Michael Sims: "Adams Nabel und Evas Rippe"
Eine Erkundung des menschlichen Körpers
Launige
und informative
Morphologie-Stunde
Nichts ist uns so vertraut und
letztlich so fremd wie unser eigener Körper. Wir
nehmen ihn im Grunde nur dann wahr, wenn er uns höchste Lust
oder, was häufiger
vorkommt, Schmerz vermittelt. Dennoch oder gerade deshalb lohnt es
sich, ihn genauer
unter die Lupe zu nehmen, wie Michael Sims mit seinem so
originellen wie
informativen Buch aufzeigt.
Im ersten Abschnitt geht es um das "Regierungsviertel", den Kopf.
Haar, Gesicht, Auge, Ohr sind nur scheinbar vertraute Wegmarken am
Kopf, wie
sich zeigt, und selbst das Lachen und Lächeln bieten einigen
interessanten
Stoff von den alten Griechen über die malträtierten
Lippen von Louis Armstrong
bis hin zur Biologie des Küssens.
Arme und Hände, Brust/Brüste und Nabel sind die
Themen des zweiten Abschnitts,
und der Leser darf nicht nur beim mittleren Stichwort eine spannende
Abhandlung
erwarten, ist doch nicht nur die weibliche Brust häufig ein
Stein des Anstoßes
gewesen, sondern auch der Nabel, der uns als
Plazenta-Säugetiere kennzeichnet,
während die Konstruktion unserer Extremitäten
für die Entwicklung unserer
Kultur ganz wesentlich verantwortlich zeichnet.
Intimbereich und Beine bilden die Basis des abschließenden
Buchteils, und auch
hier nimmt der Autor kein (Feigen-) Blatt vor den Mund oder vor andere
Körperteile.
Die Frage, ob Körperbehaarung an dieser Stelle angebracht ist,
wird ebenso
betrachtet wie die kontrovers diskutierten "Vagina-Monologe" aus einem
einschlägigen Theaterstück und die Besonderheiten des
aufrechten Ganges bei
Primaten seit etlichen Jahrmillionen.
Der menschliche Körper und ganz besonders jener
Körper, in dem das lesende und
erlebende Individuum steckt, das sich mit dieser Rezension befasst,
bildet das
zentrale Thema, den Aufhänger des hier vorgestellten Buchs. Da
er über
Jahrzehnte bestens zu funktionieren pflegt, haben wir gelernt, ihn mehr
oder
weniger zu ignorieren, und doch präsentiert er sich als ein
System, das zu
studieren sich wahrhaftig lohnt.
Der Mensch ist Teil einer langen evolutionären Kette, und wenn
er sich für
deren Abschluss und Krönung hält, liegt er wohl
falsch. Dennoch, und das
vermag dieses Buch sehr deutlich zu vermitteln, lohnt es sich, einen
Blick auf
den derzeitigen und schützenswerten Status quo zu werfen. Der
Mensch erscheint
als das Wunderwerk, das er unter den Säuge- und einfacheren
Tieren ist, aber
auch als Produkt einer nicht untypischen Entwicklung. Dabei zieht der
Autor
Beispiele aus Dichtung, Natur- und Geisteswissenschaft heran und vermag
somit
ein umfassendes Bild vom Menschen auf sich selbst zu vermitteln, dem
der Leser
sich weder entziehen kann noch möchte.
Launig und manchmal regelrecht witzig, dabei immer informativ und
selbstverständlich
sachlich korrekt, vermag Michael Sims es, dem Menschen einen
wissenschaftlichen
Spiegel vorzuhalten, ohne ihn zu demontieren. Wie kommt es, dass wir,
im
Gegensatz zu unseren nächsten Verwandten, nur an wenigen
Stellen behaart sind,
und wem kommt dies zupass? Hat die Evolution der Hände das
Gehirn beeinflusst
oder umgekehrt?
