Mo
Yan hat, wie er im Nachwort
beschreibt, zur Anfertigung des Manuskripts in handschriftlicher Form
nur 43
Tage benötigt, was bei den vorliegenden 812 Seiten Text
nachgerade unglaublich
erscheint.
Die Geschichte beginnt mit dem Neujahr des Jahres 1950, und im Zuge der
Revolution wird der Großgrundbesitzer Ximen Nao von
revolutionären Kräften
auf einer Brücke hingerichtet. Ein Umstand, den er nicht so
ohne Weiteres
hinnehmen möchte, und so macht er dem
Höllenfürsten Yama das Leben zur Hölle,
als er auch unter fortwährenden
Foltern
einfach nicht zugeben
möchte, dass die
Leute ihn mit Recht getötet hätten. Er verlangt eine
Revision. Völlig
entnervt gibt Yama schließlich nach und leitet die
Wiedergeburt von Ximen Nao
ein; diesmal allerdings als Esel, was den Protagonisten erst recht
verdrießlich
stimmt.
In dieser Gestalt erlebt er an der Seite des Bauern Lan, der sich
standhaft
weigert sich kollektivieren zu lassen, die Kollektivierungswelle in der
chinesischen Landwirtschaft und in der Industrialisierung in der
Provinz Gaomi
wie auch die ständigen Anfeindungen, denen sein Herr wegen
seiner Sturheit
ausgesetzt ist.
Daneben muss er allerdings auch mit der Unbill des Lebens als Esel
zurechtkommen, was durch gelegentliche nostalgische
Rückfälle in sein altes
Ich nicht unbedingt angenehmer wird. Als er dann nach vielen Jahren
während
einer extremen Hungersnot
den Weg zurück vor Yamas
Tür findet, ist er durchaus
immer noch nicht zufrieden.
Im nächsten Durchgang des Lebensrades wird Ximen als Stier
wiedergeboren, der
gute Möglichkeiten hat, als Deckstier eine "Anstellung" zu
bekommen.
In dieser Gestalt gehört er wiederum Lan, der ihn einem
Stadtverwalter vor der
Nase wegschnappen kann. Durch die Augen des Stieres erlebt er das
nächste
Jahrzehnt der Geschichte Goamis und auch Restchinas, wobei er immer
wieder auch
mit seiner eigenen erweiterten Familiengeschichte konfrontiert wird.
Das nächste Leben, das Ximen anschließend
führt, ist das als mächtiger Eber,
der im Zuge des Ausbaus der Schweinezucht und Schweinemast geradezu
historische
Bedeutung erhält und allerlei politische Bewegungen auch
innerhalb der Tierwelt
mit beeinflusst. Der Schweineabschnitt ist dabei der längste
und ausführlichste
des gesamten Buches und ist auch derjenige, der sich vielleicht in den
Augen
einiger Leser ein wenig zu sehr ziehen dürfte. Darin begegnet
Ximen Nao auch
wiederholt einem hässlichen Jungen, der unter dem Namen Mo Yan
bekannt ist und
ständig unmögliche Geschichten erzählt.
Im nächsten Durchgang schließlich ist Ximen Nao ein
Hund, und in dieser
Inkarnation verschlägt es ihn in die Stadt, wo er Bestandteil
einer tragischen
Liebesgeschichte wird, die ausgerechnet der mittlerweile
schon ein wenig
erfolgreiche Mo Yan angestoßen hat. In dieser Geschichte
einer neuen
Generation
Chinas um die Jahrtausendwende zeigen sich sowohl die alten
Wunden als
auch die
langsam wegsterbenden Kader der ursprünglichen Revolution, die
mit dem neuen
System überhaupt nicht zurechtkommen können, auch
weil sie dem alten System so
viel geopfert haben. Somit schließen sich für Ximen
Nao in diesem Leben
zahlreiche Kreise, auch wenn er sein Karma noch nicht
vollständig bereinigt
hat. Dies gelingt ihm erst als ein Affe
zweier ziehender Gaukler, die noch mit
seinem Leben als Hund verhaftet sind. Dann erst erlaubt Yama eine
Wiedergeburt
als Mensch, wobei Ximen Nao seine höchst eigene Besonderheit
erhält.
"Der Überdruss" ist eine Geschichte der Gaomi-Region, weiters
die
Geschichte Mo Yans selbst in dieser Region und darüber hinaus.
Dabei nimmt der
Autor wie immer kein Blatt vor den Mund, und die Darstellungen von sehr
"rustikalen" Begebenheiten sind wie gewohnt so lebensnah, dass man die
Gülle, oder welche Flüssigkeit auch immer,
buchstäblich zu riechen glaubt.
Trotzdem wirken diese Darstellungen nicht ganz so verstörend
wie in seinen
anderen Büchern, was aber auf einen gewissen
Gewöhnungseffekt seitens des
Rezensenten zurückzuführen sein könnte.
An anderen Stellen ist die Sprache überaus poetisch, und die
Darstellungen
verfügen über eine höchst eigene romantische
Kraft, so dass man Mo Yans
Flexibilität im sprachlichen Bereich nur bewundern kann.
Wenngleich der Eber den Leser ein wenig zu lange aufhält, ist
"Der
Überdruss" insgesamt ein Roman, den es sich zu lesen lohnt.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2009)
Mo
Yan: "Der Überdruss"
Aus dem Chinesischen von Martina Hasse.
Horlemann, 2009. 812 Seiten.
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