Angelika Overath: "Flughafenfische"
"Glauben
Sie, dass man
sein Leben ändern kann?"
Diese Frage wirft einer der drei Protagonisten in Angelika Overaths
Roman
"Flughafenfische" auf. Elisabeth - genannt Elis - stellt sie ihrem
Gegenüber Tobias Winter, seines Zeichens Aquarist und
verantwortlich für das
200.000 Liter fassende Meerwasseraquarium in einem namenlosen
großen Flughafen,
einem Ort des ständigen Kommen und Gehens, der Unruhe und
Betriebsamkeit, der
flüchtigen Begegnungen - ein "blindes Einstimmen von
Körpern,
ein
stummes Sortieren von Lebenswegen in den Bahnen
funktionstüchtigen
Materials." Doch Overaths Buch ist alles Andere als laut und
geräuschvoll,
sondern ihre Erzählung fungiert beinahe wie eine stille Insel
der Ruhe. Der
Leser wird in einen autarken Raum der Lautlosigkeit, des
Sichfallenlassens
mitgenommen und nimmt nur verschwommen die Unruhe der Umgebung war.
Drei Personen werden mehr oder weniger zu Beobachtern und Erinnerern
ihrer
eigenen Lebensmisslichkeiten. Die Rolle des Betrachters kommt eindeutig
Tobias
zu. "Sein prüfender Blick auf das Leben der Fische
war, ohne dass er es
gewollt hätte, immer öfter und länger auf
die Reisenden übergegangen. Wenn
sie herabkamen aus der Höhe der gläsernen Halle,
Flügellahme auf elektrischen
Treppen, über mobile Bänder gleitend mit ihren
Rollkoffern, registrierte er
sie als Schwarm. Und dann war es gerade so, als ob er seine
professionelle
Fisch-Aufmerksamkeit nicht schnell genug auf Unschärfe stellen
und ganz
ausblenden könnte. (...) mit Menschen lebte Tobias Winter am
leichtesten, wenn
er sie als ein schwimmendes Muster begriff, als eine sich bewegte
Wassertapete.
(...) er stand in Verbindung mit allen. Er war der stille Messias der
Meere.
(...) Tobias interessierte sich für instabile
Metamorphosen".
Instabilität zeichnet Elis aus, ohne Zweifel. Sie, die
gefragte
Magazinfotografin, hetzt von Ort zu Ort. Eine allgegenwärtige
Verlorenheit,
eine Müdigkeit ist ihr zu eigen, die auch der unruhige Schlaf
nicht abstellen
kann. Erinnerungsfetzen durchziehen ihren Geist, Sekundenmuster. "Man
sagt, dachte sie, vor dem Tod eines Menschen ziehen seine Lebensbilder
vorbei.
Wenn das so ist, sterbe ich seit Jahren." Vor dem
großen Wasserbecken
trifft sie auf Tobias, und "indem sie nun in die Bewegung der
Fische
sah, schien ihr auf einmal der ganze Raum langsam zur Ruhe zu kommen.
(...) Sich
vom Erinnerungsvermögen lösen. (...) Es ist wie
schlafen, dachte sie. Fast wie
schlafen."
Dritter im Bunde ist ein alternder Wissenschaftler, Inhaber eines der
bedeutendsten Lehrstühle für Biochemie, der von
seiner Frau verlassen wurde
und nun seinen Schmerz in der Flughafenhalle mit Whisky und
Rauchen
zu betäuben versucht. Er passt scheinbar gar nicht in die
flüchtige Symbiose
von Tobias und Elis, was sich auch im geänderten Sprachstil
bemerkbar macht.
Werden die sich abwechselnden Porträts der zwei jungen Leute
von einem autarken
Erzähler wiedergegeben, lässt Overath "den
Raucher" - wie sie
ihn nennt - als Ich-Erzähler fungieren und verleiht ihm zudem
einen prekären
Abgang.
Mit klaren präzisen Sätzen, ohne Tand und
Schnörkel und mit unglaublich
sensibler Beobachtungsgabe nähert sich Angelika Overath zart,
behutsam und
beinahe lautlos dieser Flughafen-Fata Morgana. Sie lässt den
Leser in eine fast
geräuschlose Welt eintauchen, die dem Wasserleben kaum
nachsteht. An den Glaswänden
des Aquariums spiegelt sie die hektische Einsamkeit, die
(Lebens-)Müdigkeit der
Reisenden und vermittelt dadurch eine zarte aber gerade deshalb so
intensive
Nachdenklichkeit - eine kunstvolle Reduktion des Lärms unserer
Zeit.
Angelika Overath lässt in ihrem Roman "Flughafenfische" aus
drei
kapitelweise wechselnden Perspektiven Menschen und Geschichten
aufeinandertreffen und aneinander vorbeiziehen, jedoch nicht laut und
hektisch
sondern leise und gedämpft. Die Autorin offenbart, dass alles
mit allem
zusammenhängt, egal ob Fisch, Flugzeug oder Mensch, und das in
einem hohen Maß
an Wahrnehmungsstärke und einer fein abgestimmten Balance aus
Einsamkeit und Bewegung.
