Eric G. Wilson: "Unglücklich glücklich"
Von europäischer Melancholie und American Happiness
"Unglücklich
glücklich" ist ein kritischer und ehrlicher Blick "hinter die
Kulissen", hinter die Fassade der Amerikanischen "Happiness",
eine ebenso psychologische, soziologische sowie philosophische Analyse
eines gesellschaftlichen Phänomens.
Eric G. Wilson setzt sich mit der neuen Psychologie zur
Glücksvermehrung auseinander und geht der Frage auf den Grund,
wie es dazu kommen kann, dass gemäß einer Studie
fast fünfundachtzig Prozent der US-Amerikaner sich als "glücklich" zu
verstehen meinen, angesichts der sozialen, wirtschaftlichen,
existenziellen Bedrohungen, von der Umweltverschmutzung und deren
Auswirkungen ganz zu schweigen.
Wilson beginnt mit einem kulturgeschichtlichen Rückblick, mit
den Pionieren Amerikas, der Zeit des Amerikanischen Traums und spannt
gekonnt einen Bogen von
Benjamin Franklins Begriff von
Reichtum und Glück ("Der Weg zum Reichtum") bis hin zum quasi modernen "American
Dream of Happiness".
Er wirft einen differenzierten Blick auf Gesellschafts- sowie
Bildungspolitik und spricht von den unangenehmen Dingen des Lebens, wie
es ist, wenn wir diese Dinge sehen und wahrnehmen. Er spannt einen
Bogen von der Heilsversprechung des Alten Testaments, über
moderne religiöse und spirituelle Strömungen,
über die innersten im Menschen angelegten Wünsche
nach Sicherheit und Geborgenheit, das Streben nach Glück und
Harmonie, über gesellschaftliche und politische Entwicklungen,
von der Bildungspolitik zur Gesundheitspolitik, zur Friedenspolitik bis
hin zur amerikanischen Esskultur
und dem scheinbaren Recht der
Fleißigen und Positivdenker auf Glück und Wohlstand.
Wilson stellt dar, wie aus dem Glücksstreben einer
Gesellschaft ein eindimensionales fanatisches Kulturgut geworden ist,
das in höchstem Maße zu hinterfragen ist. Er stellt
(s)eine (us-amerikanische) Kultur vor, die zwanghaft und neurotisch
alles Vergängliche, Traurige, Hässliche,
Ungemütliche, Unschöne aus dem Leben entfernen
möchte, in der Hoffnung es bliebe dann nur das
Schöne, Glänzende, Strahlende übrig - wie
einst die Goldschürfer das Gold vom Schlamm trennten, wie
Spreu vom Weizen zu trennen möglich ist. Wilson beschreibt die
kulturelle Ausformung zur Trennung, zur Spaltung - in Gut und
Böse, in Gesund und Krank - das Böse und Kranke
auszumerzen, eine Vereinfachung des Lebens, und deren fatale
Auswirkungen.
Wilson unternimmt den überzeugten sowie überzeugenden
Versuch aus dualistischen Gegensatzpaaren eine große
verbundene (sowohl-als-auch) Welt darzustellen, in der
sämtliche Regungen und alle Ereignisse Platz haben, in der der
Mensch an vielleicht verwirrender und zum Teil auch schmerzhafter
Vielfalt gewinnt, die Welt allerdings an Eindeutigkeit verliert.
Er wagt einen differenzierten Blick auf Glück und
Unglück, Ruhe und Behaglichkeit, Trauer und Hoffnungslosigkeit
und weist darauf hin, dass Licht Schatten wirft, dass das Leben
Bewegung ist und Versuche, Gefühle oder Momente festzuhalten,
nur scheitern können. In einem Zustand wirklich lange zu
verbleiben, darin zu verharren käme der Totenstarre gleich.
Wilson bezieht Stellung:
Er zeichnet das Leben als vielfältige und komplexe Ausformung
von potenziellen Möglichkeiten, die wir nicht in dem
Ausmaß zu kontrollieren imstande sind, wie wir das vielleicht
gerne hätten. Er postuliert, dass dem Menschen die
Fähigkeit gegeben ist sich selbst zu denken, die Last und die
Frucht unsere Verletzbarkeit und unsere Endlichkeit wahrzunehmen.
Wilson spricht von der Macht des Leides und von der Beziehung zwischen
Schönheit und Tod und begibt sich auf die Spur jener, die
Kraft in der Trauer, Lebendigkeit in der Vielfalt, Entwicklung durch
kritisches Hinterfragen, Produktivität durch Melancholie
erlebten - wie etwa
Melville ("Moby Dick"), Bruce Springsteen, Joni Mitchell,
Tolstoi,
Vincent Van Gogh, John Lennon, G.F. Händel oder Ficiono, der
Melancholie sogar als unverzichtbar für die geistige
Gesundheit des denkenden Menschen beschreibt.
Mit Herz und Verstand versucht er zu vermitteln, dass Melancholie nicht
Willensschwäche und nicht nur als Krankheit zu verstehen ist,
die es zu vermeiden gilt oder die man bekämpfen muss, sondern
als Phasen zum Leben gehören, die es zu überwinden
gilt und aus denen wir gestärkt hervorgehen können.
Melancholisch bedeutet für den Autor, in der
ständigen Unsicherheit des Zweifels zu leben, es bedeutet
nicht die ständige Hoffnungslosigkeit.
