Hanns-Josef Ortheil: "Lesehunger"
Ein Bücher-Menü in 12 Gängen
Im
Schlaraffenland des Lesens
Lesen ist eine der wichtigsten Kulturfertigkeiten, die wir Menschen uns
zu Eigen gemacht haben und ein durchaus wichtiger Teil der
Kommunikation
mit hohem Stellenwert. Man reflektiert und
überdenkt das Gelesene, gewinnt vielleicht Erkenntnis bzw.
sammelt durch das Hineinversetzen in andere Zeiten und Personen (z. B.
in der Belletristik) Erfahrungen aus zweiter Hand. Es geht nicht um ein
eigenes "Mästen" mit den Ideen und Gedanken anderer Leute,
sondern - und darauf hat bereits
Montaigne
hingewiesen - um das Anregen
des eigenen Denkens, um es in Fahrt zu bringen. Vielleicht reagiert man
sogar auf die Schwingungen einer inneren Erzählstimme und
bewegt "sich in einem stimmlich-räumlichen Kosmos".
Doch was für den Einen beinahe Obsession sein kann, wird
für den Anderen zur Qual und Anstrengung. Vielleicht ist die
Reduzierung des Lesens zu einem unbedingten Verstehen-Wollen, wie es
allerorts in der Schule praktiziert wird, der Grund für manche
Aversionen. Hanns-Josef Ortheil, der Autor des wunderbaren kleinen
Lesemenüs, ist sich sicher, dass dieses "richtige
Verstehen" eines Textes "eine der grausamsten
Disziplinierungen des Lesens überhaupt" darstellt
und darin der Grund zu suchen ist, dass Schülerinnen und
Schüler mit den Jahren immer lustloser und
schließlich überhaupt nicht mehr lesen.
Vielleicht fungiert sein "Büchermenü in 12
Gängen" - wie es der Untertitel verrät - als kleine
Appetitanregung, doch wieder ein Buch in die Hand zu nehmen, Bilder und
Bildzusammenhänge im Kopf herzustellen, ja, einzutauchen in
eine visuelle Fantasiewelt. Empfehlungen gibt der Autor jedenfalls
zuhauf. Aber auch oder gerade für den Vielleser entpuppt sich
die Lektüre als wahre Quelle und Fundgrube noch zu
erschließender oder vielleicht wieder einmal zur Hand zu
nehmender Literatur.
Appetitlich angerichtete Lesemenüs
Der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und
Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim hat
für sein Buch eine raffinierte Form gewählt.
Aufgebaut als Zwölf-Gänge-Menü, das er
jeweils an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit einer fiktiven
Journalistin vorbereitet, serviert, einnimmt und genießt,
gibt der obsessive Vielleser Ortheil Leseempfehlungen und
Leseanregungen in Hülle und Fülle. Doch diese
geballte Ladung an guter Literatur erschlägt den "Konsumenten"
keineswegs, denn der Autor "verkauft" sie auf "appetitlich
angerichtete", lockere Art und Weise.
Während des zwanglosen Gesprächs führt
Ortheil die Besucherin durch verschiedenste Bereiche seines
Westerwald-Grundstücks, mit vielen kleinen Plateaus,
Aussichtsterrassen und in seine ureigensten "Lesekapseln".
Dies sind meist kleine Räumlichkeiten, die auf dem
Grundstück verstreut liegen. Einmal ein marginales
Gartenhäuschen, ein Pavillon oder eine Blockhütte, in
der er seiner Gesprächspartnerin die unterschiedlichsten
Literaturmenüs darreicht. Diese ranken sich um Gedanken
über das Lesen im Allgemeinen oder aber "Champagner" - und
grandseigneurale Lektüren im Besonderen. Ein anderes Mal
wiederum schwelgt Ortheil in sogenannten Küchen-, Tee-, Reise-
und Fern-Lektüren, plaudert über Essays und Kolumnen
oder gibt Lektüreempfehlungen für junge Schreiber.