Wie stehen wir zum Nabel, dieser eigentlich sinnlosen
Manifestation der Geburt durch ein weibliches Wesen mit Plazenta? Und
inwiefern
macht uns der aufrechte Gang anfällig für bestimmte
Leiden?
Es sind zahlreiche Fragen, denen der Autor nachspürt. Wo
nötig, wurden
Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum gefunden, die für ein
gutes Verständnis
hilfreich sind, sodass das Buch nie "übersetzt" wirkt. Am Ende
der
Lektüre scheint der menschliche Körper nicht weniger
vielseitig und
erstaunlich, doch der Leser hat das ein oder andere Geheimnis seiner
fleischlichen Hülle begriffen.
(Regina Károlyi; 09/2009)
Michael
Sims: "Adams Nabel und Evas Rippe.
Eine Erkundung des menschlichen Körpers"
(Originaltitel "Adam's Navel. A Natural and Cultural History of The
Human
Form")
Deutsch von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok.
Klett-Cotta, 2009. 367 Seiten.
Buch
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Michael
Sims geboren 1958, ist
ein international anerkannter Autor, Journalist und Herausgeber,
Buchhändler
und vieles mehr.
Er publiziert im Bereich der
Archäologie,
der
Evolutionsgeschichte, der
Anthropologie, hat Science-Fiction und
Sachbücher geschrieben. "Adams
Nabel und Evas Rippe" ist das erste Sachbuch von Michael Sims.
Weitere Buchtipps:
Waltraud Posch:
"Projekt Körper. Wie der Kult um die
Schönheit unser
Leben prägt"
Der moderne Mensch gestaltet nicht nur sein Leben, er gestaltet auch
seinen Körper.
Noch nie hatte die Perfektion des äußeren
Erscheinungsbildes einen derartigen
Stellenwert wie in der Gegenwart. Der Körper ist zu einem
Projekt geworden und
zu einer Baustelle der Selbstoptimierung. In diesem Wunsch nach
Optimierung
spielt die Suche nach Individualität und Freiheit eine
große Rolle. Es geht um
die Abgrenzung von Anderen, gleichzeitig aber auch darum, nicht zu sehr
aus dem
Rahmen zu fallen.
Für die Arbeit am eigenen Körper stehen viele
Möglichkeiten zur Verfügung.
Der moderne Mensch kann seinen Körper selbst gestalten. Das
heißt aber auch:
Er ist selbst dafür verantwortlich und wird dafür
verantwortlich gemacht, wie
er aussieht. So steht der Einzelne unter dem Druck zur
Schönheit, dem er sich
nur scheinbar freiwillig unterwirft.
Schönheit fungiert als Mittel zum Zweck, um sich sozial zu
positionieren und
die eigene Identität zu sichern und zu schaffen. Der Kult um
die Schönheit ist
in Wirklichkeit ein Ringen um die persönliche und soziale
Positionierung in
einer unsicher erscheinenden Welt. Es geht um Selbstverwirklichung
zwischen
Anpassung und Eigenständigkeit, zwischen Normalisierung und
Extravaganz,
zwischen Konsum
und Authentizität. (Campus Verlag)
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Bettina
Brockmeyer: "Selbstverständnisse. Dialoge über
Körper und Gemüt im frühen
19. Jahrhundert"
Die Untersuchung einzigartigen Quellenmaterials aus dem frühen
19. Jahrhundert
legt überraschende Konzepte von Körper und Krankheit
offen. In der Medizin im
frühen 19. Jahrhundert wurden Körper und
Gemüt als Einheit gesehen und
zusammen behandelt. Personen, die sich als krank beschrieben, brachten
also
gleichermaßen ihre Wahrnehmungen am Körper wie am
Gemüt zum Ausdruck.
