Markus Orths: "Hirngespinste"
Markus
Orths' Roman "Hirngespinste" ist eine Fortsetzung seines Romans
"Lehrerzimmer".
Wer diesen (wie ich) allerdings nicht gelesen hat, wird im einleitenden
Prolog so weit an das Vorgeschehen herangeführt, dass er diesen Roman
auch Kenntnis der Handlung des Vorgängers unbenachteiligt verfolgen kann.
Kranichs erster Tag am
Hans-Dietrich-Genscher-Gymnasium in Frankfurt wird von einer
Einführung in das
neue Schulschlüsselsondersystem bestimmt. Nachdem er aber aus
Gründen, die Markus Orths
scheinbar nicht genau durchdacht hat, die Nacht in der dunklen Schule
verbringen muss, schmeißt er auch diese Stellung (ein paar Seiten
Gewissensbisse und Durchhalteversuche hätten der Sache gut getan) und entscheidet
sich, einer Ansage am Bahnhof folgend, den Beruf des Schriftstellers zu ergreifen.
"Noch nie habe ich einen Personenausruf auf einem Bahnhof gehört,
höchstens im Zug selbst oder auf Flughäfen, nicht aber in
Bahnhofsgebäuden. Und ich denke
jetzt, wo ich alles aufschreibe, dass ich mir die ganze Sache
vielleicht nur eingebildet habe. Aber das kann nicht sein, denk ich, zu deutlich
klingt mir die Durchsage im Ohr: Frau Erna Schreiber, bitte kommen Sie zur Information
... Schreiber, dachte ich, das ist es, was ich tun kann, Schreiber,
Schriftsteller, dachte ich, jemand, der einfach mal aufschreibt, was
Sache ist, schonungslos ..."
Den neuen Beruf herausgefiltert,
filtert er noch die mögliche Wohngelegenheit (Erbtante Erna) aus dieser
Ansage und macht sich auf den Weg nach Heidelberg. Dort angekommen,
entschließt er sich jedoch
zur billigen Miete und beginnt seinen Roman "Schulgeschichten", der
wider Erwarten ein großer Erfolg wird, geht auf
Lesereisen (hier lassen sich auch die
witzigsten Momente dieses Romans finden, speziell die schöne
grüne Steiermark scheint es Markus Orths angetan zu haben) und schreibt rasant einen
zweiten Roman, dessen Misserfolg ihn zwingt, doch Tante Ernas Unterkunft zu
beanspruchen.
Eine schwangere Schwester, ein Saunakumpan, ein Agent und der Verleger, kurz V., sind die weiteren Teilnehmer
dieser Farce auf den Literaturbetrieb, die doch ihre unterhaltenden Seiten hat.
"Wie sich herausstellte, hatte die Sache mit den Lesereisen einen Haken, und
zwar einen schwerwiegenden: Denn nach jeder Lesung trat der
Buchhändler nach vorn,
bedankte sich und überreichte mir - hier der Haken - eine
Flasche Wein. Am
ersten Tag nahm ich die Flasche strahlend entgegen ... Mein
Lächeln zeigte aber
schon Spuren von Verkrampfung, als ich am vierten Abend die vierte
Flasche Wein überreicht bekam ... Nach der sechsten Lesung begann ich,
Kleidungsstücke
auszusortieren, ich warf die eine oder andere Unterhose einfach fort
..."
Markus Orths' Gedankenstrom-Prosa ist bis
auf ein paar flapsige Formulierungen, die aber unter Umständen
aus dem Schwäbischen stammen könnten, da der Protagonist aus Göppingen
nach Frankfurt geflüchtet
war, recht flüssig. Die Dialoge sind auch recht spritzig, hie
und da aber leider auch komplett daneben.
"Superlastminute", sagte sie. "Stand-by. Da gibt's jede Menge."
"Was denn zum Beispiel?"
"Fuerteventura."
"Hm."
"Oder Ägypten."
"Hm."
"Oder Tunesien."
"Hm."
"Oder Marokko."
"Hm."
"Oder Malta."
"Hm."
"Oder Sardinien."
"Hm."
"Oder Stockholm."
"Hm."
"Oder Prag."
"Hm."
"Oder Sankt
Petersburg."
"Hm. Hm."
"Oder Moskau."
"Hm. Hm. Hm."
"Oder Kiew.
"Kiew?"
"Ja. Kiew."
"Mensch, ist das ein Zufall", sagte ich ...
Man liest rasch, die großzügig bedruckten
Seiten beschleunigen die Fahrt durch das Schriftstellerleben des Martin
Kranich, und nach ungefähr zwei Stunden ist das Buch vorbei und der
letzte Satz mit einer leichten Irritation verklungen. Die Ungereimtheiten bzw.
Ungenauigkeiten des Textes sind vergessen, die Nachwehen des Buches gering.