Lesen heißt, einen Appetit stillen
Alles in allem offeriert Ortheil eine großartige Mixtur aus
verschiedensten Genres und literarischen Themengebieten, die gleichwohl
Grundzüge einer Reise annimmt, "als ein Aufbruch in
Neuland, ein Sich-Niederlassen hier und dort, als Aufbau von
Wegstationen, als Verzehr von Proviant, als erneuten Aufbruch ..."
An das Ende jedes Kapitels bzw. Menüs stellt der Autor eine
Zusammenfassung aller im vorangegangen Gespräch
erwähnter Titel, so dass es ein Leichtes ist, sich seinen ganz
persönlichen Favoriten in der nächsten Buchhandlung
zu bestellen.
Warum diese ungewöhnliche Form? Hier soll Hanns-Josef Ortheil
selbst zu Wort kommen: "Man kann das Lesen sehr gut mit
Nahrungsaufnahme vergleichen, ja, man kann sagen: Das Lesen ist die
Befriedigung einer bestimmten Form von elementarem Hunger. Und weiter:
Lesen heißt, einen Appetit stillen. Ich meine das nicht in
einem metaphorischen Sinn, sondern ich meine es konkret und
wörtlich. Lesen ist die Zuführung einer bestimmten
Speise, und diese Speise ist nicht nur 'geistiger Art', wie man oft
sagt, sondern immer auch etwas Sinnliches."
Und vielleicht wird nach Abschluss dieser delikaten Lektüre
folgendem Text
Marcel
Prousts aus "Tage des Lesens" wieder eine
besondere Bedeutung zukommen: "Es gibt vielleicht keine Tage
unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir
glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene
nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben ... "
Lesen macht die Welt fühlbar und erlebbar und "lässt
uns ihre von der Geburt an gegebene Kälte und Fremdheit
überwinden", ist der Autor überzeugt, dem
die Rezensentin uneingeschränkt zustimmen kann.
Conclusio:
Keinen Kanon unbedingt zu lesender Bücher stimmt Hanns-Josef
Ortheil in "Lesehunger" an, sondern er erzeugt durch die lockere Art
und Weise des Buchaufbaus große Appetitanregung und Freude an
unvorhergesehenen Lektüremixturen. Eine unbedingte Empfehlung
für alle Bibliophilen wie auch für die, die das Lesen
wieder neu für sich entdecken wollen.
(Heike Geilen; 05/2009)
Hanns-Josef
Ortheil: "Lesehunger. Ein Bücher-Menü in 12
Gängen"
Sammlung Luchterhand, 2009. 240 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
"Kunst der Erinnerung, Poetik der Liebe. Das erzählerische
Werk
Hanns-Josef Ortheils"
Herausgegeben von Stephanie Catani, Friedhelm Marx und Julia
Schöll
Hanns-Joseph Ortheil: Literaturwissenschaftler, -kritiker, Lektoren und
der
Autor selbst untersuchen sein Werk.
Geschichte, Kunst und die Liebe: Das sind die großen Themen
im Werk von
Hanns-Joseph Ortheil. Die frühen Romane greifen
historisch-politische Zäsuren
deutscher Vergangenheit auf, indem sie von der deutschen
Nachkriegsgeschichte
und der konfliktbeladenen Auseinandersetzung mit der
Vätergeneration erzählen.
Jüngere Texte thematisieren Kunst und
Künstlerfiguren. Sie begleiten
Goethe
durch Rom ("Faustinas Küsse"), berichten
von
Mozart und der
glanzvollen Uraufführung seines "Don Giovanni" in Prag ("Die
Nacht des Don Juan") oder tauchen ein in den Farbenrausch eines jungen
Malergenies im Venedig des 18. Jahrhunderts ("Im Licht der Lagune").
Mit "Die große Liebe" und
"Das
Verlangen nach Liebe"
gelingt Hanns-Josef Ortheil schließlich eine Wiederbelebung
des Liebesromans
als ästhetisches Manifest.
Die Autoren widmen sich intertextuellen Bezügen ebenso wie
zentralen Topoi,
lesen Ortheils Texte als Künstler-, Familien- und Liebesromane
und folgen damit
dem Autor selbst, der im Gespräch mit Heinz-Jürgen
Dambmann einleitend "aktuelle
Projekte des Liebesromans" poetologisch bestimmt. (Wallstein Verlag)
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