Norbert Scheuer: "Überm Rauschen"
Wie in seinen vorigen Büchern
geht es in diesem Roman von Norbert Scheuer wieder um wichtige Lebensthemen, um
gelungenes und nicht gelungenes Leben. Und es geht wieder um die Eifel und den
Zehntausend-Einwohner-Ort Kall, den Heimatort Scheuers und auch des
Protagonisten.
Scheuer hat seit seinem Debüt als Schriftsteller anno 1994 immer wieder jenen
Ort und seine Menschen beschrieben, jenen Ort seiner Kindheit, in den er immer
wieder zurückkehrt.
So wie auch Leo Arimond, der in "Überm Rauschen" seine Geschichte erzählt.
Er hat in Düsseldorf studiert und lebt in Hamburg, das sind zunächst die dürren
Informationen über ihn, und kommt nach langer Zeit in seinen Heimatort zurück.
Verwandte und Familienangehörige haben ihn alarmiert, weil sein Bruder Hermann
seit Tagen sein Zimmer nicht verlassen hat. Er zeige alle Anzeichen eines
psychiatrisch relevanten Verhaltens. Das gehe seit längerer Zeit schon so; nun
wüsste man sich keinen Rat mehr. Doch auch Leo kann Hermann nicht zum Verlassen
des Zimmers bewegen und sucht beim Fischen im nahegelegenen Fluss nach seinen
Erinnerungen und nach sich selbst.
Früher ging Leo zusammen mit seinem Stiefvater und Hermann fast jeden Tag an
den Fluss. "Damals verlor ich den Köder allerdings absichtlich, denn
Angeln und er Fluss bedeuteten mir nichts. Für Herrmann hingegen war es alles."
Für Herrmann und den Stiefvater drehte sich das ganze Leben um das
Fliegenfischen,
das kunstvolle Herstellen der selbstgebundenen Köderfliegen und die Gespräche
über den größten Fisch.
Sie drehten sich um den "Ichtys", ein sagenumwobenes Tier, "größer
als ein ausgewachsener Mann". Auch die Gespräche der oft betrunkenen Gäste
abends in der familieneigenen Gaststätte wurden von diesem Fabelwesen dominiert
und hat die vielen Angler, die damals noch kamen und während ihres oft mehrtägigen
Angelurlaubs dort übernachteten, fasziniert und angespornt. Der Vater
behauptet, er habe er den Ichtys am "Rauschen", dem Wehr gesehen.
Diesem Rauschen hatten die beiden Brüder als Kinder gelauscht, an diesem
Rauschen sollte später Hermanns holländische Geliebte tot aufgefunden werden;
der Beginn seiner seelischen Krankheit.
Leo geht fischen und erinnert sich. Er denkt nach über den Ichtys, jenes uralte
Symbol der Christen für Jesus, den Christus. Und jene sehnsuchtsvolle Suche
nach der Wahrheit, welche die drei Männer damals verbunden hat. Nichts hat er
verlernt, genießt es jetzt geradezu, das Fliegenfischen. Und er denkt an des
Vaters Erzählungen, worin er von Paul Maclean berichtet hatte, von dem er nach
dem Krieg das Fliegenfischen erlernt habe. Nicht nur wegen dieser Erwähnung war
der Rezensent über weite Teile des Buches erinnert an das Buch von Pauls Bruder
Norman Maclean "Aus der Mitte entspringt ein Fluss" und an den
entsprechenden Film. Auch "Überm Rauschen" ist ein am Fliegenfischen
festgemachter philosophischer Roman über das Leben, das Gelingen und das
Scheitern, die Liebe und den Hass, das Glück und die
Krankheit, das Alleinsein
und den Tod.
Norbert Scheuer erzählt die ebenso tragische wie traurige Geschichte der
Familie Leos und lobt die Kraft der
Erinnerung:
"Erinnerungen und Träume treiben vorbei, es gibt keinen Unterschied
zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit, alles sinkt irgendwann auf
den Grund des Flusses, in stiller Erinnerung."
"Überm Rauschen" ist ein großes Werk, obwohl es nur etwa 140
Seiten Text umfasst, wenn man die zahlreichen Zeichnungen und Beschreibungen von
in der Eifel vorkommenden Fischen abzieht. Es ist ein Buch voller Poesie, eine
mitleidlose Schilderung eines Familiendramas mit vielen an ihrer Seele
verletzten Menschen, und eine wunderbare Anleitung zum Angeln.
Gleichzeitig ist das Buch eine Studie mit psychologischem Tiefgang und eine
hoffnungsvolle Einladung zu mehr Lebensfreude.
Zwar scheitern die Menschen in diesem Buch immer wieder, auch Leo, doch er gibt
nicht auf, er wartet, im Fluss stehend, auf Erinnerungen. Leo und mit ihm sein
Alter Ego Norbert Scheuer ist davon überzeugt, dass im Symbol des Rauschens, in
der wehmütigen Kraft des Erzählens das Glück gegenwärtig ist. Im gelebten
Augenblick sozusagen. Und obwohl Leo sich an viele traurige Begebenheiten
erinnert, zieht er den Leser mit in einen Sog von gefühltem Glück.
Norbert Scheuer hat das so ausgedrückt:
"Ich denke mir, dass die Leute hoffnungslos sind, aber die entscheidende
Frage ist: Was versteht man unter Hoffnung, was versteht man unter Glück? Gibt
es eigentlich so etwas wie das vollkommene Glück? Eigentlich kommt es nur
darauf an, irgendwie mit dem Leben fertig zu werden. Man muss mit den
Gegebenheiten, in denen man lebt, einfach irgendwie zurechtkommen."
Und er beschreibt, wie das seine Figuren versuchen, mit großer erzählerischer
Kunst, mit einer einfachen Sprache voller Anspruch, mit schlichten Worten mit
enormer Bedeutungstiefe.
Da geht es um das Verhältnis zu Vater und Mutter, um Geschwisterverhältnisse,
enttäuschte Liebe und immer wieder um den Hunger nach Liebe und Anerkennung.
Und die Suche nach der Wahrheit.
Man könnte Scheuers Anspruch minimalistisch nennen, und tatsächlich würden
sich die meisten Menschen damit nicht zufrieden geben. Wer dieses wunderbare
kleine Buch gelesen hat, spürt, dass in dem Wunsch und Anspruch, "mit
den Gegebenheiten des Lebens" zurechtzukommen, ein authentischer
Lebenssinn verborgen liegt, ob man mit dem Symbol des "Ichtys"
nun etwas anfangen kann oder nicht.
(Winfried Stanzick)
Norbert
Scheuer: "Überm Rauschen"
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2009. 167 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011.
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Norbert
Scheuer, 1951 geboren, studierte physikalische Technik und Philosophie.
1993 erschien sein Erzählband "Der Hahnenkönig", 1997
sein Gedichtband "Ein Echo von allem" und 1999 sein Roman "Der
Steinesammler".
Norbert Scheuer erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den
"Martha-Saalfeld-Förderpreis" (2003), den "3sat-Preis" beim
"Ingeborg Bachmann-Wettbewerb" (2006) und den "Glaser-Preis" (2006).
Er arbeitet als Systemprogrammierer.