Johannes Fried: "Das Mittelalter"
Geschichte und Kultur
Mittelalter als Wiege der
Aufklärung
Wer sich Computerspiele zum Thema Mittelalter ansieht - wohl eher:
Computerspiele, als deren Handlungs- und Dekorrahmen das Mittelalter
angegeben ist - oder sommerliche "Mittelalterfeste", mag den Eindruck
haben, dass diese Epoche nichts Anderes war als ein Tummelplatz
für Spielleute, Hexen und munter drauflos dreschende Landsknechte.
Johannes Fried, der wahrscheinlich bedeutendste deutsche
Mediävist und Professor für Mittelalterliche
Geschichte an der Universität Frankfurt, eröffnet
souverän die europäische Welt in der Zeit von etwa
500 bis 1500 mit allen Aspekten, positiven wie negativen. Er lenkt den
Blick auf die kulturelle Evolution, auf ihre Kontinuitäten und
Diskontinuitäten, ohne eine inhaltliche Einheit des
Mittelalters zu postulieren. Der Begriff Mittel-Alter besagte
ursprünglich ja nichts Anderes als die Zeit zwischen dem
Altertum und der Neuzeit, die je nach Auffassung mit der Entdeckung
Amerikas
(1492), der Eroberung Konstantinopels durch die
Türken (1453) oder der Reformation endete. Erst als diese
Epoche als abgeschlossen galt und von der Jetztzeit weit genug entfernt
war, konnte es ideologisch aufgeladen und zu einer historischen Einheit
konstruiert werden.
Der Autor hat eine Mission zu erfüllen: Er möchte
zeigen, dass das heute verbreitete Mittelalterbild falsch und
widersinnig ist; in seiner Kulturgeschichte zeigt er diese Epoche -
schlüssig und entgegen der vorherrschenden Ansicht - als Wiege
der Aufklärung, jedenfalls als Start zu aufkeimendem
Pluralismus und Individualität.
Doch ist das vorliegende Werk trotz seines Umfangs keine umfassende
Darstellung des Mittelalters, sondern eine umso tiefer gehende
Kulturgeschichte. Nicht Jahreszahlen, Schlachten und Herrscherdaten,
sondern die diesen Ereignissen zugrunde liegenden Geistes- und
Gedankenwelten sind Triebkraft der Historie. Das programmatische
Krönungsgebet der Ottonen (Seite 121) nutzt der Autor
beispielweise zur geistigen Richtschnur für die damit
inaugurierten Herrscher. Ihre Taten werden daran gemessen, aus dem
Geist der Krönung erklärt.
Der Plural von "Geisteswelten" scheint, auch hier wieder abweichend von
gängigen Meinungen, durchaus angebracht: Fried informiert auch
über jene divergenten Strömungen und die Vielfalt der
religiösen Meinungen, die nach dem Ende des Mittelalters zur
Reformation und den Glaubenskriegen führten. Dennoch stehen im
Mittelpunkt des Buches Papst- und Kaisertum als zentrale Instanzen des
europäischen Mittelalters.
Geschichte außerhalb dieser Zentren und abseits der
bedeutenderen Staaten Westeuropas (v.a. England, Frankreich) werden
allerdings nur am Rande des Werkes behandelt. Zum Beispiel wird die
ungarische Landnahme im Sinne des Werkes erst mit der Schlacht am
Lechfeld gegen Kaiser
Otto I. (955) und mit der päpstlich
sanktionierten Krönung von König Stephan
erwähnenswert.
Die Bogumilen Bosniens hingegen sucht man im
Buch vergebens; sie waren geistig oder geografisch von den Zentren zu
weit entfernt. Andere scheinbar periphere Völkerschaften im
Norden und Osten werden zwar immer wieder genannt, nicht aber
konsistent dargestellt. Ein Sachregister hätte immerhin dazu
beitragen können, auch jene Informationen darüber
aufzufinden, die nicht in Kapitelüberschriften
angekündigt werden.