Es geht ihm darum, den Zweifel zuzulassen, darüber
nachzudenken, ihn auszuhalten und zu beantworten, in dem Wissen, dass
die gegebene Antwort nichts Statisches und Endgültiges ist,
vielmehr einen Prozess, eine Entwicklung darstellt.
Leidenschaftlich versucht er die dunkle Seite des Lebens, Trauer, Leid,
Schmerz wieder ins gesellschaftliche Leben zu integrieren. Er vertritt
insofern einen integrativen Ansatz, als es ihm darum geht, die
Widersprüchlichkeiten des Lebens, das Gleichzeitige von
Gut
und Böse, das Schöne im Schmerzlichen und das
Traurige im Schönen wahrzunehmen und auszuhalten. Er spricht
vom Tod, der uns durchs Leben begleitet, den wir gerne ausklammern
wollten. Den Gedanken an den Tod zuzulassen, ihm zu begegnen, ist
dagegen wichtig, um das Wesentliche vom Leben zu begreifen.
Die Ausgrenzung, die Verdrängung des Todes führt
paradoxerweise dazu, dass er sich immer wieder dem Bewusstsein
aufzudrängen versucht, was Angst erzeugt,
große
Angst, die dann in alle Bereiche des Lebens spielt und unsere
Lebensqualität (der wir so fanatisch an den Fersen heften)
massiv einschränkt. Wir erreichen mit Ausgrenzung also genau
das Gegenteil davon, was wir mit ihr beabsichtigen.
"Unglücklich glücklich" ist ein Plädoyer
für die Vielschichtigkeit des Menschen aber auch für
die Vielfalt der Gesellschaft, denn Einfalt ist wie Monokultur immer
anfälliger, hohe Diversität stärkt den
Einzelnen wie das Gesamte.
E.G. Wilson schreibt vor allem natürlich als und für
(oder gegen) die us-amerikanische Seele, insofern für uns
nicht so fremd, als sie sich in den letzten zwanzig Jahren stark in
Europa breit gemacht und sich, besonders in der jüngeren
Kultur, über Film, Internet und natürlich
wirtschaftspolitisch schon fest verankert hat.
Er setzt mit seinem Buch einen Kontrapunkt zu den manipulativen
heilsversprechenden Lebensratgebern, die neue Werte und Normen
vorgeben, Stereotype schaffen, die zu leben oder zu erreichen
völlig unrealistisch sind, eigentlich nur enttäuschen
können und somit den Menschen in Abhängigkeit halten
- was ein Paradoxon für sich darstellt, weil sie damit genau
jene - geistige - Freiheit verlieren, die zu erhalten sie versprechen.
"Unglücklich glücklich" ist eine beherzte
geisteswissenschaftliche kritische Analyse und Abhandlung über
die modernen Werte westlicher Welt.
Das Buch ist ein gefühlvolles Plädoyer
für
die Komplexität und Vielfalt der Welt, sie als solche auch
wahrzunehmen, darüber (kritisch) nachzudenken und sich ihr
hinzugeben.
(Mag. Sigrid Mayrhofer; 04/2009)
Eric
G. Wilson: "Unglücklich glücklich.
Von europäischer Melancholie und American Happiness"
(Originaltitel "Against Happiness. In Praise of Melancholy")
Übersetzt von Susanne Held.
Klett-Cotta, 2009. 198 Seiten.
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Eric
G. Wilson, geboren 1967, ist Professor für Englische Literatur an der Wake Forest
University in Winston-Salem, North Carolina. In bisher fünf Büchern
thematisierte er das Verhältnis von Psychologie und Literatur.
Weitere Buchtipps:
Mariela Sartorius: "Die hohe Kunst der Melancholie"
Die Melancholie ist ein oft verkannter, bittersüßer Hochgenuss für die
Feinschmecker der Emotionen. In den oberflächlichen Alltag zwischen aufzehrendem
Stress und dem immerwährenden Zwang zum Spaß bringt sie ein unvergleichliches
Gefühl der Tiefe, angereichert durch eine reizvolle Mischung aus
Nachdenklichkeit und Sehnsucht. Ein bisschen Wehmut, ein wenig Erinnerung,
Offenheit gegenüber neuen Eindrücken gehören auch dazu.
Dieses Loblied auf die Melancholie ist außergewöhnlich und besticht durch eine
gelungene Mischung aus Lebenserfahrung und Humor. Wer Melancholie zulässt, wird
reich belohnt.
Was ist Melancholie? Wie zeigt sie sich und wie entsteht sie? Die guten Seiten
einer vorgeblich negativen Eigenschaft. Mit einer Galerie der großen
Melancholiker dieser Welt. (Gütersloher Verlagshaus)
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Andreas Lebert, Stephan Lebert: "Der Ernst des Lebens. Und was man
dagegen tun muss"
Heiterkeit ist ein wertvolles Gut, etwas, das man hüten und
aufheben muss, das,
wenn man nicht darauf aufpasst, Gefahr läuft, verloren zu
gehen - in der Düsternis
des Alltags, im Ernst des Lebens.
Doch wie bewahrt man sich eine heitere Gelassenheit? Was ist das
Geheimnis von
Menschen, die sich vom Leben einfach nicht unterkriegen lassen?
Andreas und Stephan Lebert fertigen Schichtaufnahmen der Heiterkeit an,
leuchten
ihre Verläufe aus, ihre Ballungen, ihre Gesetze, ihre
Verstecke: Gerade dann,
wenn das Leben sich anschickt grau zu werden, wenn es
plötzlich nur noch eine
Handlung zu geben scheint - gerade dann lohnt sich ein besonderer Blick
auf das
scheinbar Nebensächliche, gerade dann offenbart sich das
Geheimnis der
Heiterkeit. Besonders Menschen, die viel erleiden mussten, wissen den
unermesslichen Wert der guten Laune zu schätzen, legen sie wie
einen Überlebenspanzer
um sich.
