Ulrich Holbein: "Narratorium"
"Nieder
mit der Schwerkraft, es lebe der Leichtsinn!"
"Es gibt mehr Narren als Weise, und im Weisen selbst steckt mehr
Narrheit als Weisheit." (Nicolas
Sébastien Roch de Chamfort)
Die Faschingszeit ist vorbei, und die Fastenzeit hat Einzug gehalten.
Allerorts sah man in den Hochburgen die Jecken und
Narren durch die Straßen ziehen. Die
Karnevalstradition ließ ganze Städte
während der "fünften Jahreszeit" lahmlegen. In vielen
Gemeinden hatten die Narren die Herrschaft übernommen.
Der Narr: Im Mittelalter war er ein Spaßmacher, der
für Unterhaltung und Belustigung sorgen sollte und meist
auffällig gekleidet war. Aber diese Bezeichnung wird auch gern
Personen gegeben, "die sich sehr unreif, dumm, tollpatschig,
voreingenommen, vorurteilsbehaftet und unwissend verhalten und die sich
auf Basis ihrer Unwissenheit als Gelehrte aufplustern, ohne ihre
Unwissenheit zu erkennen, weil sie denken, ihre Unwissenheit sei
großes Wissen", kann man in der freien
Enzyklopädie "Wikipedia" lesen.
Was nun aber ist ein "Narratorium"? Ulrich Holbein hat eines
geschrieben. Auf über 1000 engbedruckten,
großformatigen Seiten bietet er eine "kleine" Narrenkunde
für Anfänger. "Die Welt wimmelt von
Normalnarren und Extremnarren", beginnt der Autor sein Werk, "und
zwar jede Welt. Hinzu kommen Scheiche, Spinner und Schelme, und nicht
zuletzt Oberspinner und - viele andere Sorten und Typen.
Öffnest du eine Tür, kommen 333 herein!"
Zwar nicht 333, sondern "nur" 255 Porträts von Amazonen,
Sonderlingen, Clowns, Gurus, Wracks, Ikonen, Musen und Zickzackdenkern
sind es insgesamt, die Holbein in seinem Kompendium versammelt.
Unerschöpflicher Ideenreichtum und virtuose
Sprachkunst
Der Autor gehört wohl selbst ein bisschen zu ihnen. 1953 in
Erfurt geboren, lebt er eremitenhaft im nordhessischen
Knüllgebirge und spinnt allem Anschein nach auch ein wenig.
Zumindest nennt er sich nach eigenem Bekunden
Wolkenkuckuck und Zu-Spät-Romantiker.
Und ein bisschen sieht er auch danach aus. Mit langem Bart, bleich und
mit Ausnahme seiner roten Socken ganz in schwarz gekleidet, las Ulrich
Holbein mit sanfter Stimme zur Frankfurter Buchmesse 2008 aus seinem
Buch.
Der studierte Theologe und Biologe, der auch schon als freier Maler und
als Hilfspfleger arbeitete, ist seit Ende der 1977
ausschließlich Autor. Er schrieb unter anderem für
die "ZEIT", die "FAZ" und die "Süddeutsche" Kolumnen und
veröffentlichte in diversen Verlagen einige Bücher
(u. a. "Der illustrierte Homunculus"). Von seinem schier
unerschöpflichen Ideenreichtum und seiner virtuosen
Sprachkunst zeugt zum Beispiel sein Roman "Isis entschleiert", der
komplett aus Text- und Bildzitaten konstruiert ist.
Das "Narratorium" ist übrigens die 888.
Veröffentlichung Holbeins, sein 22. Buch, und die 11 ist die
Zahl der Narren. Zufall oder gezielte Publikation?
Ob das Buch nun wirklich für Anfänger geeignet
scheint, das mag bezweifelt werden, denn sämtliche Artikel
offenbaren eine verrätselte und fantasievolle Sprache, von der
kulturgeschichtlichen Wissensüberhäufung ganz zu
schweigen. Viele Verweise und Anspielungen erschweren die Lesbarkeit
zusätzlich. Aber über allem liegt ein Schuss feiner
Ironie, und wie es Holbein schafft, mit ein, zwei (manchmal auch drei
oder vier) Pinselstrichen den jeweiligen Narren herauszukehren, ist
schon beinahe genialistisch zu nennen.