Johannes Fried hat zu Recht den "Sigmund-Freud-Preis für
wissenschaftliche Prosa" erhalten: Sein Stil ist einfach und angenehm
zu lesen, die Kapitel beinhalten abgeschlossene und interessant
angeordnete Information, ergänzt durch ausgewähltes
und ausführlich beschriebenes Bildmaterial. Ihm gelingt es,
komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen
und damit zur Popularität seines Wissensgebietes beizutragen.
(Wolfgang Moser; 03/2009)
Johannes Fried: "Das Mittelalter.
Geschichte und Kultur"
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2008. 606 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 608 Seiten.
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Prof.
Dr. Johannes Fried ist
Professor für Mittelalterliche Geschichte an der
Universität Frankfurt. Er war
von 1996 bis 2000 Vorsitzender des Verbandes der Historiker
Deutschlands.
1995 erhielt er für sein Werk "Der Weg ins Mittelalter" den
Preis des Historischen Kollegs.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung
der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter"
Das Bewusstsein der nahenden Apokalypse war
im
mittelalterlichen
Christentum allgegenwärtig. Wann aber genau würde der
Weltuntergang stattfinden? Wie ließen
sich die himmlischen Zeichen zuverlässig deuten? Diese
Schlüsselfragen des
apokalyptischen Denkens enthalten ein Element der modernen
Wissenschaft, das
Johannes Fried in seiner aufregenden Studie freizulegen versucht. Der
Untergang,
der stets zu kommen schien und nie tatsächlich kam,
artikulierte sich im
mittelalterlichen Denken nicht nur als eschatologische
Erfahrungsbereitschaft,
sondern auch als ein drängendes Wissenwollen des Ungewissen.
Die Flut der
Deutungen verlangte nach Prüfung und Kontrolle des Wissens, um
der exegetischen
Irrungen Herr zu werden. Der apokalyptische Denkstil stimulierte eine
immer umfassendere Weltkenntnis auf allen Gebieten - mit weitreichenden
Folgen für das Handeln und das Erkennen, für Verhalten und Wissen. In
seinem glänzend geschriebenen Essay geht Johannes Fried diesem
Zusammenhang zwischen
Apokalyptik und moderner Wissenschaft nach. Er vermag dabei nicht nur zu
zeigen,
dass die Grenze zwischen beiden fließender war, als wir gemeinhin
annehmen. Die Lehre vom Endgericht erscheint in der Deutung Frieds sogar
als ein "Baumeister
der okzidentalen Kultur" und entscheidender Impuls
für die physikalische Verwissenschaftlichung des Weltbildes. (C.H. Beck)
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"Zu Gast im Mittelalter"
Kein anderer Mediävist bürstet vertraute Lesarten der
Geschichte so gründlich
gegen den Strich, kein anderer Mediävist fragt so
hartnäckig nach der
historischen Wirklichkeit hinter den Quellen. Johannes Frieds
brillanter Stil und sein herausragendes Gelehrtentum haben ihn weit über
die
Fachgrenzen hinaus bekannt gemacht.
Hiermit legte Johannes Fried einen Band mit Essays vor, der auf
eindrucksvolle Weise zeigt, wie eine andere Mediävistik zwischen "Wissenschaft
und
Fantasie" möglich ist. Exemplarisch dafür steht seine
Nachschöpfung eines Gastmahls am Hof
Karls
des
Großen, die - dicht an den Quellen entlang
geschrieben - mitten hineinführt
in die faszinierende Welt des Mittelalters. (C.H. Beck)
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Zusätzliche Buchtipps:
Johannes
Fried, Olaf B. Rader: "Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte
eines Jahrtausends"
Von Karl dem Großen bis
zu Dante, den
Wikingern
bis zu den Mongolen, ...
den Erfindungen (die Brille zum Beispiel oder die Kanonen) bis zu den
ersten Universitäten, der Goldenen Bulle bis zum Minnesang - in rund
dreißig Essays schildert dieser Band die reiche Welt des Mittelalters,
was in ihr geschah und warum sich unsere Erinnerung daran so oft
verwandelt hat, vor allem aber erzählt es uns wie das Mittelalter die
Welt von heute unendlich vielfältig geprägt hat.
