Mo Yan: "Der Überdruss"
Ein
gewaltiges Stück
chinesischer Kultur- und Zeitgeschichte in Romanform
Im Jahr 1950 liegt Maos Landreform keine zwei Jahre zurück. Im
Zuge dieser
Reform wurde der Grundbesitzer Ximen Nao von Landarbeitern und
Kleinbauern
gelyncht. Seither hat er mit dem Fürsten der Unterwelt, Yama,
hartnäckig
gestritten und keine Folter gescheut, denn er verlangt nichts Anderes,
als dass
Yama den Ximen Nao zufolge zu Unrecht erlittenen Tod revidiert und ihn
wieder
lebendig werden lässt.
Schließlich erhört Yama den lästigen
Anklagesteller, jedoch nicht, ohne ihn bösartig
aufs Kreuz zu legen. Denn Ximen Nao wird zwar wiedergeboren, jedoch als
Eselhengst. Und dies just in dem Stall, der früher zu seinem
Anwesen gehörte.
Er wird dem Besitz seines früheren Angestellten Lan Lian
zugeschlagen und
stellt zu seinem Entsetzen fest, wie sehr sich die Welt innerhalb der
kurzen
Zeitspanne seines Totseins verändert hat: Seine Hauptfrau, wie
er von hohem
Stand, wird nun als Klassenfeindin vom Dorfkollektiv gequält
und erniedrigt;
Lan Lian hat Ximens Geliebte geheiratet, die beiden Kinder, die sie mit
dem
Gutsbesitzer hat, zu sich ins Haus genommen und mit ihr einen weiteren
Sohn
gezeugt. Ximens zweite Geliebte wurde von einem weiteren Angestellten
geheiratet.
Der Esel erlebt nun den komplexen Verlauf der Familiengeschichte, aber
auch die
durch Mao eingeleiteten Veränderungen auf dem Lande aus seiner
Perspektive mit,
die halb jenen eines Esels, halb jener des ehemaligen Gutsherrn
entspricht. So
gut er kann, schützt er seine eigenen Kinder und seine Frauen
und ist Lan Lian
treu ergeben, nicht zuletzt, weil dieser Ximen Naos Ehefrau, die
Geliebte und
die Kinder gut behandelt. Und weil Lan Lian sich hartnäckig
weigert, in die
Kommune einzutreten: Lan weiß, dass Mao verlangt hat, der
Eintritt solle aus
freien Stücken, ohne Zwang, erfolgen. Und so bleibt Lan Lian
der einzige
Privatwirtschafter im Dorf, vielleicht in ganz China.
Der Esel wird während der großen Hungersnot von den
Dorfbewohnern getötet und
verspeist. Yama sieht aber keineswegs ein, dass es Ximen Nao diesmal
besser
ergehen sollte: Dieser wird nun als Stier wiedergeboren - und gelangt
neuerlich
in den Besitz von Lan Lian. Mit diesem und der gemeinsamen Familie
erlebt er die
Kulturrevolution. Und, wie auch in seinem nächsten Leben als
Schwein, die
tragischen und komplizierten Liebesverwicklungen zwischen seinen
Kindern und dem
Sohn Lan Lians, deren gemeinsame Mutter ja Ximen Naos ehemalige
Geliebte ist,
mit den Kindern der Zweitgeliebten und weiteren Personen aus Dorf und
Bezirk.
Die Reformen unter Deng Xiaoping durchlebt Ximen als Hund seines
Enkels, und in
dieser Zeit der Annäherung an den
Kapitalismus
droht die
Familie
auseinanderzubrechen. Während die alten Bande durch die
Kulturrevolution
strapaziert wurden, doch letztlich nicht versagten, setzt ihnen der
zunehmende
Wohlstand zu.
Ximen Nao hat in all seinen Gestalten seiner Familie und der des Lan
Lian treu
gedient. Er muss sich noch einmal als Affe bewähren, ehe er
unter höchst ungewöhnlichen
Umständen als Mensch neu geboren wird.