Nicht ganz leicht zu lesende Kost
Alphabetisch geordnet treffen dadurch Personen zusammen, die einander
im realen Leben niemals begegnet sind und nicht im Entferntesten etwas
gemein haben. So rahmen der "Wortschaum-Prophet"
Ernst Bloch (1895-1977) und der eher unbekannte "Quellgrundmystiker
und Drauflostheosoph" Jakob Böhme (1575-1624) den
prominenten "Musik- und Kohlemacher, Erfolgskanone,
Frauenheld, Schlager-Millionär und Pop-Titan"
Dieter Bohlen ein. Oder aber Osama bin Laden
wird von der Sagengestalt des Orpheus
und dem Sexguru und Erleuchtungsbuddha Osho (1931-1990) flankiert.
Fiktive Gestalten reihen sich an bekannte und unbekannte Personen der
Zeitgeschichte.
Die Artikel enthalten neben den Lebensdaten der "Narren" jede Menge
Zitate, Zeitungsausschnitte, Anekdoten und Überlieferungen von
Anderen. Zahlreiche farbige Fotos sowie Collagen und Illustrationen des
Autors höchstpersönlich lockern die nicht ganz leicht
zu lesende Kost auf. Es empfiehlt sich auf jeden Fall, das Werk in
Einzelhäppchen zu genießen. Wie bei jedem Lexikon
ist eine durchgängige Lektüre von A bis Z nicht
empfehlenswert und auch gar nicht möglich. Die immense
Wissensfülle des Autors würde den Leser schier
erschlagen. Er selbst stellt sich das Leseerlebnis seines Buches wie
folgt vor: "Ich habs aber so gemacht, dass Trommelfeuer und
Überreizung - insofern auch Prüfstein und
Vivisektion: was hält einer durch, bis er etwas erlebt, was
ihm bisher entging - in ein Delirium hineinzwingen, das selbst dumpfen
oder auch transzendenzkritischen Sensorien dann plötzlich die
Gabe des Umkippens in 3-D-Sehen und ins plötzliche
Rhythmushörenkönnen abverlangt oder gewährt."
Fazit:
"Narratorium" ist ein ausgefallenes, skurril, groteskes, kluges,
amüsantes, respektloses, "abgefahrenes" und etwas
verschrobenes Buch über "Halb-, Schein- und wirklich Heilige",
über mystische, spirituelle oder göttliche Narren,
seien es nun Päpste, Massenmörder und andere Irre.
"Aber warum sehn die alle so glücklich aus?",
fragt Holbein sich im Vorwort selbst. Seine Antwort: "Weil
sie rosarote Brillen aufhaben, Flöhe im Ohr, Rosinen im Kopf
und verblüffend wenig Tassen im Schrank. Sie strampeln sich
aus Zwangsjacken frei. Diese glühenden Augen! Wofür
demonstrieren die alle?"
(Heike Geilen; 03/2009)
Ulrich
Holbein: "Narratorium"
Ammann Verlag, 2008. 1008 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Rudi Palla: "Kurze Lebensläufe der Narren"
Kennen Sie Florence Foster-Jenkins, die Mörderin des hohen C?
Ist Ihnen Helmut
Flatzelsteiner ein Begriff, der sich die Gebeine von Mary Vetsera, der
Geliebten
von
Kronprinz
Rudolf, "ausborgte", um das Rätsel von Mayerling zu
lösen?
Rudi Palla, der Chronist des Abseitigen, ist diesen Narren im Wortsinn
nachgegangen und stellt uns diese Hochstapler, Abenteurer, Gauner und
Verführer
vor. Doch er liefert keine bloße
Kuriositätensammlung, sondern schildert in
der unterhaltsamen Biografie dieser Exzentriker auch die Geschichte
ihrer Zeit.
Unter Anderen treten auf: August der Starke und sein "Kurzweiliger
Rat" Josef Fröhlich, der Abenteurer und k.u.k. buddhistische
Mönch Ignaz
Trebitsch-Lincoln, der französische Architektur-Utopist Pierre
Giraud, der
"Wirrwarr-Baumeister" Ferdinand Cheval und William McGonagall, der
schlechteste Dichter aller Zeiten. (Zsolnay)
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