Lutz Seiler: "Die Zeitwaage"
Erzählungen
Beeindruckender Erzählungsband des "Ingeborg-Bachmann"-Preisträgers von 2007
Der bisher hauptsächlich als Lyriker in Erscheinung getretene, mehrfach ausgezeichnete Lutz Seiler hat
mit "Die Zeitwaage" seinen ersten Erzählungsband veröffentlicht. Ein Debüt, das in
mehrfacher Hinsicht beeindruckend ist.
Die Erzählung "Turksib", für die Lutz Seiler mit dem "Ingeborg-Bachmann-Preis"
ausgezeichnet wurde, ist in "Die Zeitwaage" enthalten.
Verblüffend ist Lutz Seilers Sprache.
In einer Grauzone zwischen fast übertriebener Feinzeichnung und harten, an Umgangssprache erinnernden
Sprachfetzen entfaltet sich diese Prosa, immer wieder suchend, sich windend, bis sie den notwendigen
Duktus erreicht hat, mit einer eigenartig archaischen Wucht. Der Sprachrhythmus dieser Erzählungen
erfordert langsames, teilweise mehrfaches Lesen, da man sonst die dieser Prosa unterlegte rhythmische
Struktur nicht bemerkt; eine rhythmische Struktur, ohne deren Wahrnehmung diese Erzählungen einfach nicht funktionieren.
Wie in jedem Erzählungsband gibt es auch hier bessere und weniger gute Erzählungen, die meisten sind
jedoch außerordentlich gut geglückt. Die Reihung der Erzählungen ist das einzige wirkliche Manko, das
ich diesem sehr beeindruckendem Band anlaste. Die ersten beiden Erzählungen, "Frank" und
"Im Geräusch" sind die am wenigsten geglückten Miniaturen dieses Buches, zu bemüht um
Aussage treten sie auf der Stelle, zu wenig Entwicklung haben Ereignisse, die mit fokussierter
Präzision eingeleitet werden.
"Färber hatte in den Wochen zuvor die Erfahrung gemacht, dass sein Vorname zu kompliziert
war für die Türsteher des Restaurants; er hatte sich einen einfachen Namen zugelegt. Unangenehm war,
dass er ihn jetzt wiederholen musste, das Mädchen hatte Hank statt Frank verstanden. Ich hätte es bei
Hank belassen können, dachte er, aber er hatte sich an Frank gewöhnt, Frank."
Ab der dritten Erzählung geht es dafür stetig bergauf.
"Turksib" ist eine Art Reiseerzählung. Eine literarische Begleitung einer Reise durch radioaktiv
verseuchte Kasachische Schneelandschaften, mit einem tickenden Geigerzähler als immer wieder eingeschobenem
Leitmotiv, und die sich ins Groteske steigernde Begegnung des (deutschen) Ich-Erzählers mit einem
Heine
zitierenden (russischen) Heizer macht diese Erzählung zu einem
sehr komplexen, auf vielen Wirklichkeitsebenen agierenden Gleichnis.
Großartig auch "Der Stotterer"; eine Erzählung, die das Leben eines Mannes, der allgemein
nur als "der Stotterer" bekannt ist, aus der durch viele Jahre gefilterten Sicht eines
Jungen erzählt. Ein Leben, das erst mit dem absurd-unnötigen Tod des Mannes Aufmerksamkeit erregt.
Wie Lutz Seiler in dieser Erzählung quasi beiläufig ein nachklingendes Porträt des stotternden und
vermeintlich geistig unterentwickelten Mannes zeichnet, ist schlichtweg beeindruckend.
"Vielleicht war es das, was mich zuerst in Bann geschlagen hatte.
Aus der Entfernung (vier Garagen lagen zwischen uns) konnte ich kaum
etwas klarer verstehen, und regelmäßig wurde seine Litanei
überdröhnt von dem Gleis, das nur wenige Meter hinter den
Garagen entlanglief. Kam ein Zug vorbei, wurde der Stotterer lauter,
und am Ende brüllte er fast, als dürfe das Gespräch mit
dem Wagen niemals abreißen oder als gäbe es gerade in diesem
Moment noch viel zu sagen. Wenn er dann in seiner Anstrengung oder
Selbstvergessenheit versäumte, die Stimme rechtzeitig wieder zu
dämpfen, verstand ich ein paar Worte oder eine Wendung, etwas wie
Moniooko-kio-kio oder Kawei-kaweiweso ... Aber genauer erinnere ich
mich nicht, und schon damals wäre es mir schwergefallen, etwas von
den Garagengesprächen des Stotterers und seiner Sprache
wiederzugeben, obwohl ich darin ganze Geschichten hörte."
