José Saramago: "Kleine Erinnerungen"
Annäherungen
und Erkundungen
Zweifelsohne fließen in Romane und Erzählungen viele
persönliche Erlebnisse
und Erinnerungen des jeweiligen Autors ein. Ausgeschmückt,
hinzugedichtet,
erweitert, drapiert und ausstaffiert treten diese ihren Weg ins Buch
und
letztendlich zum Leser an. Dabei ist es völlig egal, ob es
sich um einen
"Debütanten" oder einen "hoch dekorierten, gestandenen"
Schriftsteller wie den portugiesischen
Literaturnobelpreisträger José Saramago
handelt.
In seinem schmalen Buch "Kleine Erinnerungen" erwähnt er an
gewissen
Stellen solche Begebenheiten, die ihn später zu einigen seiner
Romane
inspiriert haben. Sei es nun ein denkwürdiger Ausflug nach
Mafra in die
monumentale Basilika mit ihrem gehäuteten heiligen
Bartholomäus, die ihn zu
"Das Memorial" animierte. Oder aber der von Zeit zu Zeit stattfindende
Besuch eines etwas streng riechenden blinden Verwandten, dessen
Ausdünstungen
er seitdem mit Blindheit verbindet, was vermutlich in "Die
Stadt der Blinden" seinen Niederschlag fand. Der
frühe und für ihn
nicht geklärte Tod seines Bruders Francisco sowie seine
späteren Recherchen in
Personenstandsregistern regten ihn wiederum zum Roman "Alle Namen" an.
Wortreiche Verführungen
Doch dies sind nur kleine Randnotizen des vorliegenden
autobiografischen Buches,
das von Reminiszenzen Saramagos aus einer Zeit, in der er Kind war,
berichtet.
Sie reichen von den frühesten im Gedächtnis haften
gebliebenen Retrospektiven
mit ca. zwei bis drei Jahren bis ins jugendliche Alter. Auch wenn
"Kleine
Erinnerungen" nicht die vergleichbare Tiefe und Substanz seiner
großartigen
Romane hat, so ist es doch ein kleines-großes und vor allem
liebevolles Werk.
"Lass dich von dem Kinde verführen, das du einmal
warst."
Diesen Satz aus dem "Buch der Ratschläge" stellt der
bescheidene
Autor seiner Erzählung voran. Und im wahrsten Sinne des Wortes
verführt und
bezaubert José Saramago den Leser. Er schreibt voller Liebe
von seinem
Geburtsort Azinhaga, am Ufer des Flusses Almonda, der wiederum "einen
knappen Kilometer südlich der letzen Häuser"
mit dem Tejo
zusammentrifft.
"Dort kam ich zur Welt, dort wurde ich, weil die Not meine
Eltern nach
Lissabon trieb, als knapp Zweijähriger wieder herausgerissen
und in eine andere
Art zu fühlen, zu denken und zu leben eingeführt, als
sei mein Geborenwerden
an diesem Ort ein gerade noch aufzugebender misslicher
Zufall,
ein
Versehen des
Schicksals gewesen. Zu spät. Von aller Welt unbemerkt, hatte
das Kind Ranken
und Wurzeln geschlagen, hatte dieser zarte Keim, der ich damals war,
die Zeit
genutzt, seine winzigen, unsicheren Beinchen auf den Lehmboden zu
setzen, um von
diesem unauslöschlich das Siegel der Heimat eingebrannt zu
bekommen [...]. In
dem geheimnisvollen Buch des Schicksals und den dunklen Wirren des
Zufalls stand
geschrieben, und ich allein wusste das, ohne mir dessen bewusst zu
sein, dass
ich nach Azinhaga zurückkehren sollte, um fertig geboren zu
werden. Meine ganze
Kindheit und frühe Jugend über war dieses arme,
einfache Dorf [...] der
Geburtsort, in dem ich noch immer ausgetragen wurde, der
schützende Beutel, in
dem dieses kleine Beuteltier steckte, um im Guten und vielleicht auch
im
Schlechten das aus sich zu machen, was es heimlich, still und leise nur
für
sich alleine machen konnte."
Feinfühlige Töne
Einmal heiter und mit subtilem Humor, hin und wieder mit einem Schuss
Ironie,
manchmal traurig, melancholisch oder nachdenklich, hier mit
verschmitztem Lächeln
und da voller Zuneigung, erzählt der große
Schriftsteller von den kleinen
Dingen des Lebens, den Abenteuern und "kaum nennenswerten
Heldentaten" des heranwachsenden Jungen. Das tut er auf so
wunderbare
Art und Weise, mit subtil erzeugten Schwingungen, die ein angeregtes
Leseerlebnis hinterlassen und einen hinreißenden Blick in
intime Momente der
Vergangenheit des portugiesischen Autors gewähren.
