Hanns-Josef Ortheil: "Die Erfindung des Lebens"


Lebensbilder - Klangräume

"Wenn ich irgendwo auf einer Straße oder einem Platz plötzlich Live-Musik höre, setzt die Hypnose ein. Ich bleibe stehen, ich höre wie gebannt zu. Es kommt nicht darauf an, dass ich die Musik kenne oder dass sie besonders gut präsentiert wird, nein, es kommt auf den Klang an sich oder, einmal pathetisch gesagt, es kommt auf die Offenbarung des Klangs an. Der Alltag um mich herum tritt zurück, die Klänge beherrschen den gesamten Raum, ich stehe oder sitze da wie in Trance und empfinde das Glück der Musik."

Warum übt gerade Musik, egal ob wir nun besonders musikalisch sind oder jeden Ton schief singen, auf uns eine große Macht aus? Sie hat keine Begrifflichkeit, und es fehlt ihr an Bildern und Symbolen; dem Stoff, aus dem die Sprache ist. Trotzdem ist sie wahrscheinlich schon seit den frühesten Anfängen unserer Art von zentraler Bedeutung. Das im Jahr 2008 auf Deutsch erschienene Buch "Der einarmige Pianist" des Londoner Neurologen Oliver Sacks wusste bereits einfühlsam, sensibel und klug über die geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen dem menschlichen Gehirn und dem heilenden Einfluss der Musik zu berichten.

Heilend - im gewissen Sinn - ist die Musik auch für Johannes Catt - Ortheils Alter Ego in seinem Roman "Die Erfindung des Lebens". Weil seine Mutter nach einem schweren Schicksalsschlag ihre Sprache verloren hat, bleibt er bis zu seinem siebenten Lebensjahr stumm. Er wächst in einer Art autistischer Symbiose zu ihr auf; in einem Spielzeugland, in einer beinahe großen geräuschlosen Zone. Nichts kann in die kleine Gemeinschaft, den Geheimbund eindringen, ihn stören. Nur der Vater fungiert als verbindendes Glied zur Außenwelt.
Erst mit der Anschaffung eines Klaviers kommt es zu einer Art Befreiung des Ausgeschlossenen aus der Welt der "Normalen". Das Spiel bedeutet für Johannes das Ende der demütigenden Tage als Außenseiter, als "der Idiot". "Ich war nicht länger ein kleines, wenig beachtetes Etwas, nein, ich war nun ein Klavierspieler, der das fehlende Sprechen durch das Klavierspiel ersetzte und sich mit Hilfe dieses Spiels auszudrücken versuchte."

Und die Musik ist es wohl, die seine visualisierte Welt, seine Bilderflut im Kopf, letztendlich doch noch in Sprache umsetzt, die Klang und Bilder vereint. Bei einem längeren Aufenthalt auf dem Land, gemeinsam mit seinem Vater, aber ohne die Mutter, spricht Johannes seine ersten Worte, und tagtäglich kommen neue hinzu. "Es war eine unglaubliche Befreiung aus dieser Stadt heraus zu sein und von all diesen Menschen, die einen dauernd beobachten, weg zu sein. (...) Das war das erste Mal gewesen, dass ich gemerkt habe, dass ich einen Körper habe, der etwas anderes macht, als sich zurückzuziehen."

Sein bisheriges Leben, "ein stummes Durchwandern langer Museumsfluchten mit lauter Bildern an den Wänden (...), zu denen mir jede Unterschrift und jede Erklärung gefehlt hatten", scheint ad acta gelegt. Sein Dasein, ein gedämpfter "Schwarz-Weiß-Film mit einem dumpfen, wackligen Ton (...) durchdrungen von einer nicht abzuschüttelnden Melancholie", scheint langsam in eine impressionistische Stofflichkeit aus hellen Farben überzugehen. Auch die Mutter findet zur Sprache zurück. Die Lebensgeschichte des Kindes nimmt eine positive Wendung. Aus dem einstigen Schulversager wird ein gefeierter Pianist, der sich abnabelt, am römischen Konservatorium Klavier studiert und letztendlich ein renommierter Schriftsteller wird. Doch die Dämonen der Kindheit lassen sich durch das Schreiben nicht endgültig bannen - das glückliche Ende gibt nur vermeintlich Sicherheit: "Ich habe immer das Gefühl, das kann auch jederzeit wieder zusammenbrechen. Ich hab' immer das Gefühl: bis jetzt noch, aber irgendwann isses wieder weg. Das ist derart eingeimpft, weil es in meinem Leben derart oft passiert ist, dass aus relativ gelungenen Momenten wieder ein Scheitern eintrat."

"Die Erfindung des Lebens" ist Hanns-Josef Ortheils persönlichstes Buch, die nacherzählte Lebensgeschichte eines begabten, aber behinderten Kindes. Sein Roman ist derart außerordentlich und wunderbar, dass er wohl selbst den hartgesottensten Leser mitfühlen lässt. Die Rahmenhandlung hat der Autor in Rom angesiedelt. Dort, wo er seine schönsten Jugendjahre verbracht, aber auch den Zusammenbruch seiner Zukunftspläne erlebt hat, schreibt er mit nunmehr fast dreißigjähriger Distanz an seiner "Lebenserfindung". Aus einzelnen Fragmenten und Erinnerungen setzt er seine Welt zusammen, immer wieder unterbrochen von gegenwärtigen musikalischen Einflüssen, so in Gestalt einer begabten römischen Klavierschülerin, die in seiner Nachbarschaft wohnt. Die Klangbilder seiner Kindheit schwingen dabei bis in die Gegenwart und bestimmen sein aktuelles Handeln und Tun. So entsteht eine raffinierte Dualität von Ereignissen und Stimmungen, eine sensibel verschränkte Komplexität zwischen Gestern und Heute. Dies macht die Lektüre zu einer körperlich-sinnlichen Erfahrung.

"Die Erfindung des Lebens" ist ein wunderbares, einfühlsames, berührendes, aber nie kitschig oder schwülstig geschriebenes introspektives Lebenspsychogramm eines zunächst stummen Kindes, das durch die Kraft der Musik seinen Kokon sprengt und die Liebe zur Sprache entdeckt. Es ist die Geschichte von Hanns-Josef Ortheil, der sein Leben immer wieder neu erfinden musste - "eine Melodieführung mit Nebenstimmen und starken Akkorden".

"Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen ..." (H.-J. Ortheil)

(Heike Geilen; 10/2009)


Hanns-Josef Ortheil: "Die Erfindung des Lebens"
Luchterhand Literaturverlag, 2009. 591 Seiten.
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