Rainer Merkel: "Lichtjahre entfernt"
Simultandolmetschertum
von Gefühlen
und Bildern
"Wir müssen den Ort wechseln. Wo hast du zum ersten
Mal das Nachlassen
der Liebe gespürt ...", schreibt Rainer Merkels
Protagonist - Thomas
Kapuszinski - auf dem Weg zum John-F.-Kennedy-Flughafen New York in
sein
Notizbuch. Denn, so seine Meinung, zu "einer gelungenen Reise
zweier
Menschen, die sich lieben, gehört es, dass man darum
kämpft, Orte zu finden
und zu Orten zu gelangen, die in der Erinnerung später eine
Rolle spielen und
unvergesslich bleiben."
Der Münchener Familientherapeut war zu einem neurobiologischen
Kongress
angereist. Gleichzeitig wollte er seine Langzeitbeziehung Judith, die
in
Washington ein Praktikum absolviert, treffen, um einen neuen Ort auf
ihrer
beider Erinnerungslandkarte zu markieren, "auf unserer langen
Wanderschaft, die unserem ständigen Bedürfnis
geschuldet ist, die Schauplätze
unsrer Beziehung zu verlagern und möglichst jeden Monat auf
einer anderen Bühne
aufzutreten" bzw. um das zu retten, was so langsam aber
sicher den Bach
hinunter geht. Doch die Zusammenkunft nahm alles Andere als die von ihm
avisierte Form einer Entspannung an. Weder sexuell noch intellektuell
näherte
sich Judith, sondern das Beisammensein endete in der Hitze New Yorks in
einem
Parcours der Belanglosigkeiten.
Jetzt, wenige Stunden vor dem Rückflug, erkennt Kapuszinski
"was für
ein hochkomplizierter Schuldmechanismus meine Beziehung zu Judith
bestimmt und
wie ich ständig Schuldgefühle produziere."
In einem zirkulären
Prozess voller Redundanzen und zeitlicher Sprünge
lässt er in seinem Kopf die
vergangenen Jahre Revue passieren. Dabei wird wieder einmal klar, dass
auch
Psychologen nicht das Allheilmittel für eine
glückliche Lebensgestaltung
besitzen. Seine nüchterne wie chaotische Lebensbilanz
offenbart eher den
Patienten als den Therapeuten. Obwohl er ständig analysiert
und notiert, hat er
sich auf
der Suche nach dem Lebenssinn vielmehr von seinen Idealen
entfernt, als
ihnen näher zu kommen. Kapuszinski befindet sich in einer
tiefen Lebenskrise. "Wie
leicht greift plötzlich das Schicksal in ein Leben ein und
richtet Zerstörungen
an. Verluste, die nicht mehr wiedergutzumachen sind."
Mit ungewöhnlicher Energie und dem Einsatz finanzieller Mittel
- denen er sonst
eher geizig gegenüber steht - versucht er mittels
unterschiedlicher sexueller
Aktivitäten bei Prostituierten eine "Erlösung
seiner selbst"
sowie die Farbwerdung seiner eigenen Blässe
herbeizuführen. "Ich
brenne darauf, etwas Unvernünftiges und Waghalsiges zu tun",
sinniert
Merkels Protagonist. "Man muss den Druck auf das psychische
System erhöhen,
wenn es im Inneren brüchig ist, schreibe ich in mein
Notizbuch. Erhöhe den
Druck, den Aufmerksamkeitspegel, den seelischen Spannungszustand."
Doch
meist erweisen sich seine Ausbruchsversuche als banal und
schäbig. "Das
sind zirkuläre Prozesse. Kreisläufe, die dich nach
unten ziehen",
stellt er selbst treffend fest. Mehr als einmal scheint dabei sein
psychisches
Gleichgewicht außer Balance zu geraten. "Alle
Formen der Erinnerung
schließen die zeitliche Dimension mit ein und
verunmöglichen jeden Versuch,
irgendeine Orientierung zu finden, irgendeine Ordnung herzustellen. Die
Möglichkeit,
eine Erinnerung wieder zu verlieren, scheint am Anfang noch undenkbar.
Am Anfang
ist es immer nur die
Sehnsucht,
die alles bestimmt. Wir trennen uns,
verabschieden uns, und schon werden wir von dieser großen
Sehnsucht erfasst,
die alles überlagert, Und dann schlägt die Sehnsucht
irgendwann um und
verausgabt sich in der maßlosen und unmenschlichen
Geschwindigkeit des
Vergessens."
