Clemens J. Setz: "Die Frequenzen"
Von
Menschen im Bereitschaftsmodus und dem Abspritzen in ein Glas mit
warmem Aspirinwasser
Nach seinem gefeierten Debüt "Söhne und Planeten" hat
der 1982 in Graz geborene Clemens J. Setz nun seinen zweiten Roman
veröffentlicht. Dieser ist nicht nur ein zweiter Roman,
sondern gleich ein Wälzer von 714 Seiten. 2008 erhielt er bei
den 32. "Tagen der deutschsprachigen Literatur" ("Ingeborg-Bachmann-Preis")
für
einen Auszug aus "Die Frequenzen" den
"Ernst-Willner-Preis".
Selbstbewusst und metaphernverliebt beginnt dieser Roman, der
einerseits die Geschichte des Architektensohnes Walter ist, der
Schauspieler werden will, andererseits die Geschichte von Alexander,
dem Krankenpfleger mit einer eher surrealen Fantasie.
Zwischen diesen beiden Erzählsträngen hin- und
herpendelnd, entwickelt Setz sichtlich mühevoll seinen
angepeilten Riesenroman. Hie und da gelingen gute Passagen, die Clemens
J. Setz jedoch mit traumwandlerischer Sicherheit zunichte macht, bevor
sie auch nur irgendwie tragen könnten.
Ein Beispiel ist die Szene, in der Wolfgang und Gabi wieder langsam
zueinander finden; da wohnt der Leser einer zerbrechlichen
Annäherung bei, um diese dann mit den Sätzen: "Sie
wachte um vier Uhr morgens auf, ging dann unruhig in der Wohnung umher
und stürzte sich, wenn er aufwachte, sofort auf ihn, um sich
einen Orgasmus und ein paar blaue Flecken zu holen",
literarisch zunichte gemacht zu sehen.
Überhaupt ist diesem Roman eine fast
spätpubertäre Fixierung auf den Penis als Spielzeug
eigen. Eine fast kindische Erforschung der
Sexualität,
die
nach ein paar hundert Seiten die Toleranzgrenze des Lesers schon
gehörig strapaziert hat.
Eine Szene, mit einer Motte, über deren Unsterblichkeit und
Religion der Protagonist sinniert, bevor er sie in ein Taschentuch
zerdrückt, ist schon fast versöhnlich, wäre
dieses Taschentuch mit Mottenleiche nicht einige Seiten später
kurzfristig Ziel eines weiteres Samenergusses, der jedoch rechtzeitig
in einen (zum Glück der toten Motte und des Lesers) staubigen
Pokal umgeleitet werden kann.
Kaum ist man wieder in die Geschichte eingetaucht, tauchen die
nächsten peinlichen Sätze auf: "Valerie
lehnte sich in ihren Sessel zurück und streckte sich, dabei
hob ihr T-Shirt sein schläfriges Lid und präsentierte
aller Welt ihren Bauchnabel, an dessen Form und
Größe man sehen konnte, dass sie keine junge Frau
mehr war. Mein Gott, dachte Walter etwas deprimiert, wie jugendlich
sie
sich heute wieder vorkommt."
Zu diesem Zeitpunkt ist noch schwer zu entscheiden, ob man ob dieser
Konsequenz der Verfehlungen und stilistischen Mängel belustigt
lächeln, oder stumm das Lese-Handtuch werfen sollte.
Doch die nächste Fellatioszene naht mit raschen Schritten, man
schreibt die Seite 315 und liest das pubertäre Wunschdenken: "Ihre
Lippen bewegten sich um meinen Schwanz, als versuchten sie ihn neu zu
formen ...", den Rest der Kür überspringe
ich bis zum (wie viele waren es schon?) erneuten Kommen, das diesmal
literarisch besonders tief angepeilt ist:
"Mein Sperma spritzte Gott weiß wohin, in sie, in
(sic!) ihren Kopf, ein entsetzliches, herrliches, Funken
sprühendes Sakrileg.
Hat das geholfen?, fragte sie, als es vorbei war.
Was?, fragte ich benebelt.
Sie hätte mich genauso gut fragen können, wie der
Innenminister der
Ukraine hieß."
Nun ein wenig retour zur Geschichte: Walter entwickelt seine
schauspielerischen Fähigkeiten als Teilnehmer einer
psychotherapeutischen Gruppensitzung, wähnt dort seine
Riesenchance, und Alexanders Fantasiegeflechte flüchten immer
tiefer zurück in seine Kindheit, wo ein Riss in einer Mauer
große Auswirkungen hat.
Eine geheimnisvolle Tote ist irgendwo vergraben, und Wolfgang Amadeus
Mozarts Oper "Die
Zauberflöte" muss zwischendurch auch herhalten.
Eigentlich gibt es fast nichts, was Clemens J. Setz nicht in dieses
Werk eingebaut hat; auch ein
Proust'scher
Fragebogen
wird im Sinne der Entwicklung des
Romans eingesetzt, und der Eindruck, der junge Autor will seine
literarische Sicherheit mit aller Gewalt vermitteln, wird immer
stärker. Man würde ja auch gerne daran glauben, schon
allein deshalb, um die restlichen ca. 300 Seiten wirklich auch noch
durchzuhalten.
Wären da nur nicht immer diese selbst gestellten Fallen, in
die Clemens J. Setz wiederholt tollpatschig hineintapst; "Während
ich urinierte, wählte ich mit einer Hand Valeries Nummer. Ich
konnte sie bereits so sehr auswendig, dass in meinem Kopf jedes Mal
ein
schmerzhaftes, gespenstisches Echo entstand, wenn ich sie
wählte."
Das Urinieren ist im Übrigen auch eine immer
wiederkehrende Konstante in diesem Buch.
