Ralf Rothmann: "Feuer brennt nicht"
Ein Halbrelief der Erinnerungen
"Bücher beschützen. Dem Leben, das
nachfühlbar erzählt wird, kann für
kurze Zeit das
Diffuse
und Bedrohliche genommen werden. Nicht zuletzt
rührt die
Geborgenheit im Buch auch daher, dass gebannt ist, was den Lesenden
ängstigt
oder beunruhigt; gefesselt in der Formulierung, hat es keine Macht mehr
über
ihn, jedenfalls für die Dauer der Lektüre. Nur das
Glück fühlt sich nicht
wohl im Text, das Glück muss fliehen. Ein Reh ohne Scheu, das
riecht immer
gleich nach Disneyland.
Es bleibt immerhin ein Trost, dass das
Leben
wunderbarer ist als jede
Literatur
..."
Dieser Passage aus Ralf Rothmanns Roman darf man
uneingeschränkt recht geben.
Dennoch kann gute Literatur wunderbarer Bestandteil des Lebens sein.
Und
"Feuer brennt nicht" zählt zweifelsohne zu dieser Kategorie.
Rothmanns Text hilft einem zwar nicht zu leben, aber vielleicht doch
ein
bisschen "das Leben zu erleben, und es dadurch reicher und
einen selbst
freier" zu machen. "Das ehrwürdige
Großmutterwort 'Wer liest,
lebt doppelt' bewahrheitet sich am schönsten, wenn man sich
eine markierte
Stelle noch einmal ansieht. Das Augenaufschlagen, das hier
stattgefunden hat,
das Einatmen bis in die zartesten Seelen-Facetten."
"Es sind Sätze, um die sich ein Schimmer des Staunens
und Entzückens"
legt, sinniert der Protagonist in Rothmanns Roman, und Gleiches
empfindet der
Leser. Denn Ralf Rothmanns Buch erzeugt diesen ganz speziellen Glanz,
dieses
Glitzern und Funkeln. Mit wunderbaren Zustandsbeschreibungen und
atmosphärisch
dichten, prosaisch-poetischen Landschaftsbeschreibungen, mit
großartigen
Augenblicksaufnahmen und Alltagsbeobachtungen und vor allem der
grandiosen
Personencharakteristik erzeugt der Autor immer wieder ein Innehalten,
Verinnerlichen und Ergötzen am Gelesenen. Rothmann schreibt
Sätze, "die
man ohne Gähnkrämpfe lesen kann", die auf
dem Papier nahezu lebendig
klingen und unglaublich stimmungsvoll sind, ja, die man beinahe rahmen
möchte.
Da mag man die folgende Aussage verzeihen: "Rezensenten
können eh nicht
lesen, was schon daran zu erkennen ist, wie falsch sie oft zitieren".
Ménage à trois
Offensichtlich hat der Autor viel Autobiografisches in seinem Text
verarbeitet.
Hauptakteur Wolf - sein Alter Ego - hat nicht nur die Anzahl der
Buchstaben
seines Vornamens (die beiden letzten sind gar völlig
identisch) und das Alter
mit Rothmann gemeinsam, sondern ist ebenso wie er Schriftsteller und
lebt in
Berlin. In Rückblicken sowie Erinnerungen erzählt er
aus seinem Leben und
dessen Verwicklungen, die - wie könnte es anders sein - durch
zwei Frauen bzw.
eine ménage à trois, die Wolf unterhält,
hervorgerufen werden.
Derweil fängt alles so unkompliziert an: Ein relativ
unbekannter Autor gibt
eine Lesung und lernt auf dieser Veranstaltung eine junge
Buchhändlerin kennen.
Man hat guten Sex miteinander, verliert sich wieder aus den Augen,
kommt
letztendlich doch zusammen und führt ein, von "teilnahmsvoller
Distanz" geprägtes, sich wunderbar
ergänzendes gemeinsames Leben.
Denn Alina, so heißt die Angebetete, hat das was ihm, "der
freien
Existenz voller Anmut und Abenteuer", fehlt: Bodenhaftung. "Seine
Unberechenbarkeit [...], das Gewittern in seinem Wesen, die Launen oder
gar
Gemeinheiten dessen, der von den eigenen Ansprüchen an die
Wand gedrückt wird,
scheinen sie nicht zu erschüttern." Mit ihr kommt
das Beschwingte in
seinen Text, "das Schreiben wird für eine Weile
leicht." Und
sie ist beste Kritikerin: "'Das ist falsch', sagte sie einmal
und zeigt
auf eine Stelle kurz vor dem Schluss. 'Feuer
brennt nicht! Feuer
flackert oder
leuchtet oder raucht. Brennen tut was anderes ...'"