So erfährt der Leser, wie José Saramago zu seinem
Familiennamen kam, der
keineswegs der väterliche war, sondern ein Spitzname, dem er
einem betrunkenen
Standesbeamten zu verdanken hat. Auch seine erste "poetische
Komposition" gibt der Autor zum Besten. Es ist ein
volkstümlicher
Vierzeiler, den der damals Siebzehnjährige auf einen kleinen
herzförmigen
Teller brennen ließ, um seine Liebschaft (und
spätere Frau) Ilda Reis zu beglücken:
"Lass es niemand hören / denn es ist geheim / dies
Herz aus Ton soll
dir gehören / mein eignes ist schon dein."
Und immer wieder schlägt er feinfühlige Töne
an, die einen wohligen Schauer
auf der Haut des Lesers zurücklassen: "... vor mir
stand, als wollte er
mir den Werg versperren, ein hoher Baum, der vor dem klaren Nachthimmel
zunächst
sehr dunkel wirkte. Da erhob sich eine Bö. Sie ließ
die zarten Grashalme, das
scharfe grüne Schilf erzittern und kräuselte das
schlammige Wasser einer Pfütze.
Wie in einer Wellenbewegung richtete sich das breit gefächerte
Geäst des
Baumes auf und stieg rauschend den Stamm empor, bis auf einmal alle
Blätter ihr
verstecktes Gesicht dem Mond zuwandten und die Buche (es war eine
Buche)
bis in ihre obersten Wipfel in weißem Glanz erstrahlte. Es
war nur ein
Augenblick, nichts weiter als ein Augenblick, doch die Erinnerung an
ihn wird so
lange währen wie mein Leben."
Marianne Gareis, der Übersetzerin aus dem Portugiesischen, ist
es zu verdanken,
dass diese dezenten, sensitiven Töne dem deutschsprachigen
Leser ohne Verluste
zugänglich geworden sind.
Fazit:
Bilder, Gerüche, Geräusche,
Düfte,
Empfindungen weiß der portugiesische
Nobelpreisträger José Saramago auf eindrucksvolle
Art und Weise wiederzugeben.
"Kleine Erinnerungen" ist eine wunderbare Reise in die Vergangenheit,
zu seinen Wurzeln und familiären Bindungen. Ein leises, zartes
Buch, das eine
ganz andere Seite des Literaturnobelpreisträgers zeigt.
(Heike Geilen; 03/2009)
José
Saramago: "Kleine
Erinnerungen"
(Originaltitel "As Pequenas Memórias")
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt Reinbek, 2009. 160 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Rowohlt, 2010.
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Weitere Lektüretipps:
"Das Tagebuch"
In seinem vielbeachteten Netztagebuch bezog Saramago Stellung zu aktuellen
politischen und kulturellen Themen, berichtete aber auch über Dinge, die ihn
persönlich berührten. Einmal laut, zornig und provozierend, dann wieder leise,
einfühlsam und mit feiner Ironie - immer regen seine Notizen zum Nachdenken und
Mitreden an. Egal, ob es um Obamas Möglichkeiten und Grenzen, um den Papst, die
Wirtschaftskrise oder den mutigen Widersacher der italienischen Mafia,
Roberto
Saviano, geht. Ganz gleich, ob er als Linker die Linke provoziert und vor allem
darüber entsetzt ist, dass die Betroffenen nicht einmal reagieren, oder ob er
sich mit den Palästinensern solidarisiert und Israel heftig rügt, ob er über
Pessoa, Borges
und Fuentes schreibt oder darüber, dass politische Demokratie nichts wert ist,
wenn sie nicht durch eine ökonomische und kulturelle untermauert ist. In seinen
Tagebucheinträgen geht Saramago schonungslos ins Gericht mit Politik, Kirche,
Kultur und Gesellschaft, schreibt aber auch sehr persönlich über Freundschaft,
Liebe und Tod. (Hoffmann und Campe)
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"Die Reise des Elefanten"
Inspiriert von der wahren Geschichte eines indischen Elefanten, den man im 16.
Jahrhundert auf spektakuläre Weise über Land und See von Spanien
nach Wien
überführte, erzählt Saramago meisterhaft und voller Ironie von den
sagenhaften Abenteuern des Elefanten Salomon und seines gewitzten Mahuts.
Salomon ist als Besitz von Johann III. von Portugal nur noch gelitten. Das
exotische Tier aus den fernen Kolonien fristet ein trostloses Dasein, bis die
Königin auf die Idee kommt, ihn ihrem Vetter dem Großherzog Maximilian aus
Wien zum Geschenk zu machen. Mit einem großen Tross wird Salomon samt seinem
Mahut auf eine abenteuerliche Reise geschickt, an deren Ende die eindrucksvolle
Überquerung der italienischen Alpen steht. Unterwegs lernt man nicht nur die
Eigenheiten und Vorlieben des Elefanten kennen, sondern auch die der Menschen
und der Gesellschaft um ihn herum. Dabei ist es der indische Mahut, der, Narr
und Weiser zugleich, seine Zeitgenossen häufig demaskiert. Augenzwinkernd
verknüpft Saramago in seinem Roman, der einen zuweilen an einen gewissen Ritter
aus der Mancha denken lässt, Realität und Fiktion. (Hoffmann und Campe) zur Rezension ...
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