Iván Sándor: "Spurensuche"
Eine Nachforschung
Zeuge
gegen das Vergessen
"Jener Punkt, auf den sich die Nachforschung bezieht, ist auch
eine
Landschaft, nur dass sie innen liegt und tiefer, als ich je
vorgedrungen bin;
dort, wo sich mir in einem von der Erinnerung geschaffenen Raum alles
in der
unzerstörbaren Kontinuität des einst Geschehenen
auftut."
Iván Sándor, einer der renommiertesten Autoren
Ungarns, hat sich mit seinem
Roman auf "Spurensuche" - so auch der Titel - begeben. Für
seine
Nachforschungen musste sich der Autor weit zurück in die
Vergangenheit bewegen.
Lange hat Iván Sándor geschwiegen, aber "die
Tiefe des Unbewussten ist
ein ungeheures Lagerhaus, identisch mit dem Vergessen. Obwohl zuweilen
ein Ton,
ein Blick das Vergessene hervorlockt." Und diese
Töne und Blicke gaben
letztendlich den Ausschlag, das tief Vergrabene an die
Oberfläche zu holen und
in Worte zu fassen. "Wie
Umberto Eco wollte ich einen
geschichtlichen
Krimi schreiben, und ich möchte durch mein Buch auch die Leute
in die
Vergangenheit schubsen", erklärt der Autor in einem
Interview,
das von www.sandammeer.at auf der Frankfurter Buchmesse
geführt wurde. Ganz
besonders einem Mann, dessen Mut und Einsatz vielen das Leben gerettet
hat, will
Sándor ein Denkmal setzen: dem Schweizer Vizekonsul Carl
Lutz. Obwohl er in
Eigenregie zwischen 1942 und dem Kriegsende mehr als 60.000 Juden das
Leben
rettete, stand Lutz immer im Schatten des weitaus bekannteren Schweden
Raoul
Wallenberg.
"Spurensuche. Eine Nachforschung" basiert auf den autobiografischen
Erlebnissen des jüdischen Schriftstellers aus dem Kriegswinter
des Jahres
1944/45 im belagerten Budapest, den Sándor und auch seine
Eltern wie durch ein
Wunder überlebt haben. Gemeinsam mit seiner
zwölfjährigen Freundin Vera
entkommt der damals Vierzehnjährige seiner Verhaftung und den
darauf folgenden
Marschkolonnen, aus denen viele nicht wieder nach Hause
zurückkehrten. Der
junge Iván agiert als Ich-Erzähler. Auf seiner
Flucht finden er und Vera in
Wohnheimen und Krankenhäusern, die unter dem Schutz des
Schweizer Konsulats
stehen, Asyl.
"Ich bin der vierzehnjährige Junge und sehe das
Gesicht eines alten
Mannes, der mich beobachtet, während er über ein
Blatt Papier gebeugt zu
beschreiben versucht, was er sieht."
Zwei Ebenen verwendet Sándor in seinem Roman. Lässt
er hier noch den jungen
Burschen berichten, springt die Erzählung abrupt zum
Schriftsteller von
heute, der durch die Straßen Budapests schlendert, auf den
Pfaden der
Erinnerung, der sich über alte Fotos beugt und diese zu
entschlüsseln
versucht. "Wir bewegen uns in derselben Geschichte, die
Zeitregionen
rutschen, von ihrer eigenen Energie angetrieben, übereinander."
Diese
Überlagerungen, die vielen fremden Straßennamen und
die betont nüchterne
Sprache, ja eine geradezu distanzierte Emotionalität, machen
das Buch mitunter
schwer lesbar. Doch "Zeit ist immer
Gegenwart, in der
vergangenen
Gegenwart der Vergangenheit schichten sich viele vergangene Gegenwarte
aufeinander, in der Gegenwart des Schreibens höre ich all
diese Klänge
zusammen mit jenem Klang, den ich hörte, als ich in der
Dunkelheit nach vorn
lief, Veras Hand in der meinen", schreibt der Autor in seinem
Buch.
Fazit:
Iván Sandors "Spurensuche" - ein Roman beinahe in Gestalt
einer
dokumentarischen Filmsequenz - erinnert an die erschreckenden
Ereignisse mit der
einhergehenden Judenverfolgung des
letzten Kriegsjahres in Budapest.
Entstanden
ist ein nicht ganz einfach zu lesendes, aber äußerst
eindringliches Buch, das
zeigt, wie eng Sándors Leben einst mit Carl Lutz verwoben
war, obwohl er sich
dessen jahrzehntelang nicht bewusst war. Doch während er die
Vergangenheit neu
erkundete, spürte er: "Endgültig verloren
geht nur, was schon in
Vergessenheit gerät, während es geschieht."
(Heike Geilen; 11/2009)
Iván
Sándor: "Spurensuche. Eine
Nachforschung"
(Originaltitel "Követés. Egy Nyomozás
Krónikája. Regény")
Aus dem Ungarischen von Katalin Fischer.
dtv premium, 2009. 340 Seiten.
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Iván
Sándor wurde 1930
in
Budapest geboren. Sein
umfangreiches Werk umfasst 13 Romane sowie zahlreiche Essays zur
europäischen
Geschichte und Literatur und Dramen. Iván Sándor
wurde mit den wichtigsten
Literaturpreisen des Landes geehrt, darunter mit dem
"József-Attila-Preis"
(1985) und dem "Márai-Sándor-Preis"
(2000). 2005 wurde ihm für sein
Lebenswerk der "Kossuth-Preis" verliehen. Bei dtv erschien 2006 der
Roman "Geliebte
Liv", der zu seinen bekanntesten Werken zählt.
Noch ein Buchtipp:
Luc Bondy: "Am Fenster"
Nach einem Aufenthalt im Sanatorium ist Donatey in seine
Zürcher Wohnung zurückgekehrt.
Es quält ihn nicht nur die Stange im Rückgrat, die
seine Wirbelsäule
stabilisieren soll, sondern auch die Befürchtung, von
Seraphine, seiner jüngeren
Freundin, verlassen zu werden. Er trinkt
Kaffee, raucht, blickt aus dem
Fenster
und erinnert sich: an die Jahrzehnte, die er als Assistent eines
berühmten
Regisseurs im Theater verbrachte; an die Großeltern,
Offenbacher Juden, denen
einst im letzten Moment die
Emigration gelang; an Mathild, seine
Mutter, die
sich bis zu ihrem Tod weigerte, über die genauen
Umstände der Flucht zu
berichten; an Freunde wie den für seine zierlichen
Gegenstände berühmten
Bildhauer Ingo Licht oder an Piotr, den Pariser Anwalt kaukasischer
Herkunft.
Der berühmte Regisseur Luc Bondy hat seinen ersten Roman
geschrieben, ein
charmantes Capriccio, dessen Lektüre sinnliches
Vergnügen bereitet. (Zsolnay)
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