Kein anderes Zeitalter ist so beliebt bei den Lesern historischer Romane
und zugleich so verdunkelt durch Klischees und Vorurteile wie das
Jahrtausend des Mittelalters mit seinen Rittern und Burgen,
Kathedralen
und Klöstern, Kreuzzügen und
Fabelwesen.
Doch nicht wenig von der historischen Wahrheit ist auf dem langen Weg zu
den Erinnerungsorten von heute abhanden gekommen oder durch
fantasievolle Legenden und politisch nützliche Erfindungen ersetzt
worden.
Dieser grandiose Band ist ein einzigartiges Lesebuch zur Geschichte des
Mittelalters - geschrieben von den besten Mediävisten unserer Zeit.
Johannes Fried ist Professor em. für Mittelalterliche Geschichte an der
Universität Frankfurt am Main.
Olaf B. Rader, Dr. phil. habil., geboren 1961, arbeitet an der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und lehrt derzeit
als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. (C. H. Beck)
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Sabine Obermaier (Hrsg.):
"Tiere und Fabelwesen im Mittelalter"
Zu ihrer Bedeutung in Wissenschaft, Religion, Geschichte, Bildender
Kunst und Literatur.
Tiere faszinieren - und das nicht erst seit sie als
Helden von Zoo-
und anderen Tiergeschichten die Medien erobern. Heute
wird das Tier entweder zum Gebrauchs- und Verbrauchsobjekt degradiert
oder als
"besserer Mensch" gefeiert. Im Mittelalter dagegen ist der Kontakt zum
Tier als
Nahrungsspender, Arbeitskraft, Transportmittel und Jagdobjekt bzw.
-begleiter noch viel unmittelbarer. Die Zoologie ist noch nicht als
eigene
Wissenschaft etabliert. Das Verständnis vom Tier wird vielmehr von der
christlichen Religion geprägt. Insofern sind Tiere auch in der Bildenden
Kunst und
Literatur vieldeutige Symbolträger.
Ziel dieses interdisziplinär und kulturwissenschaftlich
angelegten Bandes ist es, das Tier in seinen verschiedenen
Erscheinungsformen im
Mittelalter - in Wissenschaft, Religion, Geschichte, Bildender Kunst und
Literatur -
vorzustellen und seine Bedeutung im kulturellen Leben der Zeit zu
umreißen. Dabei werden wesentliche Unterschiede zur Moderne
herausgearbeitet sowie
Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten aufgezeigt. Denn ohne die Tier-Bilder,
die uns
das Mittelalter weitergegeben hat, kann die Rolle des Tieres in der
heutigen Zeit nicht
verstanden werden. (de Gruyter)
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Manfred
Kern: "Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der
weltlichen
Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts"
Die Untersuchung widmet sich den Denk- und Darstellungsformen von
Vergänglichkeit
und Weltabsage in der Lyrik und Epik des 12. bis 15. Jahrhunderts. Da
weltliche
Dichtung selbst "Weltwerk" ist, steht sie von vornherein im Zeichen
einer glücklichen Paradoxie: Weltflucht ist in der Poesie
immer von einem
latenten Weltbezug begleitet. Die poetischen Problementwürfe
steuern somit auf
eine Pluralität des Denkens und der ästhetischen
Imagination zu, die die
rigiden Konzepte der theologischen Tradition untergräbt und
gleichsam deren
neuzeitliche Überwindung vorbereitet.
