Emmanuelle Pagano: "Die Haarschublade"
Das
"Blödchen vom Dienst"
"Ich betrachte den Sohn meiner Nachbarin, ganz krumm und
schief in
seinem Kinderwagen, die Augen voller Sonne und fragte mich, welches
Verbot ihn
hinderte, sich zu bewegen, zu sehen, zu hören, zu sprechen,
die Hand zu heben,
um sich den Mund abzuwischen. Ich betrachtete seine Mutter und
bewunderte sie
insgeheim. Ich bewunderte sie dafür, das gemacht zu haben, ein
verbotenes Kind,
das sabberte und sich den ganzen Himmel in die Augen zwängte.
(...) Ich habe
diese Geschichte ohne jede Erlaubnis geschrieben, nicht mal mit seiner,
nicht
mal der seiner Mutter, allein damit ich beim Überqueren des
Hofs, bevor ich das
Tor öffne, endlich - wenn auch verspätet - sagen
kann, er ist schön, dein
Sohn."
Mit diesen Worten endet das beeindruckende kleine Buch der 1969
geborenen französischen
Autorin Emmanuelle Pagano, die mit dem "Europäischen
Literaturpreis für
aufstrebende Talente" ausgezeichnet wurde. Es sind Erinnerungen an ihre
eigene Jugend. Pagano hat sich in ihre damalige Nachbarin
hineinversetzt, um das
schwierige Leben dieser sehr jungen Mutter, die mit 15 ihr erstes - ein
behindertes
- Kind bekommt, in dieser Welt am Rande der Gesellschaft
nachzuvollziehen. Emmanuelle Pagano, die selbst sehr früh
Mutter wurde, erklärte
in einem Interview: "Einerseits habe ich versucht, mir meine
Gefühle
und Gedanken als Nachbarin zu vergegenwärtigen. Und dann habe
ich mich an einen
kleinen Satz erinnert, den die Person, die mich zu dem Roman inspiriert
hat,
einmal gesagt hat. (...) 'Kümmere dich nicht um die Anderen,
du hast einen schönen
Sohn.' Dieser Satz hat mich damals sehr bewegt. Mit meinem Roman wollte
ich ihr
das Gleiche sagen."
Paganos Protagonistin lebt in der Gendarmeriekaserne eines
südfranzösischen
Dorfes, in der ihr Vater seinen Dienst versieht. Die Welt ist eng in
dieser
kleinen Gemeinde und klar strukturiert. Pünktlichkeit und
Sauberkeit sind die
einzigen Lebensregeln, die Meinung der Nachbarn ist das Maß
der Dinge. Aus
Sicht der namenlos bleibenden Ich-Erzählerin erfährt
der Leser wie es zu
diesem "Missgeschick" kommen konnte, von dem die Eltern des
Mädchens
erst in Kenntnis gesetzt werden, als es um die Zustimmung zum
Kaiserschnitt
geht. Ihre Schwangerschaft bewältigt sie vollkommen auf sich
allein gestellt.
Medizinische geschweige denn seelische Unterstützung
erfährt sie nicht. Die
Chance auf ein normales Leben ist fortan passé für
sie. Ein gewaltsamer
Ausbruchversuch aus der seelenlosen Monotonie ihres Lebens endet in
einer
erneuten Schwangerschaft.
"Die Erzählerin ist eingeschlossen, aber das ist es
auch, was sie sucht",
erklärte Pagano. Das Leben außerhalb der elterlichen
Wohnung schlägt stets
mit brutaler Gewalt zu. "Es geht hier um die typische
Atmosphäre in
einem südfranzösischen Dorf", so die
Autorin. "Dort hält nur
die Familie ohne ein paar Freunde zu einem. Es geht geradezu
mafiös zu. Jeder
weiß alles über den Anderen, alles wird
weitererzählt, und es gibt kein
Entkommen." Nur in einem engen schützenden Kokon
fühlt sie sich
einigermaßen wohl und frei, "um endlich denken zu
können. Nichts
weiter, bloß denken."
Emmanuelle Pagano, die sich als gelegentlich freundlich
zulächelnde, aber
ansonsten stumme, immer mit einem Buch in der Hand auf den
Treppenstufen
sitzende Nachbarin selbst in das Buch hineingeschrieben hat,
thematisiert damit
auch ihr Bedauern darüber, diese junge Mutter, die nur ein
paar Haustüren
weiter wohnte, nie unterstützt zu haben. Doch das junge
Mädchen stellt sich
seinem "verpfuschten" Leben. Die junge Mutter beginnt als Hilfskraft
in einem Frisiersalon, nimmt sich eine kleine Wohnung und zieht ihre
zwei Söhne
allein auf. Als ihre Mutter einen Heimplatz für den
mittlerweile fünfjährigen
behinderten Pierre organisiert hat, gilt es eine persönliche
Entscheidung zu
treffen.
"Die Haarschublade", so scheint es auf den ersten Blick, ist ein
resignativer und höchst beklemmender Roman. Paganos direkte
Sprache, die übrigens
wunderbar von Nathalie Mälzer-Semlinger ins Deutsche
übertragen wurde, tut ein
Übriges dazu. Die kurzen, einfachen Sätze der
Ich-Erzählerin kumulieren
geradezu die Einsamkeit und Malaise, in der sie sich befindet, und
offenbaren
auf geradezu erschreckende Art und Weise die Einschränkung
ihres sozialen und
persönlichen Horizontes durch das "Gefängnis ihrer
Jugend". Doch
weit gefehlt. An und mit ihren Kindern wächst und reift die
junge Frau und
erkennt langsam, dass es so etwas wie ein liebevolles und wohlwollendes
Verhältnis
zur Umwelt geben kann. Der Leser schließt dieses
Mädchen, das nie gelernt hat,
sich zu artikulieren, unwillkürlich in sein Herz. Und der
Haartick
der Frau wird
umso verständlicher, folgt man den Erklärungen der
Autorin: "Für mich
war das Haare Schneiden eine Möglichkeit, ihre
Gefühle und ihr Verhältnis zur
Außenwelt zu beschreiben, wie ich es sonst nicht geschafft
hätte. Ich
beschreibe oft Gefühle über Gesten und Handlungen."
Der dritte Roman
der französischen Autorin ist also keineswegs eine
fatalistische Erzählung,
sondern ein durch und durch optimistischer und höchst
menschlicher Glücksfall.
"Schreiben heißt zu versuchen, die Narben zu
öffnen, sie aufzukratzen,
auch wenn das ein wenig schmerzt", sagt Pagano. Diese
Selbstkasteiung
ist der französischen Autorin auf beeindruckende Weise
gelungen. Die einfache,
minimalistische und präzise kleine Erzählung einer
jungen, alleinerziehenden
Mutter, ihres alltäglichen, aber keineswegs
gewöhnlichen Lebens und ihres
ebenso kleinen, aber dadurch wiederum großen
Glücks
geht tief unter die Haut.
(Heike Geilen; 09/2009)
Emmanuelle
Pagano: "Die Haarschublade"
(Originaltitel: "Le tiroir à cheveux")
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
Verlag Klaus Wagenbach, 2009. 144 Seiten.
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