Eine wirklich sympathische Gestalt gibt es in diesem Roman doch,
Hündchen Uljana, doch leider kann der Roman durch einen Hund
auch nicht mehr gerettet werden.
Liest man auf den letzten beiden Seiten im Schlusskapitel "End
Credits" folgende Zeilen: "Das große
Daumenkino rast seinem Ende zu.
Das Strichmännchen hat sich redlich bemüht, den
Daumen des Betrachters zu erhaschen, aber dieser war ihm
naturgemäß mindestens eine Seite voraus und trieb
das kleine Männchen schnell seinem Ende zu, das nun endlich
gekommen ist", so ist man fast geneigt zu glauben,
veräppelt worden zu sein.
Wobei gegen eine Veräppelung ja eigentlich nichts einzuwenden
ist, solange sie auf hohem literarischen Niveau wie z.B. im "Ulysses"
von James Joyce passiert.
Großes Daumenkino waren "Die Frequenzen" sicher nicht.
Das Ende kam auch eindeutig nicht schnell genug.
Ob dieser Roman große, bzw. gute Literatur ist?
Meiner Meinung nach - nein.
Ich erwarte (und wünsche) von Literatur gute Prosa,
zündende Ideen, eine originelle Sprache, Seiten, die mich
fordern, die mich zwingen, sie zu erschließen; Metaphern und
Vergleiche, die logisch sind und nicht: "Sie war eine zarte,
filigrane Qualle, die an dieses blaue Sofa gespült worden war
und die man nicht berühren durfte, wenn man nicht riskieren
wollte, dass sie einem unter den Fingern zu Staub zerfiel."
"Die Frequenzen" ist eine auf Riesenlänge aufgeblähte
Kurzgeschichte, fast permanent im Leerlauf, Papier und Seiten fressend,
an den Nerven des Lesers zehrend, letztendlich mehr als unbefriedigend,
weil das Können des Autors und sein Versuch, einen dicken
Wälzer zu schreiben, der wohl komisch, unheimlich, spannend,
geistreich und wahrscheinlich auch gewissermaßen erotisch
hätte sein sollen, so gelöst nicht in Einklang zu
bringen waren.
Vielleicht hatte der Autor genau das als Ziel vor Augen?
Also ein nervtötendes, veräppelnd inszeniertes
Scheitern, um sich nach der letzten Seite heimlich und
genießerisch ins Fäustchen zu
lachen - mag sein.
Sollte es so sein, ziehe ich meinen Hut; Chapeau!
Leider macht das die 714 Seiten rückblickend nicht besser.
Um abschließend noch kurz zu den Schlusssätzen
zurückzukehren: " ... und trieb das kleine
Männchen schnell seinem Ende zu, das nun endlich gekommen ist."
Gut. Sehr gut.
(Roland Freisitzer; 03/2009)
Clemens
J. Setz: "Die Frequenzen"
Gebundene Ausgabe:
Residenzverlag, 2009. 714 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2011.
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Weitere
Bücher des Autors:
"Söhne
und Planeten"
Ein eindringlicher Roman über Väter, die
Söhne bleiben, und Söhne, die zu
Vätern werden.
René Templ, ein Schriftsteller als junger Mann, findet in
Karl Senegger seinen Mentor, eine geistige Vaterschaft. Umgekehrt
entzieht er sich seiner Verantwortung gegenüber Frau und Kind:
Er schrumpft auf die Größe seines Sohnes, sobald er
sich als Vater gefordert glaubt. Als Vater wiederum hat Karl Senegger
versagt, sein Sohn Viktor springt in den Tod. Eine Kurzschlussreaktion,
der finale Abfall der Spannung in einer Verbindung zwischen gleichen
wie ungleichen Teilen? Oder der verzweifelte Versuch, sich gegen den zu
behaupten, dem man das Leben verdankt? Karl Senegger flüchtet
vor seiner Verantwortung. Der Vater, der seinen Sohn verloren hat, wird
zum Herausgeber von dessen literarischer Hinterlassenschaft. Er bittet
René Templ, ihm dabei zu helfen.
In vier Erzählungen, die er über ihre Themen, ihre
Figuren und Motive zu einem Roman komponiert, zeigt Clemens J. Setz,
wie Väter an ihren Söhnen wachsen und Söhne
an ihren Vätern - und wie sie aneinander
zerbrechen. (btb)
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"Indigo"
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine
Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften
Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe
kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen.
Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz unterrichtet an dieser Schule
und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden
Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel
davongefahren. Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt
nicht weit; er wird aus dem Schuldienst entlassen
Fünfzehn Jahre später berichten die Zeitungen von
einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer
wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler brutal
ermordet zu haben. Und jetzt noch einmal von vorne. Vergessen Sie die
Zusammenfassung einer Romanhandlung, die sich jeder Zusammenfassung
entzieht, und lesen Sie das Buch. "Indigo" von Clemens J. Setz. Sein
viertes insgesamt. (Suhrkamp)
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"Die Bienen und das Unsichtbare"
zur
Rezension ...
"Die Liebe zur Zeit des
Mahlstädter Kindes.
Erzählungen"
Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der
Stadt. Es
ist ein großes Kind. Den Blick hält es
demütig zu Boden gesenkt, seine Haut
ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um
dieses Kind,
veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein,
mit
Fäusten, Stöcken und Ketten - auf die Skulptur aus
weichem, niemals
trocknendem Lehm, auf das Mahlstädter Kind. Der
Künstler hat es ihnen zur
Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe
übertragen, es "in die
allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen".
Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen
sie als
Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle
über sich und beinahe auch
ihren Verstand.
Es sind Geschichten gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror,
voller
gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in
den Romanen präsentiert
sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der
menschlichen Natur
und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist
ihrer Eigenarten. (Suhrkamp)
Buch
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