Per Petterson: "Ich verfluche den Fluss der Zeit"


Sein leider bislang fast unbekannt gebliebener und im deutschen Sprachraum nicht mehr erhältlicher Debütroman "Sehnsucht nach Sibirien" zeigte schon anno 1999 den norwegischen Schriftsteller Per Petterson als ein Autorentalent, von dem man in Zukunft viel erwarten konnte. Es dauerte dann bis 2006, ehe sein nächster Roman bei Hanser erschien und unter dem Titel "Pferde stehlen" von der Kritik begeistert aufgenommen wurde. Mit einem Schlag war der Nordländer, der vor seiner Schriftstellerkarriere in vielen verschiedenen Berufen und Tätigkeiten jene Erfahrungen sammelte, die er zum Teil in seinen Romanen verarbeitet, in aller Munde.

Zu Recht. Denn die Melodie seiner Sprache, der Rhythmus seiner Poesie und der Pulsschlag des Lebens in all seinen Schattierungen, der seine Bücher durchzog, war neu und zog viele Kritiker und Leser in seinen unwiderstehlichen Bann.
Als im Jahr 2007 "Im Kielwasser" folgte, konnte man als Kritiker und Leser das alles nur noch einmal bestätigen. Entsprechend groß waren deshalb verständlicherweise die Erwartungen, die sich seit der ersten Vorankündigung an das Erscheinen von Per Pettersons Roman "Ich verfluche den Fluss der Zeit" knüpften.
Auch der Klappentext schürt noch diese Erwartung, doch schon nach einigen Seiten beginnt man auf jene Sprache, ihren Reichtum und ihren Glanz, ihre poetische Kraft, die aus den anderen Büchern so gut in Erinnerung ist, zu warten.

Sie will und will sich nicht einstellen. Stattdessen formuliert der Ich-Erzähler Sätze von nüchterner Schlaffheit und einer irgendwann langweilenden, weil eigentlich nicht stilbildenden Redundanz. Jede einzelne Bewegung, jede einzelne banale Tätigkeit oder Handlung ist ihm einen Satz, eine Erwähnung wert, und er reiht sie in ebenso langen wie ermüdenden Aufzählungen aneinander. Einige Zeit hält man es noch für einen neuen Sprachstil, vielleicht bewusst eingesetzt, um dem der Romanhandlung die entsprechende Tönung und Melodie zu verleihen, doch da will nichts Symphonisches aufkommen. Es klingt, es passt, es reimt nicht.

Dabei wäre die Handlung eine Schatzgrube gewesen, in der man sprachlich hätte reichlich fündig werden können:
Wir schreiben den November 1989. Mit dem Fall der Berliner Mauer bricht für den 37-jährigen Arvid sein ganzes bisheriges Weltbild zusammen. Seit vielen Jahren Mitglied in der maoistisch orientierten kommunistischen Partei, hat er seine Ausbildung aufgegeben und ist sozusagen im Auftrag der Partei als Arbeiter in die Fabrik gegangen, wo er mehr schlecht als recht seine Kollegen zu agitieren versucht.

Möglicherweise hängt diese Abhängigkeit damit zusammen, dass er auch in seinen anderen Lebensbereichen unselbstständig geblieben ist und wenig erwachsene Reife zeigt. Dementsprechend scheitert auch seine Ehe. Deren Ende fällt zusammen mit dem bald bevorstehenden Tod seiner Mutter. Diese hat Ende 1989 erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist und fährt für ein paar Tage noch ein letztes Mal in ihre dänische Heimat in ihr Ferienhaus auf der Insel Jütland.

Damit beginnt die von Arvid erzählte Handlung. Er, der sein Leben lang das Sorgenkind seiner Mutter war, beschließt ihr nachzureisen und erinnert sich dabei an unzählige Stationen und Begebenheiten seines Lebens. In den Augen seiner Mutter hat Arvid noch nie etwas Richtiges zustandegebracht. Als sein jüngerer Bruder starb, lief er davon, zu echter handwerklicher Arbeit, z. B. Bäume fällen, ist er nicht in der Lage, und sogar seine Rede zum 50. Geburtstag der Mutter verpatzt er völlig betrunken. Dabei hatte er doch hier ein Bild gefunden, mit dem er den Graben zwischen sich und seiner Mutter, unter dem er leidet, überbrücken wollte. Doch sie hat das schöne Sprachbild von der Brücke über den ausgetrockneten großen Fluss nie gehört.

Es ist eine sehr schwierige Geschichte von Mutter und Sohn, eigenartig sprachlos, ohne mitgeteilte Gefühle, die aber dennoch offenbar tief drinnen brodeln.
Warum sonst fährt Arvid seiner Mutter nach?
"Bist du blank?", sagt sie trocken, wie schon so oft, als er in Jütland ankommt. "Nein", antwortet er, "ich werde geschieden", und da ist es abermals, das Sorgenkind.