Dieser Achthundert-Seiten-Roman fesselt den Leser vom ersten Augenblick
an. Die
Idee, dass ein Verstorbener sein Los nicht akzeptiert, ist in der
Weltliteratur
nicht neu, und
Wiedergeburt gehört zur Lehre etlicher
Religionen. Doch die Art,
wie Mo Yan diese beiden Elemente seiner Erzählung miteinander
verflicht und in
die Zeitgeschichte und in ein groß angelegtes Familienepos
integriert, hat
etwas Unnachahmliches.
Die Erzählperspektive wechselt dabei zwischen Ximen Nao, oder
vielmehr der
Figur seiner letzten, menschlichen Wiedergeburt, und Lan Lians Sohn Lan
Jiefang
hin und her: Die beiden führen einen regelrechten Dialog,
während sie die
Ereignisse Revue passieren lassen, sie nacherzählen und ein
Stück weit
analysieren. Immer wieder tritt in diesen Erzählungen auch Mo
Yan, der
Schriftsteller, als recht lächerliche Nebenfigur in
Erscheinung, die eher
versehentlich bisweilen der Handlung eine plötzliche Wendung
verleiht; der
Autor karikiert sich auf charmante Weise selbst, stellt diese Figur als
scheinbar leeren Schwätzer dar, was angesichts seines Namens
"Der
Sprachlose" - Mo Yan ist ein Pseudonym - natürlich grotesk
wirkt.
Unerbittlich, mit vorzüglicher Beobachtungsgabe, zeichnet der
Autor aus der
Sicht von Esel, Stier und den anderen Tieren die menschliche Natur
nach, wie sie
durch das Kollektiv, doch auch durch Extremsituationen wie
Hungersnot
und
sexuelle Obsession oder auch Macht und allzu rasch erworbenen Reichtum,
deformiert wird. Oder ist es anders herum: Handelt es sich bei dem um
die wahre
Natur des Menschen, was nach einem plötzlichen Verlust der
dünnen oberflächlichen
Schicht einer althergebrachten
Kultur zutage tritt? Wie dem auch sei,
die
Folgen, wie sie Mo Yan für das China der letzten fünf
bis sechs Jahrzehnte
ausmalt, sind katastrophal. Und sehr viel anders als unter Eseln,
Rindern und
Schweinen geht es im menschlichen Kollektiv und in der Familie
keineswegs zu.
Meisterlich entwirft Mo Yan Parallelen.
Viele Figuren treten in diesem umfangreichen Roman auf den Plan,
innerhalb wie
außerhalb der Familie, und alle sind ganz individuell und
sehr plastisch und
farbig gezeichnet. Die Handlung, wiewohl üppig gestaltet,
entzieht sich niemals
dem roten Faden, auch wenn dieser stellenweise erst im
Rückblick auf die
vollendete Lektüre erkenntlich werden mag. Sie ist indes nicht
immer das Wahre
für allzu zart Besaitete, denn aus aufgeschlitzten
Bäuchen quellende Gedärme,
Bisse, Schläge und sonstige Misshandlungen aller Art zwischen
Menschen und
Tieren sowie untereinander gehören im Roman zur Tagesordnung.
Dennoch schwingt
als Oberton Humor mit - einmal leicht und spritzig, dann wieder
pechschwarz-sarkastisch bis hin zum harten Zynismus.
Ein verblüffendes Werk mit hinreißend lebensecht
gezeichneten Charakteren und
einer in ihrer ganzen Vielfalt, Schönheit und Schrecklichkeit
packenden
Handlung, ein Stück Kultur- und Zeitgeschichte, originell und
verstörend,
genial konzipiert, sprachgewaltig, kurz: eine Perle unter den
zeitgenössischen
Romanen!
(Regina Károlyi; 11/2009)
Mo
Yan: "Der Überdruss"
Aus dem Chinesischen von Martina Hasse.
Horlemann, 2009. 812 Seiten.
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