins Deutsche
übertragen - geht Stefánsson etwa
hundert Jahre zurück und berichtet von der Lebenswelt und den
harten Erfahrungen eines jungen Mannes, den er nur "den Jungen" nennt.
Früh hat dieser seinen Vater verloren, der beim Fischen im
rauen Meer ertrunken ist. Denn obwohl damals so viele Männer
täglich mit ihren Ruderbooten zum Fang ausfuhren, konnte kaum
einer von ihnen schwimmen. Aus der Perspektive dieser
unzähligen Toten wird die Geschichte dieses beeindruckenden
Romans erzählt: "Wir befinden uns in jener Zeit, in
der wir ganz sicher noch gelebt haben
..."
Der Junge hat irgendwann die Bekanntschaft eines anderen jungen Mannes
namens Bár∂ur, dem er herzlich verbunden ist,
gemacht. Beide haben sich bei dem Fischer Petur verdingt, um mit aufs
Meer zu fahren und die Netze nach dem Dorsch auszuwerfen, dem
Hauptnahrungsmittel und der Haupterwerbsquelle der Menschen damals.
Bár∂ur hat von einem erblindeten ehemaligen
Kapitän namens Kolbeinn, der 400 Bücher besitzt, ein
1823 von Jon Perlakssons übersetztes Exemplar von
Miltons "Das verlorene Paradies" ausgeliehen, und diese
Dichtung und die Verse ergreifen nicht nur von ihm Besitz, sondern sie
bewegen auch seinen Freund, den Jungen. Besonders eine Zeile hat es
ihnen angetan: "Nichts ohne dich ist
süß."
Wenn Stefánsson die schon
erwähnten Erzähler aus dem Totenreich nun diese
Dichtung beschreiben lässt, liest sich das wie sein eigenes
literarisches Programm:
"Nichts ohne dich ist süß. Milton war auch
blind, wie der Kapitän, ein englischer Dichter der mit
fortschreitenden Alter erblindete. Er dichtete im Finstern und seine
Tochter schrieb die Gedichte auf. Wir segnen ihre Hände
dafür und wünschen ihnen, dass sie auch noch ein
Leben neben den Gedichten hatten, hoffentlich durften sie auch einmal
etwas Weicheres und Wärmeres halten als die dürre
Schreibfeder. Manche Worte können wahrscheinlich die Welt
verändern, sie können uns trösten und unsere
Tränen trocknen. Manche Wörter sind Gewehrkugeln,
andere Geigenklänge. Manche können den Eispanzer um
das Herz zum Schmelzen bringen, und man kann sogar Wörter wie
Lebensretter ausschicken, wenn die Zeiten schlecht sind und wir
womöglich weder tot noch lebendig. Und doch taugen Worte nicht
viel, und wir verirren uns auf den öden Hochlandheiden des
Lebens und gehen verloren, wenn wir nichts als einen Stift zum
Festhalten haben."
Bár∂ur verliert sich selbst im "Verlorenen
Paradies", liest darin bis kurz vor der in einer wunderbaren Sprache
geschilderten Abfahrt des Schiffes und vergisst darüber,
seinen Anorak mitzunehmen. Auf hoher See, die die sechs Männer
nach stundenlangem Rudern erreichen, ist das mitten im Winter bei
heftig aufkommendem Sturm sein Tod. Als das Boot seinen Hafen wieder
erreicht, ist Bár∂ur erfroren.
Stefansson schildert in einer sehr poetischen Sprache
eindrücklich, wie die Menschen mit so einem Schlag umgehen.
Besonders aber begleitet er seine Hauptfigur, den Jungen, bei seiner
endlosen Trauer. Er lässt ihn vielen Menschen begegnen, deren
Geschichten erzählt werden, eine schöner und
bewegender, aber auch trauriger, als die andere.
Und er hat das Buch, das er Kolbeinn zurückbringen muss und
die Gedichte:
"Manche Gedichte entführen uns dorthin, wo keine
Worte hinreichen, kein Denken, sie bringen uns an den Kern selbst, das
Leben hält einen Atemzug inne und wird schön, es wird
rein vor Sehnsucht und Glück. Manche Gedichte
verändern den Tag, die Nacht, dein Leben. Manche Gedichte
bringen dich dazu, zu vergessen, die Traurigkeit zu vergessen, die
Hoffnungslosigkeit ..."
Auf seinem Weg zurück - Stefánsson erzählt nur wenige Tage aus dem Leben des Jungen - begegnet
der Junge nicht nur jenem blindem Kapitän, dem das Buch
gehört, sondern er findet Wärme und Halt auch bei
Geirpruthur, die schon Kolbeinn in ihrem Haus aufgenommen hatte, und
deren ebenso bewegte wie ungewöhnliche Geschichte
erzählt wird.
Sie berühren den Jungen in seiner Trauer, und irgendwann kann
er seinen toten Freund loslassen und sich wieder dem Leben zwischen
"Himmel und Hölle" zuwenden.
(Winfried Stanzick)
Jón Kalman Stefánsson: "Himmel und Hölle"
(Originaltitel "Himnarki og helviti")
Aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig.
Piper, 2011.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Fische haben keine Beine"
Das hier ist Aris Geschichte. Und die seiner isländischen Familie. Warum aber hat
Ari, Schriftsteller und Verleger, seit 25 Jahren verheiratet und mit drei
Kindern gesegnet, an einem Dienstag vor drei Jahren ohne jede Vorankündigung
seine Frau verlassen, um nach einem Zwischenspiel in einem gottverlassenen
isländischen Hotel nach Kopenhagen zu verschwinden? Schwer zu sagen. Aber Ari
kommt zurück, nachdem ihn sein sterbender Vater darum bittet. Ein altes Foto von
ihm und seiner Mutter lassen Aris Erinnerungen aufleben, an seine Familie und
seine eigene Jugend im schwärzesten Loch von allen: Keflavik. Dort lernte Ari
die us-amerikanischen Soldaten kennen, die "Beatles", "Pink Floyd" - und die Mädchen.
Eines von ihnen hat Ari bis heute nicht vergessen, und ihr Schicksal hat ihn
sein ganzes Leben lang begleitet.
Eine große, eigenwillige Familiengeschichte
von Glück, Freude, Rechtschaffenheit und Verlangen. (Piper)
Buch
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