Rainer Merkels Roman offenbart mäandernde "Bewegungen
durch das
Labyrinth der sexuellen Versteckspiele ..." und
postapokalyptische Gefühle
seines Helden: "Gegen die tyrannische Chronologie meiner
Seele
gerichtet, die an sich keine Chronologie kennt, sondern nur pure
Gleichzeitigkeit, pures Simultandolmetschertum
von
Gefühlen
und Bildern. Eine
einzige Gleichzeitigkeit von Erinnerungen,
die nur angedeutete
Erinnerungen
sind."
Der Autor setzt beim Leser ein ständiges Umschalten und
Hineinversetzen in
unterschiedlichste Wahrnehmungs- und Zeitebenen - meist sogar mitten in
einem
Satz - voraus. "Die Ereignisse überlagern sich,
wiederholen sich, löschen
sich gegenseitig aus." In ständiger Imagination
seiner selbst fördert
Thomas Kapuszinski immer tiefere Erinnerungen zutage, die allerdings
bei der
Lektüre des Buches einiges an Konzentration und eigener
Imagination erfordern
und mehr verwirrt als Erkenntnis gewinnend zurücklassen.
"Lichtjahre entfernt" erfordert vom Leser, sich auf den
eigentümlichen
Schwebezustand seines Protagonisten, der zwischen Träumen und
Wachen changiert,
einzulassen, sich im hektischen Hin und Her zurechtzufinden, um in
dessen wirre
Gedankenwelt einzutauchen. Ein zugegeben nicht ganz einfaches
Unterfangen, zumal
dieses aufgrund des permanenten Pessimismus seines Helden eher
erschwert als
erleichtert wird.
"Wir tun so, als verstünden wir alles. Aber manchmal
verstehen wir uns
selbst nicht." (Aus "Lichtjahre entfernt")
(Heike Geilen; 11/2009)
Rainer
Merkel: "Lichtjahre entfernt"
S. Fischer, 2009. 203 Seiten.
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Rainer
Merkel wurde 1964 in Köln
geboren, hat Psychologie
und Kunstgeschichte studiert und lebt
in
Berlin.
Zuletzt erschienen der Roman "Das Jahr der Wunder", für den er
den
"Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung" erhielt, und "Das
Gefühl am
Morgen".
"Das Jahr der Wunder"
Die undurchsichtigen Anforderungen des Berufslebens: Christian versucht
sich in
einer jungen, aufstrebenden Agentur. Er verzagt, er hofft, er
beschließt, glücklich
zu werden, und erlebt so den Traum der schönen neuen
Arbeitswelt. Die Suche
nach dem Glück in Zeiten der Neuen Wirtschaft: Christian soll
sich in einer
Multimedia-Agentur Werbung für eine Bausparkasse einfallen
lassen. Auf die
Agentur ist er stolz, die Sparkasse ist ihm peinlich. Es ist sein
erstes Projekt,
und er hat zwölf Monate Zeit. Er verzagt, er hofft und er
beschließt, glücklich
zu werden. Es wird ein Jahr der
Wunder.
Christian schlittert
überfordert und
doch nicht ungeschickt durch die undurchsichtigen Anforderungen des
Berufslebens. Die junge, aufstrebende Agentur, in der er arbeitet,
scheint kaum
Hierarchien
zu kennen, stattdessen dominiert eine allgemeine
Begeisterung und
der Glaube, Teil einer medialen Revolution zu sein. Die neue Form des
Opportunismus heißt hier Opposition, die neue Form des
Mitläufertums heißt
Kreativität. Gudula heißt die Kollegin, die ihm
zeigt, wie Teamarbeit wirklich
funktioniert. Titus ist Christians Freund, er ist schnell, fantasievoll
und
schlagfertig, eigentlich ist er ein Künstler, sagt er, und
benimmt sich auch
so. Grassi ist Christians Chef und will wissen, ob ihn die Arbeit
glücklich
macht. Wosch ist auch sein Chef, will aber eigentlich ein Kinderbuch
schreiben.
Christian schlägt sich durch und versucht verzweifelt das
Unmögliche: glücklich
und zugleich erfolgreich zu sein. Er fühlt sich als Mitglied
der Agentur bestätigt
und sieht seine Zukunft in strahlendem Licht. Aber das Jahr der Wunder
geht zu
Ende. Rainer Merkels witziger und bissiger Roman zeichnet ein Bild vom
Perpetuum
mobile der Dienstleistungsgesellschaft, vom Traum der schönen
neuen Arbeitswelt.
(Fischer)
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"Bo" zur Rezension ...
"Das Gefühl
am Morgen"
Rainer Merkel erzählt die Geschichte eines Mannes und einer
Frau, deren Liebe
zwischen Rausch und Zögern schwankt. "Das Gefühl am
Morgen" ist eine
Geschichte über die Faszination, dass die Liebe ist, wie sie
ist, und die
Angst, dass es so bleiben könnte. (Fischer)
Buch
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