Erörtert werden u.a. Allegorien der Vanitas wie Frau Welt, die
Negativierung des erotischen Begehrens und der Konnex von weltlicher
Liebe und
Weltliebe, Modelle des Lebensweges und der Umkehr, Referenzen zwischen
poetischer
Weltabsage und theologischem contemptus mundi, Kontingenz und
Unverlässlichkeit des Weltlichen in narrativen Sujets und
Handlungsstrukturen,
schließlich die
Relevanz des Themas auf einer poetologischen Ebene (Tod des Autors,
Permanenz der Schrift, Wiederholbarkeit der Lektüre). Im Zentrum der
Analysen stehen das poetische Werk
Walthers
von
der Vogelweide,
Dantes
und
Petrarcas,
das mittellateinische Alexanderepos und der höfische Roman. (de Gruyter)
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Christoph Flüeler, Martin Rohde (Hrsg.): "Laster im Mittelalter"
Das Thema "Laster im Mittelalter" zeichnet sich
durch seine Kontinuität über das gesamte Mittelalter
aus und hat seine Wurzeln
in der Spätantike und seine Nachwirkungen in der Neuzeit. Es
berührt fast alle
Bereiche mittelalterlicher Kultur und hat eine unerschöpfliche
Literatur hervorgebracht. Der Sammelband beruht auf den Ergebnissen des
"Freiburger Kolloquiums" 2006, das sich erstmals mit der langen
Tradition der
sieben Todsünden und den mittelalterlichen Lasterkatalogen befasste,
und vereint die Beiträge namhafter Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler
unterschiedlicher Fachrichtungen. Laster wurden im Mittelalter
systematisch geordnet: Sie
wurden in Hauptlaster eingeteilt, aus denen andere Laster hervorgingen,
als
Sünden verstanden und dienten darüber hinaus ganz allgemein der
Beschreibung menschlicher Leidenschaften und Handlungen. Aus
historischer,
literaturwissenschaftlicher, theologischer, philosophischer, kunst- und
rechtshistorischer Perspektive entwerfen die neun Beiträge in
deutscher, englischer und französischer Sprache ein lebendiges Bild der
Wünsche und Ängste des mittelalterlichen Menschen, aber auch des
gesellschaftlichen Lebens
im Mittelalter. (de Gruyter)
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Matthew
Bennett u. A.: "Kriege im Mittelalter. Schlachten - Taktik - Waffen"
Das erste umfassende Werk zur Kriegsführung im Mittelalter
erzählt von Schlachten, Waffen, Heeren und Völkern, von großen
Kriegsherren, ritterlichen Idealen und glanzvollen Turnieren.
Die Kreuzzüge der christlichen Völker, die
Feldzüge der Mongolen, die nicht
enden wollenden Kämpfe des Hundertjährigen Krieges,
die Überraschungserfolge
der Schweizer Eidgenossen oder die Eroberung Konstantinopels durch die
Türken
1453: Dieses fundierte, gut lesbare und faktenreiche Handbuch gibt
Aufschluss über
die Kriegsführung im Mittelalter, von den karolingischen
Reiterheeren bis zum
Siegeszug des Schießpulvers im Spätmittelalter.
Der Kampf zu Fuß, der Kampf hoch zu Ross, Belagerungen und
Seeschlachten sowie die militärische Führung werden anhand einer
Fülle konkreter Beispiele, anschaulicher Abbildungen und detaillierter
strategischer Skizzen
verständlich erläutert. (Theiss)
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Alexander
Ballhaus: "Liebe und Sex im Mittelalter"
Leseprobe:
Zwischen Angst und Lust
Spuren der Magie
Es ist eine geheimnisvolle Epoche, dieses
Mittelalter, dessen Beginn man auf eine Zeit tiefsten Verfalls - den
Niedergang des
römischen Weltreichs - datiert und dessen Ende man
landläufig
mit der
Reformation gekommen sieht. Was
geschieht in diesem Jahrtausend zwischen 500 und 1500,
zwischen Antike und Neuzeit?