Ja, "Hirngespinste" hat gute Momente,
ist gute Lektüre für einen Abend, wenn man
über Kleinigkeiten hinwegsehen
kann, nicht mehr, nicht weniger. Als Farce über den
Literaturbetrieb verkommt
dieser Roman dann doch zur Seifenblase, speziell wenn man sich an die
starken Bücher
Philip Roths und vieler Anderer erinnert, die sich wirklich ernsthaft
mit dem Literaturbetrieb beschäftigt haben.
Markus Orths stellt dem Buch ein
humoristisch augenzwinkerndes quasi Zitat von, wie er schreibt "wahrscheinlich
Hugo
von Hofmannsthal" voran:
"Gelobt, gelobt wollen wir werden."
Vielleicht beim nächsten Mal.
(Roland Freisitzer; 08/2009)
Markus
Orths: "Hirngespinste"
Schöffling & Co., 2009. 158 Seiten.
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Hörbuchausgabe
(ungekürzte Lesung):
Sprecher: Torben Kessler.
Audiobuch, 2009. 3 CDs, Spieldauer ca. 225 Minuten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Tarnkappe"
Unsichtbar sein. Sehen können, ohne selber gesehen zu werden. Dinge tun, ohne
Konsequenzen fürchten zu müssen: Jeder hat sich das schon einmal gewünscht.
Simon Bloch, Mitte vierzig, erhält eine solche Chance. Seinen Lebenstraum,
Filmkomponist zu werden, hat er längst beerdigt und sich eingenistet in
alltäglicher Routine.
Da gelangt er vollkommen unerwartet in den Besitz einer seltsamen Kappe. Als er
sie aufsetzt, verschwindet er vor seinen eigenen Augen und spürt "ein
Knistern, etwas, was tief in ihm geschah und zugleich auf der Oberfläche, ganz
so, als kehre sich alles Verborgene nach außen und alles Äußere nach
innen". Blochs Leben gerät aus den Fugen. Zunächst versetzen ihn die
neuen Möglichkeiten in einen Rausch. Doch bald werden seine Fragen dringlicher:
Wer hat ihm die Tarnkappe zugespielt? Wie funktioniert sie überhaupt? Und: Was
macht sie mit ihm?
Um das herauszufinden, muss Simon Bloch Dinge tun, die er niemals für möglich
gehalten hätte.
Markus Orths verleiht einem faszinierenden literarischen Motiv seinen eigenen
mitreißenden Klang. Eine schwindelerregende, wilde Reise ins Nichts: hinein in
das, was wir nicht sehen können - oder nicht sehen wollen. (Schöffling &
Co.)
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Leseprobe:
Wie sich herausstellte, hatte die Sache mit den Lesereisen einen Haken,
und zwar
einen schwerwiegenden:
Denn nach jeder Lesung trat der Buchhändler nach vorn,
bedankte sich und überreichte
mir - hier der Haken - eine Flasche Wein. Am ersten Tag nahm ich die
Flasche
Wein strahlend entgegen, am zweiten Tag ebenso, und auch noch am
dritten Tag.
Mein Lächeln zeigte aber bereits Spuren von Verkrampfung, als
ich am vierten
Abend die vierte Flasche Wein überreicht bekam. Im Hotelzimmer
stellte ich die
vier Weinflaschen nebeneinander und rechnete hoch: drei Wochen,
sonntags frei,
also achtzehn Lesungen, macht achtzehn Flaschen Wein. Ich besah mir
meinen viel
zu kleinen Koffer und schluckte. Nach der sechsten Lesung begann ich,
Kleidungsstücke auszusortieren, um Platz zu schaffen, ich warf
die eine oder
andere Unterhose einfach fort, die waren ohnehin alt, auch
ließ ich meinen
verschwitzten Schlafanzug verschwinden und beschloss, nackt zu
schlafen, es war
noch angenehm warm für September. Nach der zehnten Lesung
kaufte ich mir in
Dortmund einen Trekking-Rucksack von Jack Wolfskin, in dem ich eine
faltbare
Flaschenlagerungsbox verstaute, die Platz bot für
zwölf Weinflaschen, und als
das nicht mehr reichte, besorgte ich mir eine zweite
Flaschenlagerungsbox mit
Rollen und Griff, die ich hinter mir herzog. Von Hotel zu Hotel
schleppte ich
die Weinflaschen, die immer schwerer wurden, mit Kreuzweh saß
ich abends bei
den Lesungen, weil ich mich beim Hineinhieven der Flaschen in den Zug
verhoben
hatte. Aber es gelang mir schließlich, sämtliche
achtzehn Weinflaschen
unversehrt nach Heidelberg zu bringen.
In den bitteren Nächten vor Beginn meiner zweiten, viel
längeren, der sechswöchigen
Lesereise durch Bayern und Österreich konnte ich nicht
schlafen. Ich wälzte
mich im Bett hin und her und überlegte fieberhaft, wie ich dem
Problem des
Weinflaschentransports Herr werden könnte. Meine ganze Kraft
wurde von dieser
einen und entscheidenden Frage absorbiert, wie ich es würde
anstellen können,
aller Voraussicht nach sechsunddreißig Weinflaschen von
Österreich über die
Alpen nach Heidelberg zu transportieren. Hannibal, dachte ich, hat es
mit
Elefanten geschafft. Ich lag schweißgebadet da. Mir fiel
nichts ein.