Bettina Brockmeyer untersucht Briefe von Patientinnen und Patienten an Samuel
Hahnemann (1755-1843), den Begründer der
Homöopathie, und weitere
Selbstzeugnisse aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Sie gewähren zum
Teil ungewöhnlich intime Einblicke in Empfindungen, Erlebnisse
und
Alltagswelten von Frauen und Männern verschiedener sozialer
Schichten. Daneben
analysiert die Autorin zeitgenössische Perspektiven auf die
aus der Antike
stammende populäre Diätetik, auf Geschlechterrollen,
Religion,
Geschlechtlichkeit, Körperfunktionen und auf den Umgang mit
dem Sterben von
Angehörigen. Die Studie erschließt sowohl
zeitgenössische Alltagspraktiken
und Körper- sowie Gemütswahrnehmungen als auch
Zugänge zur Vorstellung der
Menschen von sich selbst. Die hier untersuchten Quellen bieten einen
atemberaubenden Kontrast zu bisherigen Vorstellungen vom "Prozess der
Zivilisation". (Wallstein)
Buch
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"Des
Weibes Leib ist ein
Gedicht. Erotische Gedichte aus fünf Jahrhunderten"
Leidenschaftlich und handfest schreiben die Dichter - erst sehr viel
später und
meist dezenter auch die Dichterinnen - über das Werben,
Verführen und Genießen
des anderen Geschlechts. Aus der Liebesdichtung südlicher und
westlicher
Nachbarn ist die eher sanftere Erotik in die deutsche Dichtung
gekommen. In
dieser geht es früh derb und lapidar zur Sache, in Barock und
Rokoko werden die
Formen künstlicher, im 19. Jahrhundert wieder deutlicher und
formal recht unbekümmert.
Der Band verspricht einen sinnlichen Rundgang durch 500
abwechslungsreiche Jahre
deutschen erotischen Dichtens.
Mit Texten von Hans Sachs,
Johann
Wolfgang Goethe,
Bertolt
Brecht, Oskar Pastior
und vielen Anderen. (S. Fischer)
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Florence
Ehnuel: "Das schöne
Geschlecht der Männer. Eine Liebeserklärung"
Zahllos sind die Bücher, in denen "Das schöne
Geschlecht" der Frauen
beschworen wird, aber die Feier des männlichen
Körpers ließ bisher auf sich
warten. Florence Ehnuel schließt mit ihrem
mitreißenden Buch diese Lücke,
indem sie den Leser teilhaben lässt an ihrer ganz
persönlichen Geschichte. Sie
wächst auf in einem Milieu, das Sexualität und
Sinnlichkeit mit einem Tabu
belegt, und so ist es für sie zunächst kein Leichtes,
die ihr auferlegten
Begrenzungen hinter sich zu lassen und in ihrer Ehe zu einer
erfüllten Sexualität
zu gelangen. Doch erst als sie Mitte dreißig ist und sich von
ihrem Mann
trennt, entdeckt sie in vollem Ausmaß, was ihr bisher
verborgen geblieben war:
die völlige Hingabe an die Faszination und Schönheit
des männlichen Körpers.
Daraus erwächst ihr eine ganz neue Freiheit im Umgang mit
Männern, die es ihr
gestattet, fortan mehrere Liebhaber gleichzeitig zu haben -
und mit jedem
von ihnen eine neue Facette von sich selbst zu erkunden. Ehnuels Buch
ist die
Geschichte einer Frau, die ihre erotischen Begegnungen voller Lust und
Lebensfreude zelebriert und auf faszinierende Weise davon
erzählt, was es heißt,
lebendig zu sein. (Goldmann)
Buch
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Detlev
Ganten, Thomas Deichman, Thilo Spahl: "Die Steinzeit steckt
uns in den Knochen.
Gesundheit als Erbe der Evolution"
Was hat die Gräte mit unseren Rückenschmerzen zu tun?
Der Blick in die
Naturgeschichte des menschlichen Körpers bringt Erstaunliches
ans Licht. Fast
alle Krankheiten lassen sich besser verstehen - und deshalb eher
vermeiden.
Wissen ist die beste Medizin in der
Biologie.