Andreas und Stephan Lebert nehmen den Leser mit auf eine Reise zum
unverwundbaren Kern der Menschen und zeigen, was man wirksam gegen den
Ernst des
Lebens unternehmen kann. (S. Fischer)
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Peter
Sillem (Hrsg.): "Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch"
Ein kenntnisreiches Lesebuch zum Phänomen Melancholie von der
Renaissance bis
zur Gegenwart.
Wer melancholisch ist, hat gute Chancen, als Genie in die Geschichte
einzugehen
- so dachten schon die alten Griechen. Was aber ist eigentlich
Melancholie? Was
heißt, eine Person, Landschaft oder Musik sei melancholisch?
Sah man früher Anderes
darin als heute? Dieses Buch versucht dem Phänomen auf die
Spur zu kommen und
versammelt dazu die wichtigsten Texte und auch viele Neuentdeckungen,
über
Jahrhunderte und Ländergrenzen hinweg.
Bedeutende Literaten, Philosophen und Psychologen
äußern sich als Betroffene
oder Interessierte - darunter Hippokrates, Robert Burton, Liselotte von
der
Pfalz, Sören Kierkegaard,
Sigmund Freud und
Susan Sontag, um nur wenige zu
nennen. Einige Beiträge sind zum erstenmal auf Deutsch zu
lesen, und am Ende
steht ein Originalbeitrag von Oliver Vogel, der die Melancholie in
einem
Versandhauskatalog aufspürt - letztes Teilstück eines
faszinierenden,
vielgestaltigen und gar nicht schwermütigen Mosaiks
über das "Glück",
unglücklich zu sein. (dtv)
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Wolf
Lepenies: "Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und
die Wiederkehr der Melancholie"
Lepenies' Studie über "Melancholie und Gesellschaft" erschien
erstmals 1969. Melancholie wird als sozial bedingtes Phänomen
dargestellt -
auch und gerade dort, wo melancholisches Verhalten als
Gesellschaftsflucht
erscheint. Die benutzten Quellen sind unterschiedlicher Natur: der
Roman steht neben der Utopie, neben soziologischer Analyse der Aphorismus. Diese
Disparatheit erzwingt der Gegenstand: weder Melancholie noch utopisches
Denken und Langeweile lassen sich einer einzelnen Disziplin zuschlagen und in
ihr verarbeiten. (Suhrkamp)
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"Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst"
Herausgeber: Jean Clair, Text von Yves Bonnefoy, Jean Clair, Marc
Fumaroli, Yves Hersant, Olivier Meslay, Alain Pasquier, Peter-Klaus Schuster, Jean
Starobinski, Werner Spies u.A.
Ein kunst- und kulturgeschichtliches
Standardwerk mit rund dreihundert farbig reproduzierten Meisterwerken
zum Thema Melancholie von der Antike bis zur Gegenwart.
Kein Gemütszustand interessiert die westliche Kultur schon so
lange wie die
Melancholie. Traditionell als Ursache für seelisches Leiden
und Wahnsinn
verstanden, galt sie zugleich nach der Temperamentenlehre als typisch
für
Helden und Genies. Selbst heute, als
Depression medizinisch-wissenschaftlichen
Paradigmen unterworfen, lässt sie sich nicht
vollständig erklären.
Die mit der künstlerischen Darstellung der Melancholie
verbundene Ikonografie
ist entsprechend variantenreich. Der vorliegende Band bietet mit
annähernd
dreihundert Arbeiten, von der attischen Stele bis zu
zeitgenössischen Werken,
einen breit gefächerten Überblick der mannigfaltigen
Erscheinungsbilder und
belegt dabei die tiefe Prägung des europäischen
Geniebegriffs durch die "Saturnische Krankheit".
Die vorgestellten Künstler (Auswahl): Arnold Böcklin,
Giorgio de Chirico,
Lucas
Cranach, Eugène Delacroix,
Otto Dix, Albrecht
Dürer,
Caspar David
Friedrich, Johann Heinrich Füssli,
Francisco
de Goya, Nicholas Hilliard, Edward Hopper, Anselm Kiefer,
Franz Xaver
Messerschmidt, Ron Mueck, Edvard Munch,
Pablo
Picasso, Nicolas Poussin, Auguste Rodin, Jean-Antoine
Watteau. (Hatje Cantz
Verlag)
Buch
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Leseprobe:
EINLEITUNG
... Melancholie ist ein furchtbares Geschenk.
Denn was anderes ist sie als das Teleskop
der Wahrheit?
George Gordon, Lord Byron
Wir leben in schlimmen Zeiten. Jeder noch so flüchtige
Blick eröffnet uns eine mögliche Katastrophe.
Meistens lässt uns das Gefühl,
verfolgt zu werden, morgens in den Wachzustand aufschrecken - und wir
taumeln
nach draußen in ein geisterhaftes Sonnenlicht. Nachts
wühlt Angst die
Dunkelheit auf. Träume von leeren Straßen
mäandern durch unseren unruhigen
Geist. Wir halten diese Vorzeichen aus, die so ungreifbar und
flüchtig sind wie
der dunkle Schrecken, der auf ihrem Grund lauert, und mühen
uns, genau in den
Blick zu nehmen, was uns so ängstigt. Vor unserem inneren Auge
entrollt sich
die deprimierende Litanei globaler Probleme. Hoffentlich liefert uns
diese
Auflistung einen Sinn, einen Schlüssel zu unserer Unruhe.