Schließlich, bei meiner ersten Lesung, in Salzburg,
saß ich bleich auf dem
Stuhl und schielte immer wieder zum Buchhändler, um zu
erspähen, ob nicht
irgendwo eine verpackte Weinflasche darauf wartete, mir
übergeben zu werden.
Nach der Lesung näherte sich der Buchhändler meinem
Tisch. Ich schwitzte. Er
reichte mir die Hand, nein, keine Weinflasche! Ich wäre ihm am
liebsten um den
Hals gefallen. Diese Österreicher!, dachte ich, die
blicken’s total! Die
haben’s drauf! Ich war aufgeräumt wie lange nicht
mehr und blieb mit dem
Buchhändlerehepaar noch bis Mitternacht im Weinstüble
sitzen. Ich war kurz
davor, ihnen zu eröffnen, dass ich sie ins Herz geschlossen
hätte wie keine
anderen Buchhändler bislang, dass nicht nur die Organisation
perfekt gewesen
sei, die Ankündigung, die Moderation, das Ambiente, einfach
alles, vor allem
die Tatsache, dass man auf dieses verdammte Ritual mit der Weinflasche
verzichtet habe, als sich plötzlich die Frau des
Buchhändlers an die Stirn
schlug und sagte: "Ah geh, jetzt homma die Weinflosch’n
vagess’n." Ich
erstarrte. Saß zwanzig Minuten später mit einer
unausgepackten Flasche im
Hotelzimmer. Diese Knisterfolie, in die man die Weinflaschen
einwickelt! Diese
durchsichtige Blumenverpackungsknisterfolie! Dieses Geräusch,
das mir eine Gänsehaut
bereitet, wenn ich nur daran denke! Ich riss die Folie ab. Ich
zerknüllte sie.
Aber sie ließ sich nicht zerknüllen, sondern
kleisterte sich mit demselben
ekelhaften Knistern wieder auf. Also gut, dachte ich, es bleibt mir
keine Wahl.
Der Wein muss weg. Ich muss ihn saufen. Ich entkorkte ihn und kippte
ihn
innerhalb von zwei Stunden.
Am Morgen hatte ich einen Schädel. Doch die Zugfahrt verlief
angenehm lullig,
und bei der nächsten Lesung, in der Steiermark,
war ich wieder einigermaßen nüchtern.
Ganz im Gegensatz zum Publikum
in
der Steiermark und zu den
steiermärkischen
Buchhändlern. Die waren schon vor der Lesung, na ja, nicht
völlig besoffen,
aber immerhin angeheitert, und ließen sich dann nach der
Lesung so richtig
gehen. In der Steiermark, hieß es, könne es
überhaupt keine andere Existenz
geben als die besoffene, die steiermärkische Existenz sei
gerade dadurch
definiert, dass sie eine besoffene sei, nur durch ihre Besoffenheit sei
eine
Existenz in der Steiermark überhaupt aushaltbar, und ich
dachte, das gilt nicht
nur für die Steiermark, das gilt auch für das
Burgenland, für Tirol, das gilt
erst recht für das Ruhrgebiet, für die Wetterau,
für das Alemannische, das
gilt im Grunde für alle Regionen nicht nur
Österreichs, auch Deutschlands und
der Schweiz, und ich war froh, dass man in der Steiermark so
selbstbewusst war,
die Sache wenigstens beim Namen zu nennen. Ich machte mir also die
steiermärkische
Grundhaltung zu eigen und sagte mir, auch die Lesereise-Existenz ist
per se eine
besoffene, kann nur eine besoffene sein, nur durch die
Besoffenheit
ist
eine
Lesereise-Zug-und-Hotel-Existenz überhaupt aushaltbar. Fortan
trank ich nicht
nur mit den Buchhändlern nach der Lesung das eine oder andere
Viertele, sondern
leerte auch anschließend, im Hotel, allein, für
mich, die mir geschenkte
Flasche Wein, über die ich mich jetzt doch endlich freuen
konnte.
So brachte ich die zweite Lesereise versöhnt, eingeweiht und
im Zustand der
vollkommenen Lesereisenweisheit hinter mich, kam ohne jede Weinflasche,
aber mit
einer Gewichtszunahme von rund vier Kilo über die Alpen nach
Heidelberg und
freute mich auf die zu Hause wartenden unangebrochenen Weinflaschen der
ersten
Lesereise. Als diese achtzehn Flaschen nach fünf Tagen leer
waren, meldete ich
mich beim Verlag für die nächsten sechs Monate ab und
in Bad Griesbach an, zu
einer Entziehungskur. (...)