Unsere Körper sind Meisterwerke der Natur. Aber sie sind nicht
perfekt. Wir
sind der lebende Kompromiss aus unseren evolutionären
Vorgängern, den Affen,
Amphibien, Fischen, Einzellern. Seit der Steinzeit hat sich unser
Körper kaum
mehr verändert und passt nun nicht so recht zum modernen
Leben. Deshalb werden
viele krank. Der Arzt und langjährige
"Charité"-Chef Detlev Ganten
hat mit Thomas Deichmann und Thilo Spahl ein spannendes Buch
über einen der
wichtigsten neuen Ansätze für gesunde
Lebensführung geschrieben: die
Evolutionäre Medizin. Sie kann die Ursachen erklären,
warum wir in Scharen mit
Rückenschmerzen
zum Orthopäden laufen und uns Allergien, Diabetes und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen plagen. Wieso kreuzen sich Luft- und
Speiseröhre,
was uns so oft husten lässt? Und warum ist Bewegung
für unseren
Steinzeit-Körper
so wichtig? (Piper)
Buch
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Elaine Scarry: "Der Körper im
Schmerz. Die Chiffren
der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur"
Kultur ist das Werk menschlicher Verletzlichkeit und zugleich der
erfinderische
Einspruch gegen sie. Elaine Scarry entwirft eine andere Geschichte der
menschlichen Zivilisation am Beispiel des leidenden Körpers.
Indem sie Kultur
und Gesellschaft von der Empfindlichkeit des Leibes her denkt, erhellt
sie ganz
überraschende Zusammenhänge von Phänomenen
wie Religion, Rechtsprechung,
Folter, Waffentechnologie, Kriegführung, Politik,
Wissenschafts- und
Sozialgeschichte. (Fischer Taschenbuch Verlag)
Buch
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Bernhard
Kegel: "Das entmachtete Gen. Wie
Erfahrungen
vererbt werden"
An Universitäten wie an Stammtischen wird hitzig debattiert,
ob Umwelt und
Erfahrungen den Menschen prägen oder allein seine
Gene.
Die noch junge
Wissenschaft der Epigenetik zeigt nun, dass beides zutrifft: Nicht nur
die Gene
werden vererbt, sondern auch die lebenswichtige Information, ob die
Zelle diese
Gene benutzen soll oder nicht. Die Steuerung erfolgt über
biochemische
Schalter, die nicht zuletzt durch die Einflüsse der Umwelt
programmiert werden.
Erfahrungen verändern die Komponenten des Genoms. Unser
Schicksal - und das
unserer Kinder und Enkel - liegt also nicht allein in den Genen.
Spannend und kompetent schildert der promovierte Biologe die
weitreichenden
Konsequenzen der Epigenetik für Medizin,
Evolutionsbiologie
und unser alltägliches
Verhalten. Wir werden Zeugen eines dramatischen Paradigmenwechsels in
der
Biologie. (Dumont)
Buch
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Lewis
Wolpert: "Wie wir leben und warum wir sterben.
Das geheime Leben der Zellen"
Zellen sind die Grundlage allen Lebens. Unser Körper besteht
aus Milliarden von
ihnen: ein unglaublich komplexer Verband, der alles steuert, von der
Bewegung
bis zum Gedächtnis und zur Fantasie. Wenn wir altern, dann
weil unsere Zellen
nachlassen; wenn wir krank werden, dann weil unsere Zellen mutieren
oder ihre Tätigkeit
einstellen. In diesem Buch liefert der weltberühmte Zell- und
Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert eine so anschauliche wie spannende
Darstellung
der Wissenschaft, die dem Geheimnis unseres Lebens auf der Spur ist. Er
erklärt,
wie unser Körper funktioniert und wie sich beim Embryo Organe
und Organsysteme
aus der befruchteten Eizelle bilden. Er zeigt, wie sich alles Leben aus
Zellen
entwickelt hat. Und er untersucht die Wissenschaft hinter den Themen,
die
augenblicklich stark umstritten sind, aber selten wirklich verstanden
werden -
Stammzellforschung, Klonen und Genetik. Ein ausgesprochen
zugängliches Buch, um
den menschlichen Körper und im Grunde genommen das Leben
selbst zu verstehen. (C.H.