Überblicken wir rasch den Horizont unserer Probleme: Nicht
mehr lange, und
unsere Ozonschicht ist zerfallen. Während ich schreibe,
schmelzen die
Polarkappen. Womöglich erleben wir in nur wenigen Jahrzehnten
ein unheimliches
Ansteigen der Ozeane. Selbst unsere größten,
höchststrebenden Wolkenkratzer könnten
bald von gleichgültigen Wellen verschlungen sein. Wir sind
kurz davor, Hunderte
von außergewöhnlichen Tierarten auszurotten. Diese
Tiere - das weiße
Rhinozeros, der Sumatra-Tiger, der kalifornische Kondor - haben eine
jahrmillionenlange Evolution hinter sich. Nicht viel länger
als ein
menschliches Leben dauerte es, bis unsere Missachtung der Natur diese
wunderbaren Geschöpfe beinahe verschwinden ließ.
Bald wird es in unseren Wäldern
keine vielfältigen Tierarten, keine vielfarbigen
Vogelschwingen mehr geben. Die
früher vor Leben wimmelnden Gebiete werden so nichtssagend
sein wie eine
zubetonierte Straßenlandschaft. Außerdem stehen wir
am Rand eines neuen
Kalten
Krieges. Nicht mehr lange, und die nukleare Bewaffnung wird wieder
zunehmen. Die
Ängste aus der Mitte des letzten Jahrhunderts werden sich
wieder einstellen.
Wieder werden wir uns die bange Frage stellen müssen, ob
dieses Jahr womöglich
das letzte sein wird, in dem Menschen auf dieser zeitverfallenen Erde
atmen und
wandeln.
Und ich kann jetzt eine weitere Bedrohung hinzufügen, deren
Gefährlichkeit möglicherweise
den schlimmsten unserer apokalyptischen Vorstellungen in nichts
nachsteht. Wir
sind kurz davor, eine der wichtigsten kulturellen Kräfte zu
eliminieren, eine
bedeutende Inspirationsquelle jeglichen Erfindungsgeistes, die Muse
für Kunst,
Dichtung und Musik. Fieberhaft arbeiten wir daran, die Welt von
zahlreichen
Ideen und Visionen zu befreien, von vielfältigen Innovationen
und Meditationen.
Wir sind im Begriff, die Melancholie zu vernichten.
Wir fragen uns, ob das breite Angebot an
Antidepressiva eines Tages den
"süßen
Schmerz" zu einem Relikt aus ferner Vergangenheit macht. Wird bald
jeder
zivilisierte Mensch glücklich sein? Werden wir eine
Gesellschaft
selbstzufriedener Smileys?
Sirupsüßes Mienenspiel wird unser Gesicht
verkleistern, während wir durch pastellfarbene Gänge
stolzieren. Blendendes
Neonlicht wird uns unseren Weg weisen.
Was verbirgt sich hinter diesem Trieb, die Traurigkeit aus unserem
Leben
auszumustern, vor allem in Amerika, dem Land grandioser Träume
und
hemmungslosen Erfolgs? Warum scheint es für die meisten
Menschen nichts
Erstrebenswerteres zu geben, als sich einen wesentlichen Teil ihres
Herzens
wegschneiden und wie ein Stück Abfall entsorgen zu lassen? Was
ist zu tun
angesichts dieser amerikanischen Glücks-Obsession, einer
Besessenheit, die
durchaus zu einer plötzlichen Auslöschung jeglichen
kreativen Impulses führen
kann und in einer Vernichtung enden könnte, die gewiss mit den
schlimmen
Schatten vergleichbar ist, welche die globale Erwärmung, die
Umweltkrise und
die nukleare Aufrüstung werfen? Was steckt hinter dieser Sucht
nach
Zufriedenheit, nach harmlosem Lächeln? Worauf beruht diese
verzweifelte
Behaglichkeit?
Solche Fragen sind natürlich für die meisten
Amerikaner samt dem, was sie für
ihre Grundüberzeugung halten, wie ein Schlag ins Gesicht. Eine
aktuelle
Umfrage, die vom Pew Research Center durchgeführt
wurde, belegt: Fast 85
Prozent der Amerikaner glauben, dass sie sehr glücklich oder
zumindest glücklich
sind. In der psychologischen Welt macht ein neuer Begriff Furore: die
"Positive
Psychologie", die sich die Vermehrung des Glücks auf die
Fahnen
geschrieben hat, und zwar mit den Mitteln des Genusses, des Engagements
und der
Sinnstiftung. Psychologen, die auf diesem Therapiegebiet tätig
sind, führen
eine neuartige Wissenschaftssparte an: die Wissenschaft vom
Glück. Etablierte
Verlage gehen in die Lehre der Selbsthilfe-Industrie und drucken
Tausende und
Abertausende von Büchern zu der Frage, wie man
glücklich wird und warum wir glücklich
sind. Die Publikationen zum Thema Selbsthilfe mit ihren
minutiösen Anleitungen
zur Erlangung eines Zustands umfassender Zufriedenheit füllen
die Regale der
Buchläden. Überall stoße ich auf Werbung,
die immer noch mehr Glück
verspricht, Glück zu Lande, zu Wasser und in der Luft, im Auto
oder unter den
Sternen. Und wie ich bereits erwähnte, bieten Ärzte
heutzutage ein breites
Spektrum an Medikamenten an, welche die Depression
womöglich für immer auslöschen. Das
Zeitalter perfekter Zufriedenheit - fast
scheinen wir es schon erreicht zu haben: eine schöne neue Welt
andauernden Glücks,
Freude ohne Leid, Genuss ohne Reue.
Doch bei all diesem Überfluss an Glück kann es nicht
mit rechten Dingen
zugehen. Wie können so viele Menschen bei all den Problemen,
von denen unsere
Erde heimgesucht ist, so glücklich sein - nicht nur angesichts
der schon erwähnten
kollektiven apokalyptischen Übel, sondern auch bei all den
individuellen
Irritationen, die unseren Alltag belasten; all den finanziellen Sorgen,
Beziehungskonflikten, den lähmenden Berufsproblemen und
einsamen Dämmerungen?
Sollen wir wirklich glauben, dass vier von fünf Amerikanern
mitten in dieser
allgemeinen Misere zufrieden sein können? Lügen sie,
oder fürchten sie sich
einfach vor ehrlichen Angaben in einer Kultur, deren
Glücksstreben manische Züge
hat? Können wir solchen Statistiken denn tatsächlich
vertrauen? Muss uns die
Überbetonung des Glücks, die für unsere
westliche Kultur so typisch ist,
nicht mit tiefer Sorge erfüllen? Haben wir keine Angst, dass
diese verbissene
Bemühung um Unbeschwertheit zu defektem Leben führt,
zu fader Existenz, zu Wüsten
normierten Verhaltens?
Ich selbst befürchte, dass die erhöhte
Aufmerksamkeit, die in unserer Kultur
dem Glück geschenkt wird, und die Vernachlässigung
der Traurigkeit, die damit
einhergeht, eine ganze Reihe von Gefahren mit sich bringen, indem sie
bewusst
einen wesentlichen Teil menschlichen Lebens ausklammern.
Außerdem erfüllt mich
folgende Möglichkeit mit Sorge: Wer in einer fraglos
tragischen Welt nach
nichts anderem als nach Glück strebt, wird unauthentisch und
richtet sich in
unrealistischen Abstraktionen ein, in denen konkrete Situationen aus
dem Blick
geraten. Schließlich habe ich Angst vor den Anstrengungen,
die unsere
Gesellschaft unternimmt, um die Melancholie aus dem System zu
verbannen. Kämen
ohne seelische Erschütterungen unsere grandiosen
Sehnsuchtstürme nicht ins
Wanken? Müssten unsere aufwühlenden Symphonien nicht
verstummen?
Ich möchte diesen Befürchtungen auf den Grund gehen,
um herauszufinden, ob sie
legitim sind oder ob es sich bloß um neurotische
Nörgeleien handelt. Momentan
habe ich den Eindruck, dass sie durchaus ihre Berechtigung haben.
Dieser
Eindruck erwächst aus meinem Verdacht, dass die verbreitete
Form der "American
Happiness" eine fade Oberflächlichkeit hervorbringt.
Eine solche Art
des Glücks führt dazu, dass der Eigenwert der
Traurigkeit ängstlich ignoriert
wird. Diese Sorte angeblicher Freude hat außerdem offenbar
zur Folge, dass des
Lebens stetige und vitale Polarität zwischen Agonie und
Ekstase,
Niedergeschlagenheit und Überschwänglichkeit einfach
nicht mehr spürbar ist.
Diese Sorte von Glück versucht, die Traurigkeit auszuklammern,
sie von dem ihr
gehörigen Platz im großen kosmischen Rhythmus zu
verstoßen; sie möchte uns
suggerieren, dass die Melancholie, der Blues ein
normverletzender Zustand
ist, der als Willensschwäche gegeißelt werden oder
mit Hilfe einer kleinen
rosa Pille entfernt werden muss.
Lassen Sie mich eines in jeder Hinsicht klarstellen: Mein Thema hier
ist
lediglich diese ganz besondere Art von Glück, die American
Happiness.
Ich stelle Glück
nicht generell in Frage. Zum Beispiel hinterfrage ich nicht im
Geringsten den
fast unerträglichen Überschwang, der manchmal
plötzlich aus langem Leiden
entsteht. Ich spreche mich auch nicht gegen die schwer
erkämpfte Seelenruhe
aus, die sich aus langen Meditationen über das Leiden der Welt
ergeben kann.
Ich kritisiere selbstverständlich auch nicht die anhaltende
Zufriedenheit, die
ein Leben begleitet, das sich dem Dienst an leidenden Mitmenschen
verschrieben
hat.
Und ich möchte auch klarstellen, dass ich ganz und gar kein
Interesse daran
habe, eine klinische Depression zu verklären. Es gibt viele
schutzlose Seelen,
die eine medikamentöse Versorgung brauchen, um sich nicht
selbst umzubringen
oder ihre Freunde und Familien zu gefährden. Nichts
läge mir ferner, als
medikamentengestützte Therapien für Menschen in Frage
zu stellen, die unter
einer ernsthaften Depression leiden. Nicht genug damit, dass ich
dafür nicht
qualifiziert bin (ich bin kein Psychotherapeut auf der Suche nach
Symptomen,
sondern ein Literaturwissenschaftler, der nach einem tieferen Leben
strebt) -
ich würde auch nie gegen medikamentöse Therapien
Stellung beziehen, die für
so viele Menschen mit biochemischen Störungen das Existieren
überhaupt erst
erträglich machen.
Allerdings frage ich mich schon, warum so viele Menschen, die
melancholische
Anwandlungen haben, heutzutage Tabletten schlucken, bloß um
den Schmerz zu
lindern, um einen sorgenzerfurchten in einen lächelnden
Gesichtsausdruck zu
verwandeln. Natürlich ist die Grenze zwischen dem, was ich
Melancholie nenne,
und dem, was in der Gesellschaft als Depression gilt,
fließend. Ich bin der
Meinung, dass beides sich im Hinblick auf den Grad an
Aktivität unterscheidet.
Bei beiden Formen handelt es sich um eine mehr oder weniger chronische
Traurigkeit, die zu anhaltendem Unbehagen angesichts des Status quo
führt - das
ständige Gefühl, dass die Welt, wie sie ist, nicht
richtig, nicht in Ordnung
ist; dass sie vielmehr ein Ort des Leidens, des Stumpfsinns und der
Bosheit ist.
Die Depression - beziehungsweise das, was ich darunter verstehe -
führt zu
Apathie angesichts des Unbehagens, zu einer Lethargie, die an
Lähmung grenzt,
einer Unfähigkeit, irgendetwas zu spüren, sei es in
der einen oder anderen
Richtung. Im Gegensatz dazu setzt die Melancholie, in meinen Augen, ein
tiefes
Gefühl im Hinblick auf diese selbe Beunruhigung frei, eine
Herzens-Turbulenz,
die in eine aktive Hinterfragung des Status quo mündet, eine
fortwährende
Sehnsucht danach, neue Wege des Sehens und des Seins zu erschaffen.
Unsere Kultur scheint für diesen Unterschied kein
Gespür mehr zu haben, sie
behandelt die Melancholie folglich als Regelverletzung, als eine
verabscheuungswürdige
Bedrohung unserer durchgängigen
Glücksgefühle - Glück als
unverzügliche Erfüllung,
Glück als vordergründige Behaglichkeit, als statische
Zufriedenheit. Natürlich
wird da sofort die Frage laut: Wer würde diese hohle Form der "American
Happiness" nicht anprangern? Sind wir denn nicht alle
spät nachts,
wenn wir uns nicht selbst belügen, Gegner dieser flachen Form
von Glück? Das
ist sehr wahrscheinlich, doch kann es nicht auch sein, dass viele von
uns der
Oberflächlichkeit verfallen, ohne es richtig zu merken? Sind
nicht viele so betört
vom American Dream, dass es einer
Gehirnwäsche gleichkommt und wir tatsächlich
glauben, unser einziger Lebenszweck sei es, glücklich zu sein?
Und bescheren
uns dieser unbewusste Hang zum Glück und die damit verbundene
Abwendung von der
Traurigkeit nicht ein einseitiges Leben: Glück ohne Unbehagen,
Mittagshelligkeit ohne Mitternachtsdunkel?
Die meisten von uns sind, wie ich meine, durch die amerikanische
Idée fixe vom
Glück aufs Glatteis geführt worden. Wir glauben
vielleicht, dass unser Leben
von Aufrichtigkeit geprägt ist, dass es auf pralle
Wirklichkeit und echte Gefühle
ausgerichtet ist, und dabei verhalten wir uns ebenso vorhersagbar und
künstlich
wie Roboter,
lassen uns in gut eingelaufene "glückliche" Verhaltensmuster
fallen,
in die Konventionen der Zufriedenheit, in das allgegenwärtige
Dauergrinsen. Und
als so Betrogene verpassen wir die grandiose Balance des lebendigen
Universums,
seine strahlende Dunkelheit, seine schreckliche Schönheit.
Der American Dream ist womöglich ein
Alptraum. Was aussieht wie Glück,
könnte sich als Anti-Utopie schlaff grinsender Fratzen
herausstellen. Unsere
Gier nach Glück lässt auf einen bedenklichen Hass auf
alles schließen, das wächst,
sich entfaltet und dann stirbt - auf die sonderbaren Vögel,
die durch
braun-graue herbstliche Tristesse flattern; auf die blauen Dahlien, die
von
Sorge ausgehöhlt zu sein scheinen; auf all die
schwermütigen Seelen, die sich
hinter hohen Fenstern nach Wolken sehnen. Die schlimmste Vorstellung
für mich:
Eines Tages kriechen wir aus unseren Betten und gehen in eine Welt
hinein, in
der es keine wunderbar einsamen Straßen mehr gibt, nicht mehr
das Flair
verlassener Hotels oder die Größe
halbverrückter Genies und ihrer wilden
Gedichte. Nichts wäre für mich schlimmer, als wenn
wir erst dann zur Besinnung
kämen, wenn es fürs Leben zu spät ist.
FINALE: INS OFFENE
Die traurigen und die ernsten Autoren.
- Wer zu Papier bringt, was er leidet , wird ein trauriger
Autor:
aber ein ernster, wenn er uns sagt, was er litt
und weshalb er
jetzt in der Freude ausruht.