Immer wieder erinnert sich Arvid in Rückblenden an sein Leben, und immer wieder bleibt er seiner Mutter gegenüber sprachlos. Selbst als er den großen Baum vor dem Ferienhaus, den sein Vater, bereits vom nahenden Tod geschwächt, nicht mehr fällen konnte, in einer nächtlichen Aktion tatsächlich zu Fall bringt, kommen Mutter und Sohn nicht ins Gespräch. Man fragt sich zunehmend, was er ihr eigentlich sagen will. Der allerletzte Satz des Buches drückt aus, worauf er die ganze Zeit wartet, als sei er ein kleines Kind: "...während ich da saß und darauf wartete, dass meine Mutter aufstand und herüberkam."

Arvids Suche nach einem Kontakt zu seiner Mutter bleibt belanglos, man spürt ihm gar nicht ab, dass er unter der Sprachlosigkeit leidet. Selbst dieses Gefühl ist ihm abhanden gekommen. Und so kann er immer wieder nur mit einer Gedichtzeile von Mao, dessen Bilder in seinem Zimmer hängen, sagen: "Ich verfluche des Fluss der Zeit."
Die Furten in diesem Fluss zu suchen, Brücken über ihn zu bauen und es zu wagen, das andere Ufer zu betreten, dazu hat er keine Energie, keine Kraft, keine Liebe und keinen Hass. Ein bedauernswürdiger Mann.

Der nordische Rat schrieb in seiner Begründung für den Preis, den er dem vorliegenden Buch verlieh: "In seiner stillen poetischen Prosa zeigt Petterson wie schwer es uns fällt, anderen Menschen gerade die Dinge zu sagen, von denen wir spüren, dass sie am dringendsten gesagt werden müssen."

Sicher, darum geht es in diesem Buch, aber die Suche der Hauptperson nach irgendeiner Form von auch nur annähernd gelingender Kommunikation bleibt - auch sprachlich - banal. Der Rezensent konnte diesmal Pettersons Prosa nichts abgewinnen. Das Buch enttäuscht. Vielleicht kann der nächste Roman wieder jene Kraft aufbringen und ausstrahlen, welche die drei ersten Bücher so auszeichnet und dominiert.

(Winfried Stanzick; 10/2009)


Per Petterson: "Ich verfluche den Fluss der Zeit"
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2009. 239 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011.

Buch bei amazon.de bestellen

Per Petterson, 1952 in Oslo geboren, arbeitete als Buchhändler und Übersetzer, bevor er sich als Schriftsteller etablierte. Für seinen Roman "Pferde stehlen" (2006) wurde er mit dem "Independent Foreign Fiction Prize" ausgezeichnet. Für den vorliegenden Roman erhielt er den bedeutendsten norwegischen Literaturpreis, den "Brage-Preis", den "Norwegischen Kritikerpreis" und den "Preis des Nordischen Rats".

Ein weiteres Buch des Autors:

"Nicht mit mir"

Früher waren Jim und Tommy unzertrennlich. Jim, der Gymnasiast, wuchs bei seiner frommen Mutter ziemlich wohlbehütet auf. Tommy lebte bei einem Pflegevater und arbeitete in der Sägemühle. Nun treffen sie einander nach über dreißig Jahren wieder: Tommy hat es in der Finanzbranche zu Wohlstand gebracht, aber die Arbeit ist ihm zuwider. Jim ist Bibliothekar geworden, seit einem Jahr jedoch ist er krankgeschrieben und angelt am Fluss. In unvergesslichen Szenen schildert Petterson die Freundschaft der beiden Männer, ihre Frauen, ihre Einsamkeit, ihre Wut und ihren Trotz.
Wie kein Anderer erzählt der vielfach ausgezeichnete Autor aus Norwegen vom ganz Alltäglichen auf ganz ungewöhnliche Weise. (Hanser)
Buch bei amazon.de bestellen

Noch ein Buchtipp:

Ralph Tuchtenhagen: "Kleine Geschichte Norwegens"

Norwegen hat sich in seiner mehr als 1200 Jahre umfassenden Geschichte von einem Staat am Rande Europas zu einem der wichtigsten Erdöllieferanten und einem der erfolgreichsten Wohlfahrtsstaaten der Gegenwart entwickelt. Dieser vor allem wirtschaftliche Erfolg kontrastiert eigentümlich mit der Geschichte Norwegens als einem von fremden Mächten regierten Land. 400 Jahre mit Dänemark, 100 Jahre mit Schweden vereint und im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt hat es über die Jahrhunderte eine erstaunliche Beharrungskraft gezeigt. Die Nähe zum Meer und zu den indigenen Völkern des europäischen Nordens begünstigte eine weitgehende Offenheit und Toleranz für die Nachbarn. Ralph Tuchtenhagens Buch ist eine Einladung, den europäischen Norden besser kennenzulernen. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen