Marcel Möring: "Der nächtige Ort"
Ein
lebendiger, dichter Roman, der von niederländischer und
jüdischer Geschichte und Existenz erzählt.
Das niederländische Städtchen Assen ist der
Schauplatz von Marcel Mörings Roman "Der nächtige
Ort", der in den Niederlanden, wo er anno 2006 erschienen ist, ein
großer Erfolg war. Möring ist selbst in dem
Städtchen aufgewachsen, sodass man mit Fug und Recht
bezweifeln kann,
es stimme, wenn er auf dem Vorblatt schreibt: "Das ist ein
Roman. Nichts in diesem Buch ist wahr."
Der "Anus Mundi" sei dieser Ort, so sagen die Hauptfiguren des Romans
übereinstimmend. Dennoch haben sie, wie etwa der
jüdische Unternehmer Jakob Noach, diesen Ort nie verlassen
oder sind wie Marcus Kolpa, die zweite männliche Hauptfigur
des Romans, wieder zurückgekehrt.
Doch einmal im Jahr steht Assen im Mittelpunkt einer großen
Öffentlichkeit, dann strömen Hunderttausende in die
Stadt, um beim "TT Circuit Assen", einem Motorradrennen, dem
Großen Preis der Niederlande, zuzuschauen. Sie verwandeln die
Stadt besonders am Vorabend des Rennens in einen "nächtigen
Ort" eine Art Vorhof der Hölle von
Dante'schen
Ausmaßen: Unmengen von Alkohol, Sex, Drogen, Musik und
Schlägereien.
Dies ist für Jakob Noach Anlass zu reflektieren; nicht nur
über die höllische und mörderische
Geschichte des 20. Jahrhunderts und all seine persönlichen
Schicksalsschläge und das Leid, das er durchlitten hat,
sondern auch über jene innere Hölle, der er einfach
nicht entkommen kann. Was er immer wieder feststellt ist, dass diese
Hölle auch ihre anziehenden Seiten hat.
Marcel Möring schildert eine Nacht, es ist der 27. Juni 1980,
als ein Panorama aus moralischen Schwächen,
Sehnsüchten, unerfüllten Hoffnungen; er schreibt von
der Suche nach Liebe, dem wahren Leben und einem endgültigen
Seelenfrieden.
Jakob Noach ist auf einem nächtlichen Streifzug nicht nur
durch die Stadt selbst, sondern auch durch die Zeit. Möring
schildert Noachs Lebensgeschichte, die eng mit jener des Ortes
verknüpft ist. Als junger Mann hat er jahrelang in einem
Erdloch gesessen und so als Einziger seiner Familie den Holocaust
überlebt. Nach dem Krieg steigt er zu einem erfolgreichen
Unternehmer auf, doch niemals wird ihn das Gefühl verlassen,
eigentlich nicht dazu zu gehören.
Möring hat Noach auf seiner Wanderung durch den "nächtigen
Ort" einen kundigen Führer zur Seite gestellt, der
sich als "Jude von Assen" vorstellt, mit dem er einen inneren Dialog
führt.
Immer wieder wechselnd erzählt Möring in einem
zweiten Strang die Geschichte des dreißigjährigen
jüdischen Intellektuellen Marcus Kolpa, einer schillernden
Persönlichkeit, den mit Noachs Tochter Chatja eine
unerfüllte Liebe verbindet.
Wenn Möring erzählt, verschwimmen Realität
und Fiktion. Der Leser ist geradezu davon überzeugt, die
erfundenen Personen und Geschichten seien wahr. Möring besitzt
eine unwahrscheinliche Sprachkraft, ergänzt die
Hauptstränge mit Nebenhandlungen, die jeweils ein eigenes
Thema reflektieren.
Was ist eigentlich jüdische Identität? Das ist die
eine große Frage des Romans, für die der Autor Noach
am Ende eine ebenso schlichte wie überraschende Antwort finden
lässt. Gibt es eine Schuld, die wirkt, auch wenn sie unbewusst
bleibt? Gibt es daraus einen Ausweg? Kann man hinter dem gelebten Leben
ein wahres entdecken und finden, oder ist alles nichtig und eitel, wie
der Prediger sagt?
(Winfried Stanzick; 07/2009)
Marcel
Möring: "Der nächtige Ort"
(Originaltitel "DIS")
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Luchterhand Literaturverlag, 2009. 550 Seiten.
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Marcel
Möring, geboren 1957 in
Enschede, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen
Literaten der
Niederlande. Für seinen ersten Roman "Mendel" erhielt er 1991
den
wichtigsten Debütpreis des Landes, den
"Geertjan-Lubberhuizen-Preis",
und weitere Romane wurden mit dem "AKO-Literaturpreis", der "Goldenen
Eule" und dem "Flämischen Literaturpreis" ausgezeichnet.
"Der
nächtige Ort" wurde 2007 mit dem "Ferdinand-Bordewijk-Preis"
zum
besten niederländischen Roman des Jahres gekürt.
Weitere Bücher des Autors:
"Eine Frau"
Novelle.
Laura besitzt ein Gourmetrestaurant mit kleinem Hotel an der
holländischen Küste.
Mit ihren sechzig Jahren meistert sie jedes Chaos - bis sie eines
Tages, als
zwischen Chefkoch und Maître in der Küche wieder mal
die Fetzen fliegen,
merkt, dass sie nicht mehr wie gewohnt funktionieren kann. Dass sie
innerlich
wie versteinert ist, und zwar seit fünfundzwanzig Jahren, seit
der großen Tragödie
ihres Lebens, die sie überwunden glaubte. Und Laura wird klar,
dass sie sich
den Erinnerungen, an Liebe wie an Leid, stellen muss, wenn sie
weiterleben will.
(Sammlung Luchterhand)
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"Im Wald" zur Rezension ...
Wilhelm
Ribhegge:
"Erasmus von Rotterdam"
Als Erasmus 1467 in Rotterdam als uneheliches Kind eines Geistlichen
geboren
wurde, ahnte niemand, dass er einmal "Fürst der
Humanisten"
oder "Licht der Welt" genannt werden
würde. Er war der
bedeutendste unter den Humanisten, gleichermaßen hervorragend
als Philologe und
Theologe wie als Kirchen- und Kulturkritiker. Diesen Aufstieg schaffte
er allein
durch seine immense Gelehrsamkeit. Die europäische Sprache,
mit der er zu
vielen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit Kontakt hielt,
war das
Lateinische. Philologische Leistungen, schriftstellerischer Ruhm sowie
ätzende
Kritik der kirchlichen Zustände zeichneten ihn aus, wie
überhaupt ein
rastloses und fruchtbares Schreiben. Durch den noch jungen Buchdruck
wurden
seine Schriften über ganz Europa verbreitet. Als Gegenspieler
zu Luther ist er
für die deutsche Geistesgeschichte von besonderer Bedeutung,
denn dies führte
zu einem Auseinandergehen von Humanismus und Reformation.
Mit
Einfühlungsvermögen, großer Sachkenntnis
und sprachlicher Eleganz zeichnet
Wilhelm Ribhegge das Porträt des großen
Europäers. (Primus Verlag)
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