Friedrich
Nietzsche
Der Gen-Pool - vor und jenseits aller Zeit
- brodelt und schäumt. Was an die Gestade der Zeitlichkeit
gespült wird,
entscheidet der Zufall, die Stimmung der Wellen. Irgendwann schwemmt
dieses
wimmelnde DNA-Reservoir ein Gen an, in dem die Finsternis des Saturn
beschlossen
ist, eine Doppelhelix, dazu bestimmt, melancholische Veranlagung
hervorzubringen. In diesem Augenblick beginnt das, was wir die
Geschichte des
Menschen nennen: das scheinbar endlose Streben nach unerreichbarer
Vollkommenheit, der tragische Versuch, das Unbegreifbare zu greifen und
grandios
zu scheitern. Dieses Melancholie-Gen entpuppte sich als
Innovations-Code. In ihm
ruht der Keim für unsere prachtvollen,
himmelsstürmenden Türme. Es trägt in
sich den Funken für unsere großen, gott-hungrigen
Epen und die unerhörten
Symphonien, in denen die leidenschaftliche Schönheit der
ersten Ozeane
vernehmbar wird. Ohne dieses leidgetränkte Genom
hätten diese erhabenen
Gebilde das Nimmerland der Nichtexistenz nie verlassen. Ohne diese
dunkle,
sehnsuchtstrunkene genetische Information hätte sich wohl das,
was wir
insgesamt als Kultur ansehen, dieses himmlische Reich hochfahrender
Ideen, nie
aus dem bloßen Kampf ums Überleben, aus dem
schlichten Kreislauf von Töten
und Fressen, herausentwickelt.
Wir können uns die Szenerie in der primitiven Welt vorstellen:
Während die
kraftstrotzenden menschenförmigen Muskelpakete des Stamms
unterwegs waren und
geistlos Tiere oder Artgenossen erschlugen, blieb der Melancholiker, in
Gedanken
versunken, in einer Höhle oder unter einem Baum
zurück. Dort malte er sich
neue ovale, bernsteinfarbene Strukturen aus oder unerhörte
sprachliche
Rhythmen, heilige Formeln oder Lieder, die sogar die der Vögel
übertrafen. Mit
solchen und anderen Vorstellungen war dieser melancholische Phantast,
der sich
dem Alltagsgeschäft verweigerte,
für seine Kultur
mindestens ebenso nützlich
wie die Jäger und Sammler. Er sorgte dafür, dass sie
sich weiterentwickelte.
Sein Raum war seit jeher das ungesicherte, avantgardistische Reich des
Noch-Nicht.
Dieser primitive Visionär war der erste von vielen
avantgardistischen
Melancholikern. Natürlich sind nicht alle Neuerer
melancholisch, und nicht alle
melancholischen Seelen setzen neue Entwicklungen in Gang. Doch legt die
wissenschaftlich erwiesene Beziehung zwischen Genie und Depression,
zwischen
Schmerz und Größe nahe, dass die Mehrzahl unserer
kulturellen Innovatoren,
angefangen beim vorzeitlichen Träumer im Busch bis zum
postmodernen großstädtischen
Dadaisten, ihre Originalität aus ihrer melancholischen
Verfassung gewinnt. Wir
wissen jetzt auch, warum das so ist:
Melancholie lehnt sich gegen das bequeme "Entwederoder" des
Status
quo auf. Sie hält das unentdeckte Zwischenreich zwischen den
Gegensätzen aus,
das "Sowohlals-auch". Sie entwickelt neue Einsichten in die
Verwandtschaft zwischen den Gegensätzen, vor allem in die der
großen Polarität
Leben - Tod. Sie erzeugt ungeahnte Möglichkeiten, die
geheimnisvollen Bezüge
zwischen Gegensätzen wahrzunehmen und zu benennen. Sie
versetzt uns in einen
neuen Zustand der Unschuld und der Ironie und verleiht uns damit
zeitweise die Fähigkeit,
uns spielerisch im Möglichen zu bewegen, ohne den
Zwängen des Wirklichen
unterworfen zu sein. Solche Phasen, in denen wir vor der
Kausalität sicher
sind, beleben unseren Bezug zur Welt, eröffnen uns herrliche
Ausblicke, nähren
unser Herz und unseren Geist.
Die Welt ist ja überwiegend langweilig, determiniert von
farblosen
Gewohnheiten. Sie ist nur allzu vertraut und ermüdet uns mit
ihrer ewigen
Wiederkehr des Gleichen. Doch dann ereignet sich das, was Keats den
Anhauch der
Melancholie nennt, und plötzlich wird der Planet wieder
interessant. Der
Schleier des Altbekannten fällt. Vor uns entfaltet sich ein
Feuerwerk
erregender Möglichkeiten. Wir spüren in uns den
Drang, uns um die Schaffung
bisher nicht gekannter Bezüge zu unserer Umwelt zu
bemühen. Wir sind
aufgerufen, kreativ zu sein.
Wenn wir uns diese Potentiale der Melancholie vor Augen halten,
drängt sich
doch die Frage auf, warum Tausende von Psychiatern und Psychologen die
Depression zu "heilen" versuchen, als wäre sie eine furchtbare
Krankheit. Natürlich brauchen die, die unter gravierenden
Depressionen leiden,
die selbstmordgefährdet sind oder sich am Rand einer Psychose
befinden, sorgfältige
medikamentöse Betreuung. Doch wie steht es mit den Millionen
Menschen, die
lediglich einen Hang zu leichter bis mittlerer Depression haben? Sollte
man es
auch solchen potentiellen Visionären
nahelegen, ihre Melancholie mit Hilfe von Pillen auszurotten? Sollten
diese
Neuerer in spe das in die Flucht schlagen, was sich
möglicherweise als ihre
machtvolle Muse entpuppen könnte, als Engel gebärende
Dämonen?
