Kathrin Schmidt: "Du stirbst nicht"
Fensterputzen
im Kopf
"Zur Beruhigung flüstert sie sich manchmal ein, dass
so ein Gehirnchen,
wenn es zerschnitten wurde, erst einmal fertig werden muss mit dem
Schrecken.
Dass es sich später, viel später erst zeigen wird,
welche Funktionen unter den
lebenswichtigen, die es ja unzweifelhaft wiederaufzunehmen bereit ist,
versteckt
sind und sich vielleicht eines schönen Tages erst einmal faul
räkeln werden,
ehe sie hervorkommen ..." (Auszug aus "Du stirbst
nicht")
"Zerschnitten und zusammengetackert" wurde das
Gehirn von
Kathrin Schmidts Protagonistin Helene Wesendahl. Durch ein geplatztes
Aneurysma
kam es bei ihr zu einer lebensbedrohenden Hirnblutung. In ihrem
vierten, stark
autobiografischen Roman "Du stirbst nicht" berichtet die Autorin und
Psychologin, die 1958 im thüringischen Gotha geboren wurde und
mit ihrem Mann
und den jüngeren ihrer fünf Kinder am
östlichen Rand von Berlin lebt, vom
beschwerlichen und mühsamen Weg des Zurückfindens in
ihre eigene Biografie.
Ein höllisches Szenario, das sie im Sommer 2002 am eigenen
Leib erlebt hat.
Der Roman setzt ein, als sich Helene Wesendahl, eine
44-jährige
Schriftstellerin, aus dem "Komakokon herausschält".
Erste Geräusche
nimmt sie wahr. Besteck klappert. Sie wähnt sich in der
Küche ihrer Eltern.
Ein kurzes Zwinkern mit einem Auge: "My husband",
sind ihre
ersten Worte, als sie ihren Mann erblickt. In Englisch spricht sie
diese aus. "Darüber
wird aber doch hoffentlich gelacht werden ...", denkt sie.
Doch, nein,
ihre Tochter heult. Warum? Hat das Mädchen Kummer?
Ein angstvolles Durcheinander von "Gedankenfluchtfetzen"
Fortan soll nichts mehr so sein wie es zuvor war. Dass sie sich bereits
seit
drei Wochen auf der Intensivstation des Krankenhauses befindet, mit
Metall in
ihrem halb kahlen Schädel, einer gelähmten rechten
Körperseite und eigentlich
kaum noch funktionierenden primären Körperfunktionen
wird ihr so nach und nach
klar. Was jedoch viel schlimmer wiegt: Helene Wesendahl leidet an
Aphasie. "Sie
kann nicht mehr wie früher durch lange Reihen von Worten, auch
Synonymen
flanieren, die an Klammern aufgehängt sind und nur darauf
warten, von ihr
abgenommen zu werden, sondern muss höllisch suchen, bis sie
irgendwo ein
passendes entdeckt." Für eine Schriftstellerin das
Fürchterlichste,
was
passieren kann. Ihre Kommunikation ist im eigenen Kopf
eingeschlossen,
findet keinen Ausgang, ist "Sprache im Inneren".
Ihr Denken
gleicht einer "Fortbewegung im Stillen ohne Halteleine"
und ihr
Sprachgefühl "bewegt sich hinter weißen
Laken, die im Hirn flattern,
als ginge da ein Wind. Was für ein Wind sollte im Hirn gehen?
Hirnwind? In den
Hirnwindungen? In den Hirnwindrichtungen? Mit solchem
hirnwindrichtungsweisendem
Getöse wird alles Fassbare unfassbar". Sprache
schafft Identität.
Helene hat die ihre verloren.
Zudem sind nur noch Bruchstücke ihrer Vergangenheit im Kopf. "Hat
die
Gegenwart sie als Geisel genommen, um die Vergangenheit freizupressen?
(...) Sie
sollte sich einen Erinnerungsfaden denken, an dem sie sich
entlanghangelt."