(Heike Geilen; 10/2009)
Angelika
Overath: "Flughafenfische"
Luchterhand Literaturverlag, 2009. 174 Seiten.
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Angelika
Overath, 1957 in
Karlsruhe geboren, studierte Germanistik und Geschichte. Sie arbeitet
als freie
Autorin und Literaturkritikerin. 1996 wurde sie mit dem
"Egon-Erwin-Kisch-Preis",
2005 mit dem "Thaddäus Troll-Preis" und 2006 mit dem "Ernst
Willner Preis" in Klagenfurt ausgezeichnet
Weitere Bücher der Autorin:
"Nahe Tage. Roman in einer Nacht"
Ein provozierend leiser Roman, der in die heimliche Intimität
einer
Mutter-Tochter-Beziehung führt, erzählt mit
Härte und Erbarmen, mit Staunen
und Glanz.
Johanna steht am Bett ihrer toten Mutter und hört, wie sie
atmet. Mit dieser
Sinnestäuschung beginnt die Inventur einer Kindheit. Den
Plastiksack mit den
letzten Habseligkeiten der Verstorbenen in der Hand, verlässt
Johanna das Krankenhaus,
in das sie zuletzt täglich von ihrem 100 Kilometer entfernten
Wohnort aus
angereist war. Nun kehrt sie zurück in die
mütterliche Wohnung, in der sie
selbst vor langer Zeit einmal gelebt hat. Zwanghaft sortiert sie die
Textilien
nach Temperaturverträglichkeit, und während das
Wasser in die Waschmaschine läuft
und die Trommel zu rotieren beginnt, werden kaum beachtete
alltägliche Dinge zu
Auslösern für die Erinnerung an vergessene
Wörter und Erlebtes. Früher
Selbstverständliches wie die tägliche Fahrt von
Mutter und Tochter zum Grab
des Großvaters erscheint nun in einem unheimlichen,
verstörenden Licht. Und überhaupt
wird plötzlich fragwürdig, was einmal so harmonisch
wirkte zwischen den
beiden. Die Genauigkeit und die bohrende Intensität, mit der
Angelika Overath
ihre Protagonistin die verschütteten Erinnerungen zur Sprache
bringen lässt,
gibt eine Ahnung davon, wieviel Ungesagtes darin mitschwingt. Ganz
ähnlich verhält
es sich auch mit den Geschichten aus dem Sudetenland, die Mutter und
Großmutter
seinerzeit mehr verschwiegen als erzählt haben.
Johanna, die immer wieder versucht, die Wohnung zu verlassen, sitzt
gespenstisch fest - bis sie gegen Mitternacht eine Pizza bestellt und die Pizzabotin
Svetlana, eine russlanddeutsche Lehrerin aus dem Kaukasus, sich zu ihr
an den Küchentisch setzt. (dtv)
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"Alle Farben des Schnees.
Senter Tagebuch"
Ferienorte sind flüchtige Heimat. Oft verbinden sie sich mit dem Wunsch, für
immer bleiben zu können. Und doch reisen wir ab. In der Regel. Die Reporterin
und Romanautorin Angelika Overath hat sich, zusammen mit ihrem Mann und dem jüngsten
Sohn, aufgemacht, aus einem Traum Realität werden zu lassen. Die Familie ist
nach Sent ins Unterengadin gezogen. Ihr Buch erzählt, wie sich Wahrnehmungen
und Lebensweise ändern, wenn das Feriendorf in den Bergen zum festen Wohnort
wird.
Jeder von uns hat einen Sehnsuchtsort. Aber kann man dort zu Hause sein? Was
geschieht, wenn eine Familie sich entschließt, von Tübingen ins Unterengadin
zu ziehen, nach Sent, ein Dorf auf einer Sonnenterrasse, 1430 Meter über dem
Inn? Verbraucht sich die Schönheit? Die hohen Berge, hinter denen schon Italien
liegt, sind nun Alltag, genauso wie die wunderbaren Juni-Wiesen vor dem ersten
Schnitt, die Bauernhäuser mit den Sgraffito-Fassaden, die alten Palazzi der
Zuckerbäcker, die Brunnen, an denen Teppiche gewaschen werden. Sechs Monate im
Jahr Schnee gehören ebenso dazu wie das Erlernen einer bedrohten Sprache: Rätoromanisch,
die Muttersprache der Einheimischen, für den kleinen Sohn nun die
Unterrichtssprache in der Schule.
Aber wie buchstabiert sich das Leben in der konkreten Utopie? Die Familie nimmt
Neues wahr und wird neu wahrgenommen. Mit dem ruhigen Blick der Reporterin
beobachtet Angelika Overath, wie ein vertrautes Ferienparadies zur neuen
Wohnadresse wird. Es ist möglich, sein Leben zu ändern. Und vielleicht zeigt
sich im anderen Land eine Schnittmenge Heimat. (Luchterhand Literaturverlag)
zur Rezension ...
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