Ein äußerst feingezeichneter Roman
Die bewegliche Freiheit jedoch - beide leben lange Jahre in zwei
getrennten
Wohnungen - wackelt gehörig, als sich die beiden
entschließen, aus dem Zentrum
weg in eine gemeinsame Wohnung am idyllischen Rand von Berlin zu
ziehen. Hier
macht Wolf nicht nur die plötzliche zwischenmenschliche Enge
zu schaffen,
sondern auch das Klientel: viele Alte, "Bürger des
vergangenen Staates,
die selten lächeln, kaum je grüßen und
statt 'Supermarkt' noch 'Kaufhalle'
sagen." Das Universum scheint über diesem Teil
Berlins etwas
kleinkarierter zu sein.
Vielleicht ist "Steppen"-Wolf aufgrunddessen empfänglicher,
als die
mondäne, kluge und weltgewandte Wissenschaftlerin Charlotte,
eine frühere
Geliebte, auf der Bildfläche erscheint und sich eine
leidenschaftliche Affäre
entspinnt. Die Gefühle für Alina sind trotzdem noch
die gleichen, ja, Wolf ist
sich sicher, dass "erst ein Fehltritt [...]den Tango
vollkommen"
macht. Zumal die Sprache, die er mit Charlotte deklamiert, nur die der
nackten Körper
ist, "lange, gut gebaute Sätze, fast nur mit dem
Atem gesagt".
Charlotte fürs Grobe, Alina für das Feine und
Sinnliche. Doch in der "Hölle
der Verheimlichungen", im "Himmel der
Lügen" und
viele offen, sehr direkt und beinahe pornografisch beschriebene Treffen
später
offenbart sich der mittlerweile Fünfzigjährige Wolf
"seiner Frau"
Alina ...
Auch wenn im Roman kaum etwas passiert und die Handlung mit einem
Minimum an
Agierenden auskommt, so gelingt Ralf Rothmann trotz mancher derber
Beschreibungen ein äußerst feingezeichneter Roman.
In seiner ihm ureigenen
poetischen Sprache vermag er Sätze zu bauen, die "nicht
schon beim
ersten Stirnrunzeln" zerfallen. Der Autor kann wie kein
anderer
unterscheiden "zwischen Vers und Gebärde und
weiß, wie man etwas
verschweigen muss, damit es leuchtet."
Conclusio:
"Von sich zu schreiben in der ersten Person geht selten ohne
Verstellung . . . So bleibt nur die dritte Person, eine
dürftige Tarnung,
womöglich mit sprechendem Namen."
Ralf Rothmanns stark autobiografischer Roman erzählt vom
Altern, Arbeiten und
Lieben eines Schriftstellers sowie dessen vornehmlich sexuellen
Verlockungen,
denn das "ist ihm seit je das Hauptsächliche im
Leben" und
auch ein großes Thema dieses Romans.
"Feuer brennt nicht" ist ein ernster und pathetischer, manchmal gar
beunruhigender und aufregender Text, der trotz seiner Handlungsarmut in
sich
absolut rund ist und dessen Worte, Sätze und das daraus
gebildete Rothmannsche
Gefüge noch lange nach dem Zuschlagen der letzten Seite im
Unterbewusstsein des
Lesers nachklingen. Ein Buch, das gleichwohl über
existenzielle Fragen nachdenken lässt.
(Heike Geilen)
Ralf Rothmann: "Feuer brennt nicht"
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2009. 304 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2010.
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Ralf Rothmann wurde am 10. Mai
1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der
Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre,
arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter
anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch).
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Rehe am Meer. Erzählungen"
"Das plötzliche Erkennen einer besonderen Frau. Die
helle Formulierung
eigener Dunkelheiten und der verblüffende Einklang in Dingen,
von denen man
geglaubt hatte, lebenslang mit ihnen allein bleiben zu müssen
..."
Große Erzählungen von Ralf Rothmann sind
anzukündigen, und ob er nun von den
Nöten einer Zwölfjährigen schreibt, die sich
nach dem Tod der Mutter
verantwortlich fühlt für die Familie, ob er einen
Polterabend mit ostdeutschen
Bauarbeitern schildert oder von einer Krankenschwester in der Uckermark
erzählt,
die ihr Haus westdeutschen Feriengästen
überlässt, während sie mit ihrem
Sohn im Garten campiert; ob er uns einen arbeitslosen Alkoholiker
vorstellt, der
seiner Frau auf die Schliche kommt, oder einen Zirkushelfer, der die
Misshandlung
der Tiere nicht mehr erträgt - immer ist die Liebe das
Wasserzeichen dieser
Geschichten.