Momentan sind, wenn die Statistiken stimmen, ungefähr 15
Prozent der Amerikaner
nicht glücklich. Mit Hilfe von Psychopharmaka wird es
vielleicht bald überhaupt
keine unglücklichen Menschen in unserer amerikanisierten Welt
mehr geben.
Melancholiker werden aussterben. Doch das wäre eine
unerhörte Tragödie, die
in ihrer Tragweite allenfalls mit der Ausrottung des Pottwals oder des
Steinadlers zu vergleichen ist. Ohne Melancholiker würden wir
in einer Welt
leben, in der jeder einfach nur den Status quo akzeptiert und sich mit
den
Gegebenheiten abfindet. Es entstünde ein Un-Ort
allgegenwärtigen Grinsens, ein
Alptraum
von
Philip K. Dickschen Ausmaßen, ein Polizeistaat aus
lauter Pollyannas, eine
platte Ebene, unter einer Sonne, unter der wirklich nichts Neues mehr
zu
vernehmen wäre. Warum arbeiten wir mit aller Gewalt auf einen
solch höllischen
Zustand hin?
Die Antwort ist leicht: Es geschieht aus Angst. Die meisten verstecken
sich
hinter ihrem Lächeln, weil sie Angst davor haben, sich der
Komplexität der
Welt auszusetzen, ihrer Unklarheit, ihrer schrecklichen
Schönheit.
Solange sie hinter ihrem aufgesetzten Grinsen verschanzt bleiben,
müssen sie
sich den Unwägbarkeiten nicht aussetzen, die der Aufenthalt im
Reich des Möglichen
unweigerlich mit sich bringt, diesen riskanten Momenten, in denen das
Eine vom
Anderen nur schwer zu trennen ist, in denen man das Gefühl
hat, sich in fast
alles verwandeln zu können. Obwohl diese Angst, vor allem die
Angst vor dem
Tod, uns in einen Zustand der Daseinstrunkenheit versetzen und
unendliche
kreative Horizonte aufreißen kann, löst sie
zunächst einen tiefen Schrecken
aus, das Gefühl, über einem unabsehbaren Abgrund zu
hängen. Die meisten
nehmen vor einer solchen Situation reflexartig Reißaus. Sie
suchen Schutz in
der Masse der Lachenden und lösen sich darin auf, in der
Hoffnung, dass die
Angst sie nie wieder heimsuchen wird. Das Normierte, Unauthentische
ziehen sie
sich als Maske über, als Verkleidung, die sie vor dem
Abgründigen beschützt.
Wer eine Gesellschaft umfassenden Glücks propagiert,
befördert also letztlich
eine Kultur der Angst. Wollen wir aber wirklich zugunsten fader
Fröhlichkeit
unseren Mut opfern? Sind wir wirklich bereit, unser Herzinnerstes
dranzugeben,
um nachts gut zu schlafen und unsere Tage in lauer Zufriedenheit zu
verleben?
Ich meine, wir sollten die Verlockungen unserer Kultur des
Glückswahns
ignorieren und unserer Traurigkeit treu bleiben. Wir müssen
einen Weg finden,
und sei er noch so steinig, um zu sein, wer wir sind, und wir
dürfen unsere
Verdrossenheit mit allem, was dazugehört, auf keinen Fall
ausschließen.
Wenn wir unter unserer Schwermut leiden, die so unausweichlich ist wie
das
Atmen, können wir uns auch mit einer Tatsache abfinden, welche
unsere Welt
zutiefst verabscheut: Wir werden immer unvollkommen bleiben, lediglich
Bruchstücke
eines unfassbaren Ganzen. Unsere unfertige Natur - nie sind wir
vollkommen
wirklich, immer bleibt ein Rest von uns im potentiellen
Ungefähr - macht aus
unserem Leben einen ständigen Kampf, ein Ringen mit dem ewig
Unbekannten. Doch
die Tatsache, dass wir vor dem Abgrund die Augen nicht
verschließen, ist auch
unsere Rettung. Wenn wir uns lediglich als Fragment verstehen, werden
wir nicht
aufhören, nach etwas zu suchen, das jenseits von uns selbst
ist, etwas
Transzendentem - einer ungeahnten Möglichkeit, einem Weg, der
nirgends
vorgezeichnet ist. Dieses Bestreben ist immer ein Akt der Freiheit, der
Wahl,
der Entscheidung für die eine Straße und gegen eine
andere. Es ist zwar eine mühselige
Angelegenheit und erfordert unablässige Aufmerksamkeit
für unser
geheimnisvolles, nicht festzulegendes Innenleben, aber es hat auch ein
Element
von Ekstase an sich, den fast unendlichen Widerhall der
köstlichen Rätsel des
Daseins.
Wer gegen Glück ist und sich abwendet von schaler
Zufriedenheit, der betritt
den Bereich der Freude und der Ekstase. In unserer
Bruchstückhaftigkeit
vernehmen wir den Ruf des Lebens. Das Bekenntnis zu meiner
Unvollständigkeit
macht mich frei. Wenn wir uns eingestehen, dass wir niemals etwas
restlos im
Griff haben werden, eröffnen sich jenseits der Vernunft
aufregende, ungeahnt
erhabene Visionen. An den Rändern des Bekannten befindet sich
die pulsierende
Schwelle der Existenz. Hier entzündet sich die jubelnde
Hochstimmung der äußersten
Grenze - die verborgen schwelende Glut der Begeisterung: ein Buch zu
beenden,
das niemals vollständig sein wird, ein in sich gebrochenes,
widersprüchliches
Gewebe, zwiespältig und unfixierbar wie die
Dämmerung. (...)