Lothar Gall: "Walther Rathenau"

Portrait einer Epoche


Rathenau als Teil, Kritiker und Gestalter des "neuen Bürgertums" im wilhelminischen Zeitalter

Walther Rathenau gehört, wenn nicht zu den zentralen, so doch zu den bedeutenden Figuren der Weimarer Republik und in gewisser Weise auch des so genannten Wilhelminischen Zeitalters. Der Sohn des AEG-Gründers befand sich immer im Licht der Öffentlichkeit, meistens jedoch zu seinem eigenen Verdruss in der zweiten Reihe. Rathenau ist eine schwer fassbare Persönlichkeit, ein Wanderer zwischen den Welten, doch ihn zu verstehen, heißt auch, eben jene seltsame halb statische, halb im Umbruch begriffene Epoche ein Stück weit zu begreifen, die der Weimarer Republik vorausging und parallel zu deren Aufkommen allmählich verblasste.

Lothar Gall untersucht Rathenaus Lebensweg anhand dessen enger Verzahnung mit seiner bürgerlichen Umwelt. Rathenau, so zeigt der Autor auf, ist als Teil des "neuen Bürgertums" zu verstehen, das sich noch im 19. Jahrhundert etablierte. Der erste Abschnitt des vorliegenden Buchs befasst sich daher mit diesem "neuen Bürgertum"; es zeichnet dessen Geschichte nach und beleuchtet die politischen und kulturellen Entwicklungen, die es prägen. Im Hauptteil des Buchs spielt selbstverständlich Rathenau die Hauptrolle.

Als Sohn eines sehr erfolgreichen jüdisch-deutschen Industriellen tut sich der junge Rathenau schwer, seinen Platz im Leben, seine Aufgabe zu finden. Er möchte sich vom Vater abgrenzen und unabhängig von diesem Erfolge erzielen - und es gelingt ihm nicht. Letztlich bleibt Rathenaus beruflicher Werdegang eng mit der AEG und ihren Tochterunternehmen verbunden. Den großen Durchbruch schafft Walther Rathenau jedoch auch dort nicht. Seines Vaters Posten als Direktor der AEG, den er angestrebt hat, kann er nach dessen Tod nicht erringen. Stattdessen nennt man ihn den "Aufsichtsrathenau", weil er in so vielen Aufsichtsräten sitzt.

Schon zu Lebzeiten des Vaters versucht Walther Rathenau sich auch in anderen Disziplinen, zum Teil, um sich auf diese Weise vom übermächtigen Vater abzusetzen, zum Teil, weil sie zu den typischen Interessen des "neuen Bürgertums" gehören: Schriftstellerei, Philosophie, Politik. Doch seine ehrgeizigen Ziele erreicht er auf diesem Sektor ebenso wenig wie in der Wirtschaft, zumal seine Meinung und seine politische Richtung sich gelegentlich verblüffend stark ändern und stets stark polarisierend wirken.

Der Autor lässt den Leser sozusagen an Rathenaus Seite die unglückliche Bewegung hin zum Ersten Weltkrieg erleben und dessen weitsichtige Erkenntnis, dass der Krieg eine Katastrophe für Deutschland sein werde. Rathenau setzt sich jedoch für sein Land ein, zumal er erkennt, dass der Rohstoffmangel Deutschlands großes Manko ist. Es gelingt ihm, in entsprechender Stellung Gewaltiges in puncto Rohstoffversorgung zu leisten, doch schon bald wird er missliebig und muss, wie bereits häufig zuvor, erfahren, dass er als Jude misstrauisch beäugt wird, noch dazu als ein Jude, der mittlerweile eher linksgerichtete Ideale vertritt.

Lothar Gall vollzieht weitere Kehrtwendungen in Rathenaus Leben nach und arbeitet sorgfältig heraus, wie der schwierige Mensch Rathenau schließlich im zweiten Kabinett Wirth als Außenminister eine sehr bedeutende Stellung verantwortungsbewusst ausfüllt, nachdem er sich im ersten als Minister für den Wiederaufbau aufgrund seiner Kenntnisse zur Wirtschaft hat einbringen können. Auch erläutert der Autor anschaulich, wie wenig Handlungsspielraum Rathenau als Außenminister bei öffentlichkeitswirksamen Entscheidungen bleibt - und wie solche der Rechten missliebigen Entscheidungen zum beliebten Feindbild des bolschewistischen Juden beitragen.

