Véronique Olmi: "Die Promenade"


Die letzte Überlebende der bolschewistischen Revolution

Was bedeutet die Vertreibung aus dem Heimatland? Wie ist die Suche nach einer inneren, einer geistigen Heimat im Exil zu verstehen? Mit diesen existenziellen, damals wie heute wichtigen Fragen werden Emigranten lebenslang konfrontiert.

"Sie hatte sich im Jahr 1901 verschanzt, dem Jahr, in dem sie beide geboren waren, Anastasia Romanow und sie. Sie hängt an diesem Jahr, als wären in ganz Russland nur zwei Kinder zur Welt gekommen: Ihre Hoheit und sie. [...] Manche reservieren einen Tisch im Restaurant, damit sie auch bestimmt erwartet werden und einen guten Platz bekommen, meine Großmutter hat den Beginn des 20. Jahrhunderts reserviert ...". Dies stellt die dreizehnjährige Sonja, von ihrer Großmutter liebevoll "Sonjetschka" genannt, mit einem leicht genervten Unterton über selbige fest. Mascha Sergejewna - so heißt sie - ist Exilrussin. Einst offensichtlich in eine wohlhabende Familie des zaristischen Russlands hineingeboren, von den Bolschewiki jedoch aus dem Land getrieben, lebt sie seit 1924 als Flüchtling in Frankreich. Nizza, der mondäne Badeort am Mittelmeer, ist ihr neuer Aufenthaltsort. Doch den Blick hält sie immer noch erwartungsvoll nach Russland gerichtet. Aber das Land, nach dem sie Heimweh hat, existiert nicht mehr. Babuschka, meint Sonja, scheint "immer neben der Spur oder vielmehr dahinter" zu sein, "Sie ist zu groß, mit zu vielen Erinnerungen, um im gleichen Rhythmus wie die anderen zu gehen."

So wächst das junge Mädchen, Enkelin dieser russischen Immigrantin, in den 1970er-Jahren in deren muffiger Wohnung auf. Den Vater sieht sie kaum, aber auch ihre Mutter bekommt sie selten zu Gesicht. Diese wandelt in einem ständigen Gehen und Wiederkommen, weiß nicht, wohin sie gehört: keine richtige Russin, denn bei der Flucht war sie noch zu klein, aber auch keine Französin, obwohl sie diese mit aller Macht zu leben versucht. "Meine Mutter verbringt ihre ganze Zeit damit, in alle Züge und aus allen Zügen zu steigen, die vorbeikommen", stellt Sonja fest.

Gedächtnisspeicher
Das Unstete der Mutter und vor allem die nervige Großmutter, die ständig Angst hat "zu stürzen, sich schmutzig zu machen, mich verschwinden zu sehen", da der russische Geheimdienst sie verschleppen könnte, die höchstens zwei Minuten am Tag schwimmen darf, denn sonst könnte sie ertrinken, prägen auch Sonja. "Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich existiere, ob ich nicht so was wie ein kleines durchsichtiges Mädchen bin." Vor allem "Babuschkas" offensichtliches Wissen über das Schicksal der Zarentochter Anastasia macht Sonja zu schaffen. Unzählige Briefe verfasst die alte Frau an den Herausgeber der Zeitschrift "Historia", in denen sie ihm mitteilt, dass sie wisse, was damals wirklich passiert sei. Und Sonja muss sie sich anhören, langweilt sich dabei zu Tode oder flüchtet in Tagträume.

Doch eines Tages passiert genau das, wovor sich die alte Dame fürchtet: Sie stürzt und kommt ins Krankenhaus. Nun kehrt sich die Medaille. Sonja ist fortan für ihre Großmutter da und versteht nach und nach die Ängste der zerrissenen Frau. Sie spürt, dass diese jemanden braucht, dem sie ihre Geschichte erzählen kann.

Das ängstlich behütete Mädchen wird im Verlauf des Jahres selbstständig. "Irgendetwas sagte mir, dass ich bald an der Reihe sein, dass ich bald ein Recht auf mein eigenes Leben haben würde, dass mich eine Menge neuer Erlebnisse erwarteten, die ich mir noch gar nicht vorstellen konnte, das ’Schicksal’, würde meine Großmutter sagen. [...] Ich habe meiner Kindheit den Rücken gekehrt und sie nie wieder angesehen."

Letztendlich wird Sonja das "Gedächtnis ihrer Großmutter" und verkündet dieser, dass sie Schriftstellerin werden will.

Als Gedächtnisspeicher fungiert letztendlich auch Véronique Olmi, indem sie sich von der Geschichte ihrer eigenen Großmutter inspirieren ließ, deren Erlebnisse sie literarisch verwebt und in diesem originellen kleinen Künstlerroman zu Papier gebracht hat.

Ihr Duktus zeichnet sich durch eine klare und gleichzeitig poetische Sprache aus und offenbart neben Erinnerungen an ihre "Babuschka" und deren russische Wurzeln gleichzeitig auch einen einfühlsamen Blick in den Zufluchtsort russischer Emigranten: ein Nizza fernab des edlen, mondänen und luxuriösen Ambientes des Badeorts an der Côte d'Azur.

Conclusio:
"Die Promenade" ist ein trauriger, gleichzeitig aber auch sehr komisch erzählter kleiner, autobiografisch geprägter Roman der in Frankreich sehr bekannten Autorin Véronique Olmi. Es ist die Geschichte eines dreizehnjährigen Mädchens, das sich von seiner Familienvergangenheit befreien, seine russische Herkunft jedoch nicht verleugnen möchte.

(Heike Geilen; 05/2009)


Véronique Olmi: "Die Promenade"
(Originaltitel "La Promenade de Russes")
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
Verlag Antje Kunstmann, 2009. 240 Seiten.
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