Jedenfalls ist es eine Zeit
unerhörter Gegensätze und Widersprüche:
Höfische Prachtentfaltung
steht neben alltäglichem Elend, auf den Glanz
der Stauferkaiser, der auch eine gesellschaftliche und kulturelle
Blüte nach sich gezogen hat, folgt der Absturz ins
politische und soziale Chaos. Noch bilden die Ritter auf ihren
Burgen die in jeder Hinsicht tonangebende Schicht, doch
schon beginnen selbstbewußte und reiche Bürger in
den Städten, den adligen Herren den Rang abzulaufen. Und
gleichermaßen, wie der erbitterte
Konflikt
zwischen
Papst und Kaiser um die Vorherrschaft im christlichen Abendland -
teils offen, teils verdeckt und mit wechselnden Erfolgen
ausgetragen - das ganze Zeitalter durchzieht, so ist der
Dualismus von Kirche und Welt prägend für das gesamte
mittelalterliche Lebensgefühl. Diese Spannung beeinflußt den
einzelnen Menschen bis in seine privatesten Bereiche und bis
in seine geheimsten Gedanken. Er weiß um die Gebote der
Kirche und die Gefahr ewiger Verdammnis und wischt doch
alles leichtfertig beiseite. Prüderie und Exzeß
gehen ebenso Hand in Hand wie Höllenfurcht und
Erlösungsgewißheit.
Der Mensch des Mittelalters ist daran gewöhnt, mit dem
alltäglichen Grauen zu leben, und kann sich sogar an Folter
und Hinrichtung als einem öffentlichen Spektakel erfreuen.
Man verspüre im Mittelalter den "Geruch von Blut und
Rosen in einem Atemzug", schreibt Johan Huizinga.
Verbindliche Bewertungen dieser Epoche wird
man vergeblich suchen. Die Aufklärung sprach
geringschätzig vom "finsteren Mittelalter"
und meinte damit die vermeintliche kulturelle
und zivilisatorische Rückständigkeit dieser Epoche;
in der englischsprachigen Literatur ist noch heute von den "Dark
Ages" die Rede. Die Romantik hingegen verklärte an
der Wende zum neunzehnten Jahrhundert das Mittelalter als
die "wahre Epoche".
In der Tat scheint dieses ebenso
facettenreiche wie widersprüchliche Mittelalter
für jeden Geschmack etwas zu bieten. Mehr
als alles andere ist es ein Mythos, eine große
Erzählung voller Irritationen, Spannungen, Sehnsüchte. Der Mangel an
verbürgten historischen Überlieferungen steigert den Reiz des
Geheimnisvollen, fördert die Mythenbildung. Erhaltene
Urkunden, Artefakte, Berichte geben aufgrund ihrer Lückenhaftigkeit
Anlaß zu Spekulationen, und alle Rekonstruktionsversuche scheitern
immer wieder daran, eine plastische Vorstellung
von der mittelalterlichen Realität zu liefern. Sie
können niemals mehr sein als Hinweise auf der Suche nach der
historischen Wahrheit, die mehr ist als eine Schnitzeljagd oder
eine Vorlage für die heute wieder so deutlich
spürbare Sehnsucht
nach dem Mittelalter, nach der Zeit der Kaiser, Kerker
und Klostergeheimnisse.
Ist es die Sehnsucht nach den vermeintlich einfachen Weltbildern,
nach vitaler Urwüchsigkeit und scheinbarer
Unverfälschtheit,
nach der Romantik von Burgen und Butzenscheiben? Was
beflügelt den großen Wunsch nach dem Eintauchen
in die Geschichte? Die rauhe, spannungsgeladene, unsichere
Realität einer unwirtlichen Epoche, die weder
Strom noch Müllabfuhr, noch Unterwäsche oder sonstige
Annehmlichkeiten der Zivilisation kannte, wird es wohl nicht
sein.