Beck)
Buch
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Stefan Gödde: "Extrem. Unser Körper am Limit"
Körperwissen extrem
Immer wieder suchen Menschen das besondere Hochgefühl - ob beim Apnoetauchen
oder Bungee-Jumping. Doch wo genau liegen die Grenzen des Körpers? Wie
regiert er in Extremsituationen? Und wie können wir dieses Körperwissen im
Alltag nutzen?
Der "Galileo"-Moderator Stefan Gödde ist ans Limit gegangen. Er hat Menschen
getroffen, die mit einem Atemzug 214 Meter unter die Meeresoberfläche gelangen -
und erklärt, wie man mit einer Lunge überlebt, die auf die Größe einer Orange
geschrumpft ist. Er lässt sich vom legendären "Eismann" Wim Hof beibringen, wie
man extremer Kälte trotzt, und gibt Tipps, wie man die Temperatur durch die
Kraft der Gedanken in die Höhe treiben kann.
Und er erläutert, wie unser Körper auch im Alltag extreme Leistungen erbringt:
So werden z.B. nirgends so viele Muskeln aktiv wie beim
Lachen.
Nach der Lektüre dieses Buchs wissen Sie nicht nur, wo die Grenzen Ihres Körpers
liegen, sondern auch, wie es möglich ist, sie zu überschreiten.
Stefan Gödde ist Wissenschaftsjournalist und moderiert im wöchentlichen Wechsel
mit Aiman Abdallah das erfolgreiche TV-Wissensmagazin "Galileo" auf "ProSieben".
Stefan Gödde lebt
in Berlin und München. (Hanser)
Buch
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Leseprobe:
Das Geheimnis des Sichtbaren
Dieses Buch handelt nicht von meinen persönlichen
Erfahrungen, dennoch hat eine davon es beeinflusst. Wie die meisten
Menschen mit
einem funktionierenden Körper halte auch ich eine Reihe von
Handlungen für
selbstverständlich - triviale Aktionen wie den Kopf heben oder
Tastempfindungen
in den Fingerspitzen haben. Das heißt, ich hielt sie
dafür - bis vor
einigen Jahren. Dann verrenkte ich mir einen Nackenwirbel und hatte in
der Folge
immer wieder Hals- und Kopfschmerzen, bis ich mich eines Tages, nachdem
ich
schließlich meinen linken Arm nicht mehr bewegen konnte,
einer
Bandscheibenoperation unterzog. Der Neurochirurg teilte mir mit, meine Bandscheibe
sei unter den tausend und mehr Bandscheiben, die er unterm Messer
gehabt hätte,
eine der heikelsten gewesen. Der Stolz des Sonderlichen linderte meine
Schmerzen
in den folgenden zwei Wochen - die ich hauptsächlich flach auf
dem Rücken
liegend zubrachte - nicht wesentlich. Um seine dringende Empfehlung,
ich solle
meinen Kopf so wenig wie möglich aufrichten, wirkungsvoll zu
untermalen, half
der Neurochirurg mit einem bestechend anschaulichen Bild nach. Der
menschliche
Kopf sei in Größe und Gewicht einer Bowlingkugel
recht ähnlich, und die
Wirbelsäule habe ganz wie der Stengel einer Sonnenblume alle
Mühe, diese Last
zu tragen. Ich wollte den armen, überlasteten Stengel nicht
erneut zum Knicken
bringen und befolgte die ärztlichen Anweisungen. Also blieb
ich im Bett liegen
und starrte an die Decke.
Auf der Suche begann ich mir Gedanken über den menschlichen
Körper zu machen.
Ich fand heraus, dass ich einen Notizblock auf meine Brust legen und
darauf
schreiben konnte, ohne die Wörter tatsächlich sehen
zu müssen, wenn ich die
Kladde nur ab und zu in mein Gesichtsfeld hob und kontrollierte, ob
mein
Palimpsest immer noch zu entziffern war. Während meiner
Genesung schlug ich
viel Zeit mit dem Hinkritzeln spontaner Gedankenblitze tot, die mir zu
Stichworten wie "Ohr", "Nabel", "Zeh" einfielen.