"Der Badgang" und die titelgebende Erzählung "Die Zeitwaage" sind weitere blendende
Erzählungen, während die Erzählung "Gavroche" der persönliche Favorit des Rezensenten ist.
Schach und
Liebe sind die beiden Hauptzutaten in dieser auch etwas absurden, aber doch sehr zärtlich-poetischen
Liebesgeschichte ohne ein glückliches Ende.
"Woran ich zuerst denke: der Moment, in dem ihr Auf und Ab plötzlich aussetzt, auf halber Höhe, und alles
steht still. Ihre Leichtigkeit, ihre Haare im Gesicht, ihre Beine, die meine Hüften umschließen. Ich gehe langsam
zum Fenster und drehe mich um. Ihr linker Arm in meinem Nacken, fest, eine Klammer, sie greift mit der rechten
Hand zum Fensterwirbel und stützt ihre Fersen auf das Fensterbrett ...
Gavroche richtete sich langsam auf, und ich sah noch, wie sie eine der
Figuren berührte, vielleicht ziehen oder nur streicheln wollte,
das hatte sie öfter getan, die Figuren zur Hand genommen und mit
ihnen gesprochen, ihnen gut zugeredet, so jedenfalls hatte es sich
angehört, wenn ich ins Zimmer gekommen war und sie es nicht sofort
registriert hatte ..."
Eine immense, poetisch-leidenschaftliche Zärtlichkeit in jeder
Zeile dieser nostalgischen Erzählung, die für mich die
Krönung dieser Sammlung ist.
Ein großartiges, originelles Debüt, das sich klar von der
harmlosen, kommerziell erfolgreichen Ich-Befindlichkeitsprosa mancher
junger Autoren distanziert. Prosa, die man sich teilweise wirklich
bewusst und unter Umständen auch mühsam erschließen
muss, um sie genießen zu können. Eine dankbare Aufgabe, wenn
man die Belohnung in Relation dazu stellt. Da ist es auch nicht weiter
schlimm, wenn nicht alle Erzählungen das Niveau halten.
(Roland Freisitzer; 12/2009)
Lutz Seiler: "Die Zeitwaage. Erzählungen"
Suhrkamp, 2009. 285 Seiten.
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Lutz Seiler wurde 1963 in
Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in
Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und
Maurer. 1990 schloss er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das
Literaturprogramm im "Peter-Huchel-Haus".
Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war "Writer in Residence"
in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom.
Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den "Ingeborg-Bachmann-Preis",
den "Bremer Literaturpreis" und den "Fontane-Preis".
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Stern 111" zur Rezension ...
"Kruso"
Als das Unglück geschieht, flieht
Edgar Bendler aus seinem Leben. Er wird Abwäscher auf Hiddensee, jener
legendenumwogten Insel, die, wie es heißt, schon außerhalb der Zeit und
"jenseits der Nachrichten" liegt. Im Abwasch des Klausners, einer Kneipe hoch
über dem Meer, lernt Ed Alexander Krusowitsch kennen - Kruso. Eine schwierige,
zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed
eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter und die Gesetze ihrer Nächte, in
denen Ed seine sexuelle Initiation erlebt. Geheimer Motor dieser Gemeinschaft
ist Krusos Utopie, die verspricht, jeden Schiffbrüchigen des Landes (und des
Lebens) in drei Nächten zu den Wurzeln der
Freiheit zu führen. Doch der Herbst
89 erschüttert die Insel. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod - und ein
Versprechen.
Inselabenteuer und Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft: Lutz Seilers
erster, lang erwarteter Roman schlägt einen Bogen vom Sommer 89 bis in die
Gegenwart. Die einzigartige Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt, folgt den
Spuren jener Menschen, die bei ihrer Flucht über die Ostsee verschollen sind,
und führt uns dabei bis nach Kopenhagen, in die Katakomben der dänischen
Staatspolizei. (Suhrkamp)
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