Anhand von Mails und auf ihrem Computer gespeicherten Geschichten
versucht sie
neben dem körperlichen auch ihr kognitives Leben wieder
zurückzuerobern. "Wieder
und wieder setzt sie das Vergangene rückwärts neu
zusammen, mit den kleinen
und größeren Stücken, die sie hervorkramt,
(...) putzt im Kopf Fenster."
Doch die zunehmende Reminiszenz hinterlässt nicht nur
angenehme Lebensbilder,
zuweilen eher ein angstvolles Durcheinander von "Gedankenfluchtfetzen"
wie zum Beispiel die schleichende Entfremdung von ihrem Mann, den sie
vor ihrer
Krankheit gar versucht war zu verlassen, wegen einer neuen Liebe zu der
transsexuellen Viola. Helenes mühsamer Heilungsprozess
gestaltet sich zunehmend
zu einer ebenso beschwerlichen Reise
ins
eigene Ich.
Nebelverschleierte Alltagswelt
Kathrin Schmidt hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, jenseits
jeglicher
Gefühlsduselei, Larmoyanz und auf die
Mitleidstränendrüsen drückender
Elegien. Ihr gelingt dies durch eine lakonische, teilweise reduzierte
Sprache,
die gelegentlich sogar einen beißenden Witz offenbart. Doch "unten
lacht der Mund, oben laufen die Tränen."
Philosophisch-poetische Erzählperspektiven
wechseln dabei mit nüchternen, ja lakonischen Betrachtungen
ab. Die Autorin
versetzt den Leser in einen unglaublich faszinierenden Sprachraum.
Direkt durch
den beeinträchtigten Blick der Protagonistin, anfangs
abgehackt, tastend,
scheibchenweise aufgeschnitten, später dann an
Intensität, Freiheit und
Wortlust gewinnend, erfährt er eine unglaubliche Nähe
zu den sehr deutlich im
Körper verorteten Gefühlen und Empfindungen seiner
"Heldin". Doch
gerade diese werden Helene Wesendahl zu einem zuverlässigen
Navigationssystem
durch die nebelverschleierte Alltagswelt.
Letztendlich gelingt es Helene - wenn auch äußerst
mühsam - die einzelnen
Puzzleteile ihres Lebensbildes aus ihren Erinnerungsfetzen
zusammenzusetzen, bis
wieder ein Ganzes entsteht und sie den unheilschwangeren Augenblick,
jenen "Point
Zero", als sie plötzlich das Gefühl hatte,
jemand habe mit einem
Schnipsgummi nach ihr geschossen und sie schmerzhaft am Kopf getroffen,
rekonstruieren kann:
"Ich sterbe, sagt sie ruhig.
Du stirbst nicht, sagt er ruhig."
Ihr Mann hat recht behalten, auch wenn dies in 60 bis 70 Prozent
ähnlich
gelagerter Fälle nicht selbstverständlich ist.
Der Roman "Du stirbst nicht", eine Erzählung "wie
ein
freigelegter Nervenstrang (...) genau seziert und das, was sichtbar
ist,
beschreibend", offeriert die kunstvolle
Verschränkung eines äußeren
Genesungsprozesses mit der Bewusstseinswerdung der eigenen
Emotionen.
Kathrin
Schmidt hat Literatur auf hohem Niveau, inhaltlich wie sprachlich,
vorgelegt.
Entstanden ist ein Roman mit einem unglaublich facettenreichen
Klangbild und
einer komplexen Reflexion über den Zusammenhang von
Sprache
und Identität, der
auch nach dem Zuschlagen der letzten Seite ein lang anhaltendes Tremolo
beim
Leser hinterlässt.
(Heike Geilen; 09/2009)
Kathrin
Schmidt: "Du stirbst nicht"
Kiepenheuer & Witsch, 2009. 348 Seiten.
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Kathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, arbeitete als Diplompsychologin, Redakteurin und Sozialwissenschaftlerin. Sie erhielt zahlreiche Preise, darunter den "Leonce- und Lena-Preis" 1993. Ihr 1998 erschienener Roman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" wurde mit dem "Förderpreis des Heimito-von-Doderer-Preises" und dem "Preis des Landes Kärnten" beim "Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998" ausgezeichnet.