Als die
Romantik um 1800 die Zeit der
Ritter,
Minnesänger
und Burgfräulein wiederentdeckte, sich eine strahlende
Vision der Vergangenheit erträumte und zur Folie der eigenen
Wunschbilder machte, war dies eine kulturelle Revolution, eine
kritische Renaissance. Heutzutage jedoch äußert sich
die Sehnsucht nach dem Mittelalter in Festspielen, Ritterturnieren,
Museumsausstellungen und Folklore mannigfacher Art. Märchen und Fantasy,
Zauberei und
Hexenkunst,
Artusrunde und
Gralssuche und nicht zuletzt die Heldenepen aus Hollywood - das ist die
Mixtur, aus der sich das Mittelalter in
den Köpfen - und Herzen - der Zeitgenossen zusammensetzt.
Das "finstere Mittelalter" als phantastisches Spektakel, als
immerwährendes farbenfreudiges Turnier, bei dem diejenigen
Bilder den Sieg davontragen, die unsere Phantasie am
lebhaftesten reizen - irgendwo zwischen Kitsch und Kommerz
verkommt eine Epoche zur publikumswirksamen Inszenierung.
Nicht
die Nebel von Avalon
- die Nebel des Halbwissens liegen
über dem Mittelalter und verdecken, wie fremd es uns heute
ist, wie wenig wir mit seinen unglaublichen Widersprüchen
anzufangen
wissen - nichts mit seinem unbedingten Glauben
und seiner Erlösungssehnsucht, auch nichts mit seinem
Aberglauben, bekanntlich ein "Glaube ohne Aber" und
so alt wie die Menschheit, der Schatten der Religion, ihre
dunkle Seite.
Trotzdem oder gerade deswegen ist heute erneut eine romantische
Hinwendung zu dieser Epoche festzustellen. Doch
es ist nicht nur die Sehnsucht nach hehren Gefühlen und
tapferen Helden, die den modernen Menschen am Mittelalter faszinieren,
sondern gleichzeitig erleben Geister- und
Dämonenglaube,
Magie,
Heilssehnsucht und Höllenschrecken eine
Renaissance. Gerade die Menschen der zwiespältigen Moderne
fühlen sich von Erfahrungen, die auch die Nacht-
und Schattenseiten menschlicher Existenz einbeziehen, zutiefst
angesprochen.
Johann Wolfgang von Goethe hat den Aberglauben die Poesie
des Lebens genannt, und dieser Aspekt ist für eine Expedition
in die Mentalität des Mittelalters von unschätzbarer
Bedeutung. Hier manifestiert sich nämlich die eigentliche mentale
Disposition des mittelalterlichen Menschen, seine frenetische
Glaubensbereitschaft und sein notorischer Übermut, seine
Zerrissenheit und seine Spannweite, die in der Geschichte
unverwechselbar und einzigartig sind. (...) (Lübbe)
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Arnold Angenendt:
"Geschichte der Religiosität im Mittelalter"
Den Leser erwartet eine lebendige, trotz aller Wissenschaftlichkeit
verständliche Darstellung der Vorstellungswelten, die in der
Religionspraxis des
Mittelalters leitend waren: sie befasst sich mit der gelebten bzw.
gedachten
Religion. Die Beteiligten - die Teilnehmer der irdischen und der
jenseitigen Welt
(Gott,
Jesus
Christus,
Engel und
Teufel,
die
Heiligen und die Menschen) - werden ebenso zur
Sprache gebracht wie die heiligen Räume, Orte und Zeiten,
Kultus und Ritus, Sterben, Tod und jenseitiges Leben. Unter Einbeziehung
religionssoziologischer und religions- und mentalitätsgeschichtlicher
Forschungsansätze entsteht so das mittelalterliche Religionsprofil.
(Primus Verlag)
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