Neben mir türmten sich die Seiten auf. Plinius' Bemerkung
über König Pyrrhus'
heilmächtigen Zeh zum Beispiel stöberte Erinnerungen
an Margaret Fox und die
Begründer des amerikanischen Spiritismus hervor. Die
Ohren"zwinkerei"
zwischen dem legendären Houdini und seinem Assistenten
brachten mich auf
Darwins Ohrhöcker. Ich sah Neil Armstrongs sorgfältig
arrangierte
OpArt-Aufnahme vorm geistigen Auge auftauchen - wie er seinen Stiefel
in den
Mondstaub drückt - und dachte unwillkürlich an jene
prähistorischen Fußspuren,
die Andrew Hill und mit ihm Mary Leakey bei Laetoli entdeckt hat. Und
jeder
Versuch, den Kopf anzuheben, erinnerte mich daran, dass die
Wissenschaft einen
Großteil unserer Rückenschmerzen diesem
merkwürdigen Aufrechtgang zur Last
legt - unser einstmals horizontales Säugetierrückgrat
hat sich im Laufe der
Zeit emporgebogen, um den nach Höherem strebenden Kopf oben zu
halten und den
begierigen Händen Handlungsfreiheit zu gewähren, was
nun dummerweise die alten
Wirbeltiernerven und die sie umgebenden Schutzschilde oft allzu eng
zusammendrängt.
Bald wurde mir klar, dass ich mich bereits mitten in einem neuen Buch
befand.
Und sowie ich wieder aufrecht saß, stürzte ich mich
in Recherchen über
unseren Körper. Jeder meiner Suchgänge
führte zu neuen Entdeckungen. Mit der
Zeit zog ich Fachleute zu Rate. Da mein Interesse Kultur und Natur
gleichermaßen
galt, wuchs in mir die Erkenntnis, dass viele unserer liebgewordenen
Mythen über
den Körper in Vorstellungen wurzelten, die als Reflex auf
seine Naturgeschichte
zu deuten waren. Nichts regt meine Phantasie stärker an als
jenes Grenzgebiet,
in dem sich diese beiden Felder überlappen und
merkwürdige Hybride ausbrüten.
So ist dieses Buch selbst ein Zwitterwesen geworden.
Es gibt natürlich viele Wege, eine Studie über den
menschlichen Körper
anzupacken. Mediziner nehmen sich zum Beispiel jene großen
Organsysteme vor,
die unsere Körperorgane steuern: Skelett, Muskeln,
Nervensystem,
Verdauungstrakt, Atmungssystem, Herz-Kreislaufsystem, Drüsen-
und Lymphsystem.
Archäologen graben die Erde nach Beweisen für unsere
Herkunft um. Soziologen,
Psychologen, Reflexologen - jeder "-ologe" nähert sich dem
Körper
unter einem anderen Aspekt. Athleten stählen ihren
Körper zur Skulptur. Ganze
Bücherregale widmen sich unserem Selbstbild und Aussehen, dem
Sexualverhalten
und der Körperpflege, der richtigen Ernährung und
Fitness und nicht zuletzt
der Sündigkeit des Körpers sowie der
Möglichkeit, dass Ihre Seele früher ein
anderes Vehikel bewohnt hat als das, in welchem Sie derzeit zu Hause
sind ...
Weil aber keiner dieser Belange meine besondere Neugier befriedigen
kann, wähle
ich im vorliegenden Buch einen anderen Weg: Ich taste mich am -
männlichen und
weiblichen - Körper entlang von Kopf bis Fuß und
betrachte jede einzelne
Region aus der Nähe. Und ich folge dabei einer seltsamen
Dichtermode, die im
Frankreich um die Mitte des 16. Jahrhunderts aufkam. Auf Betreiben
eines im Exil
lebenden Poeten namens Clément Marot machte sich eine Gruppe
prominenter
Dichter an die Komposition sogenannter blasons anatomiques -
poetischer
Hommagen auf die einzelnen Teile des weiblichen Körpers.