Rathenau weiß, dass ihn seine politischen Ämter in Lebensgefahr bringen. Als er im Juni 1922 von Rechtsextremen ermordet wird, zeigt sich die fatale Verwundbarkeit der jungen Republik zum ersten Mal in ihrem ganzen Umfang.

Der letzte Abschnitt beinhaltet eine Zusammenfassung mit Ausblick; Rathenau wird hier noch einmal in geraffter Form als "Produkt", aber auch als Kritiker und Gestalter seiner Zeit vorgestellt. Es schließen sich umfangreiche Anmerkungen, Quellen und Literaturangaben sowie ein Personenregister an.

Wenn man als Nicht-Historiker sein zeitgeschichtliches Wissen vor allem aus dem Schulunterricht und für Laien geeigneten Veröffentlichungen zum 19. und 20. Jahrhundert bezogen hat, bleibt Rathenau vor allem aufgrund seines gewaltsamen Todes und als Unterzeichner des Vertrages von Rapallo in Erinnerung. Dass er, wenn auch meistens aus der zweiten Reihe heraus, durchaus nachhaltig auf seine Zeit eingewirkt hat, und zwar in vielerlei Hinsicht: als Politiker, als großer Mann der Wirtschaft, als gesellschaftskritischer Schriftsteller, bleibt im Allgemeinen verborgen. Indem Lothar Gall Rathenau, jenen vielseitig Begabten und doch immer nach seiner Bestimmung Suchenden, parallel zu seiner Epoche mit ihrem gewaltigen Potenzial, ihren Irrungen und Wirrungen bis hin zu ihren Abgründen portraitiert, bringt er dem Leser die Gesellschaftsschicht nahe, in deren Händen das Schicksal Deutschlands im so genannten wilhelminischen Zeitalter lag: das "neue Bürgertum", in dem unterschiedlichste "Stände" und Strömungen mit nur vagen gemeinsamen Ideen zusammenfanden.

Rathenau als Protagonist in diesem "Portrait einer Epoche" - der Untertitel wurde treffend gewählt - ist in vielem typisch für das "neue Bürgertum", in vielem wiederum nicht, gelang es Rathenau doch nie, in einer Stellung wirklich sesshaft zu werden. Der Autor weiß das Spannungsfeld, in dem sich Rathenau nicht zuletzt aufgrund seiner jüdischen Abkunft, jedoch auch aufgrund seiner politischen und weltanschaulichen Richtungswechsel befand, sehr gut nachzuzeichnen und manchmal der Heimat im "neuen Bürgertum", manchmal persönlichen Komplexen geschuldete schwer nachvollziehbare, vielleicht als falsch zu bezeichnende Ansichten und Entscheidungen Rathenaus ebenso herauszuarbeiten wie Rathenaus verblüffende Weitsicht, etwa bezüglich europäischer Belange, in anderen Bereichen und zu anderen Zeiten.

Und so tritt Rathenau nicht widersprüchlicher auf als die wilhelminische Epoche selbst und die von Anfang an ums Überleben kämpfende Weimarer Republik, dabei aber eng eingebunden in jene auf die Katastrophe zusteuernde Zeit. Gall entwirft ein packendes, differenziertes Portrait eines Mannes, der sein Umfeld verantwortungsvoll gestalten wollte und immer wieder abgelehnt und verdrängt wurde, und ein nicht minder fesselndes Bild dieses Umfeldes, einer Gesellschaft am Scheideweg.

(Regina Károlyi; 02/2009)


Lothar Gall: "Walther Rathenau. Portrait einer Epoche"
C.H. Beck, 2009. 299 Seiten.
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Prof. Dr. Lothar Gall ist em. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Frankfurt.