Mit Eleganz und Eros und einer spannungsvollen Sprache schärft
Ralf Rothmann
die Sinne für die Mystik des Alltags, und wenn er den Leser
nach einer
scheinbar gewöhnlichen Zugfahrt Richtung Glücksburg
den Boden unter den Füßen
wegzieht, fühlen man endgültig, dass ein Leben ohne
Poesie und Leidenschaft
nur das halbe wäre. (Suhrkamp)
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"Im Frühling sterben"
"Sprach ich meinen Vater in der Kindheit auf sein starkes Haar an, sagte er,
das komme vom Krieg; man habe sich täglich frischen Birkensaft in die Kopfhaut
gerieben. Ich fragte nicht weiter nach, hätte wohl auch, wie so oft, wenn es um
die Zeit ging, keine genauere Antwort bekommen. Die stellte sich erst ein, als
ich Jahrzehnte später Fotos von Soldatengräbern in der Hand hielt und sah, dass
viele Kreuze hinter der Front aus jungen Birkenstämmen gemacht waren."
"Im Frühling sterben" ist die Geschichte von Walter Urban und Friedrich -
"Fiete" - Caroli, zwei siebzehnjährigen Melkern aus Norddeutschland, die im
Februar 1945 zwangsrekrutiert werden. Während man den Einen als Fahrer in der
Versorgungseinheit der Waffen-SS einsetzt, muss der Andere, Fiete, an die Front.
Er desertiert, wird gefasst und zum Tod verurteilt, und Walter, dessen zynischer
Vorgesetzter nicht mit sich reden lässt steht plötzlich mit dem Karabiner im
Anschlag vor seinem besten Freund ...
In eindringlichen Bildern erzählt Ralf
Rothmann vom letzten Kriegsfrühjahr in Ungarn, in dem die deutschen Offiziere
ihren Männern Handgranaten in die Hacken werfen, damit sie noch angreifen, und
die Soldaten in der Etappe verzweifelte Orgien im Angesicht des Todes feiern.
Und wir erleben die ersten Wochen eines Friedens, in dem einer wie Walter nie
mehr heimisch wird und noch auf dem Sterbebett stöhnt: "Die kommen doch immer
näher, Mensch! Wenn ich bloß einen Ort für uns wüsste ..." (Suhrkamp)
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"Shakespeares Hühner"
In einer der Erzählungen Ralf Rothmanns denkt Fritzi, eine junge
Gitarristin,
über
William Shakespeare nach und findet: "Verglichen mit den
Sorgen und Nöten seiner finsteren Gestalten sind wir
eigentlich nur Hühner oder? Shakespeares Hühner. Wir
machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram - Prüfungen,
Lockenstäbe, Handymarken, Geld -, und wissen insgeheim doch
alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann
hinterm Hühnerdraht."
Dramatische oder auch beglückende Wendepunkte im Leben
schildert dieses Buch, dessen Sprache durch eine magische Genauigkeit
besticht, und ob wir nun vom Selbstbetrug eines sterbenden
Stasi-Beamten, von einer missratenen Orgie an der Ostsee, vom
Wiedererwachen einer Liebe in einem japanischen Kloster oder vom
Gedächtnis des Schnees hören: "Es ist ja nicht dieser
oder jener Zustand, der das Leben ausmacht", sagt Fritzi. "Es sind die
Übergänge, wie in der Musik.
Manchmal denke ich, sogar der Tod ist nur ein Akkordwechsel."
Ralf Rothmann, der unangefochtene Meister der langen wie der kurzen
Prosa, hat Erzählungen geschrieben, deren Realismus von der
Sehnsucht nach dem Unvermuteten befeuert wird, voller Humor und
Empathie.
Und deren Nachhall verändert. (Suhrkamp)
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"Milch und Kohle"
Deutschland, Ende der 1960er-Jahre: Der
fünfzehnjährige Simon lebt mit Eltern
und jüngerem Bruder in einer Arbeitersiedlung
im
Ruhrgebiet. Alltagssorgen und
die Enge des Milieus lassen nur wenig Raum für das
Glück, um das hier jeder
auf seine Weise kämpft. Die Mutter näht sich jede
Woche ein neues Kleid und
vergisst samstags beim Tanz die Tristesse ihrer Ehe. Simons Freund
Pavel, ein
melancholischer Rebell, durchstreift die Gegend auf seiner
"Zündapp",
immer auf der Suche nach Mädchen und Abenteuern. Simon selbst
ist mit dem
Erwachsenwerden beschäftigt und versucht nebenbei, seinen halb
verwilderten
Bruder zu bändigen. Als eines Tages zwei italienische
Gastarbeiter auftauchen,
fällt ein Hoffnungsschimmer in das Dunkel - ein Erlebnis, das
die mürbe
gewordenen Beziehungen auf eine harte Probe stellt. (Suhrkamp)
Buch
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