Derlei Huldigung von Körperteilen
konnte selbst auf illustre Vorbilder zurückblicken, etwa Francesco
Petrarcas Oden auf die Augen seiner geliebten Laura aus dem
14. Jahrhundert
oder die wollüstigen Huldigungen, die der spätere
Baldassarre Olimpo da
Sassoferrato der weiblichen Brust darbrachte. Neu an der Geschichte
aber war der
Versuch der französischen Poeten, in den weihevollen Oden auch
Körperpartien
von geringerem symbolischen Wert zu verherrlichen, als es das Fenster
zur
Seele
oder der nährende Busen waren. Kein Wunder, dass sich die
Dichter bald einer
Phalanx von Gegnern gegenübersahen: "Was im Zusammenhang mit
Lauras
ausdrucksstarken, lebenssprühenden Augen noch als
seriöse Dichtung durchging",
so die Historikerin Nancy J. Vickers, "schien nun, wahllos auf
Zähne und
Zehen angewendet, gänzlich abwegig." Darüber hinaus
richteten sich die Blasons
gewöhnlich direkt an den betreffenden
Körperteil - eine Geste, die recht lächerlich
wird, wenn man zum Ellbogen spricht. Und doch - schreibt Vickers weiter
-, hätte
Marot eine klassische Hommage auf die weibliche Gestalt als Ganzes
verfasst,
dann wäre ihm niemals die Erschließung eines so
fruchtbaren und kontroversen
dichterischen Feldes geglückt. Bald darauf gab es neben den
lobpreisenden Blasons
oder laudationes auch ihr
Gegenstück, die schmähenden vituperationes
oder Contreblasons - so dass nach und
nach das ganze Spektrum von glühender
Verehrung bis zum abgrundtiefen Abscheu seinen Ausdruck fand.
In gewissem Sinne ist nun dieses Buch ein heutiges "update" jener
Blasons und Contreblasons, handelt es doch im Kern (wenn auch nicht
nur) davon,
wie die Kulturgeschichte des Körpers seine Naturgeschichte
widerspiegelt. Wenngleich ich mit der Art von Personifizierung, in der
die
Verfasser jener Blasons schwelgten, nichts im Sinn habe, gilt meine
erklärt
zwiespältige Hochachtung jenem - tragischkomischen,
göttlichprofanen -
Vehikel, das unser hochfliegendes Bewusstsein von der Wiege bis zur
Bahre befördert.
Unsere Empfindungen spannen auch heute noch den Bogen vom Lobpreis bis
zur Schmährede,
wie wir in breiter Ausführlichkeit sehen werden, sobald wir
nun unsere Art
Blasons "heranzoomen" und die Nahaufnahmen der vielen für sich
stehenden und doch wechselseitig abhängigen Teile unseres
Körpers betrachten.
Ich sehe sie ein wenig so, wie es der aufrührerische
Bürger in Shakespeares Coriolan
beschreibt:
König Kopf und Krone, Wachmann Aug',
Das weise Herz, der Arm: Wehr und Soldat,
Das Streitross Bein, die Zunge, unser Feldhorn [...]
Tatsächlich habe ich das weise Herz,
unseren "Berater",
wie Shakespeare
sagt, ausgelassen - mein Interesse galt der äußeren
Körpergestalt.
"Das große Geheimnis der Welt", bemerkte schon Oscar
Wilde nicht ohne Ironie, "ist nicht das Unsichtbare, sondern
das
Offensichtliche." Statt die in der Tiefe verborgenen Lungen, Herz,
Knochen
zu ergründen, werde ich Ihren Blick auf Teile unseres
Körpers lenken, die
jeder von uns tagtäglich vor Augen hat - die Form unseres
Gesichts, Mund und
Ohren, Augen und Nase,
Schultern, Arme, Hände, Brust und
Brüste, Nabel und
Unterleib, Hüfte, Geschlechtsteile, Beine. Diese Portionen
lassen sich mühelos
in drei Abschnitte einteilen, in denen jeweils ein anderer Aspekt
unserer
evolutionären Geschichte aufscheint - Kopf und Gesicht, Rumpf
und Arme,
Genitalien und Beine. Diese Unterteilung ist kein bloßes
reduktionistisches
Konstrukt, sondern ergibt sich zwanglos aus verschiedenen Quellen - der
Anatomie
und Physiologie der heute Lebenden; dem Vergleich mit unseren
Primaten-Verwandten; und den fossilen Überbleibseln der
ausgestorbenen
Vorfahren. Jedem der genannten Körperbereiche ist seine
Vergangenheit auf
unterschiedliche Weise eingeschrieben. Und jeder hat andere kulturelle
Reflexe
ausgelöst. In diesem Buch werden sie daher in drei
aufeinanderfolgenden
Abschnitten behandelt, als "Regierungsviertel" - "Schwere Welt"
- "Festes Standbein". In diesen Titeln drückt sich einerseits
die
Naturgeschichte jeder einzelnen dieser Körperlandschaften,
aber auch jene mächtige
Metaphorik aus, die auf poetischen Schwingen beständig
über ihr kreist.
Ich entschied mich für eine Reiseroute von "oben" nach
"unten",
vom Scheitel bis zur Zehe, aus zwei Gründen.
Zunächst, weil es keine
systematische Darstellung, sondern eben eine (Reise-)Erzählung
werden sollte.
Und zweitens sollte sie daran erinnern, dass wir in eben dieser
Schrittfolge
heranreifen: Das erste, was ein frisch auf die Welt gekommenes
Menschenkind
unter seine Kontrolle bringt, sind die Augenmuskeln. Nach und nach wird
es die
restliche Gesichtsmuskulatur beherrschen und schließlich mit
dem ersten willkürlichen
Lächeln eine entscheidende gesellschaftliche Stufe erreicht
haben. Als nächstes
wird es sich die Nackenmuskulatur dienstbar machen, so dass sein Kopf
nicht länger
hilflos zur Seite kippt. Sodann treten Rumpf und Oberkörper
zum Bereich der
Selbstwahrnehmung des Babys hinzu. Endlich werden die noch
unkontrollierten Arme
- und später die Beine - unter die konzertierte Kontrolle des
Körpers gebracht
und verwandeln sich von plumpen Anhängseln und neckischem
Spielzeug zum
Herumkauen in präzisionsgesteuerte und mit Bedacht platzierte
Hände und Füße.
Zu meinem Bedauern konnten zahlreiche Themen aus Platzgründen
keine Berücksichtigung
finden. Der Begrenzung zum Opfer fielen Themenbereiche wie
Zähne,
Brustvergrößerung,
Bärte, Gewichtszu- und -abnahme, Ellbogen, Knie sowie das
weite Feld um
Rassismus und Hautfarbe. Andererseits forderten gewisse
Sehenswürdigkeiten
hartnäckig, in die Beschreibung meiner Reise über den
Körper aufgenommen zu
werden - zum Beispiel "Wachmann" Auge.
Häufig war mir, als schriebe ich dieses Buch auf dieselbe Art,
wie ich tatsächlich
auch zu reisen pflege, nämlich mit spontanen Zwischenstopps an
Orten, die
unwillkürlich meine Neugier erregen. Meine Ausflüge
in die herrliche
Extravaganz der menschlichen Zehen, meine Ode an die Augenbrauen - sie
mögen
als Beispiele dafür verstanden werden, wie das Wundervollste,
dicht
zusammengepackt wie ein Schwarzes Loch, noch in den bescheidensten
Objekten
liegt. Weder der Kultur noch der Naturgeschichte werden je die
Geschichten
ausgehen, die jeder einzelne Teil unseres Körpers zu
erzählen weiß. (...)