Albrecht Müller: "Meinungsmache"
Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen
Zweifel
und Denken als Lustfaktoren
"Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild
frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus
allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten."
- Jeder halbwegs denkwillige Bürger der Bundesrepublik
Deutschland kennt diesen Artikel 5 (Abs. 1) des Grundgesetzes. Wie in
allen Lebensbereichen stellt sich aber immer wieder die Frage der
Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit. Und so könnte
man nahezu jeden einzelnen Begriff bzw. jedes einzelne Wort
durchleuchten: Was bedeutet wirklich "jeder"? Spielen hier nicht
Bildungsgrad und sowieso soziale Herkunft eine wesentliche
(exkludierende) Rolle?! Was bedeutet "Meinung"? Wer hat
überhaupt so etwas wie eine Geisteshaltung, die er seine ganz
persönliche nennen darf?! Was bedeutet "frei"? Wir wissen ganz
genau, dass die Freiheit des Einzelnen durch das Kollektiv
beschränkt und reglementiert wird. Was kann
"äußern und verbreiten" bedeuten? Freilich kann man
über den Zaun mit dem Nachbarn über vieles schimpfen,
ebenso in seiner Stammkneipe - aber wer hat schon die reelle Chance,
seine Meinung zu "verbreiten"?! Und was wollen wir als "allgemein
zugängliche Quellen" akzeptieren, wer definiert für
uns diese "Zugänglichkeit"?! Und was soll eigentlich in einem
sogenannten Rechtstaat die Vokabel "ungehindert" besagen?! Da stellt
sich doch beispielsweise spontan die Frage, wer ein Interesse daran
haben könnte, uns in unserem Informationsbedürfnis zu
behindern?!
Aus solchen hier nur in Ansätzen vermuteten
Überlegungen und aus der alltäglichen Praxis wird uns
wohl einsichtig, wie notwendig das vorliegende Buch von Albrecht
Müller ist bzw. sein könnte, in dem wir
aufgeklärt werden, "Wie Wirtschaft, Politik und
Medien uns das Denken abgewöhnen wollen". Nach
Müllers Ansicht erledigen "einige Top-Manager,
Top-Politiker und Top-Medienmacher" die öffentliche
Meinungsbildung und verursachen damit den " Ausverkauf der
besten Demokratie". Müller zeigt an vielen konkreten
Fällen, wer uns manipuliert und wie das geschieht und weckt
unsere "Lust am Zweifel". Er hat auch den Ehrgeiz,
uns zu offenbaren, "woran wir erkennen, dass wir manipuliert
werden sollen, und wo und wie wir uns noch einigermaßen
zuverlässig informieren können" (vgl.
Klappentext). Der Glaube daran, dass es überhaupt eine Art
unabhängige oder objektive Informationsmöglichkeit
geben sollte, wirkt eigentlich schon utopisch. Im Grunde macht uns das
vorliegende Buch nur klar, dass die Verbreitung einer "Meinung" eben
mit Macht zu tun hat bzw. eben mit der Verfügungsgewalt
über bestimmte Medien und Kanäle. Albrecht
Müller ist selbst ein Experte in "Strategien der
Meinungsbildung" - er zeichnete für die
Öffentlichkeitsarbeit unter den Bundeskanzlern Brandt und
Schmidt verantwortlich. Freilich bekommen seine Auslassungen gegen den
grassierenden Neoliberalismus ein parteiliches Geschmäckle,
wenn man einem Menschen jegliche Fähigkeit zur
Neutralität oder Selbstkritik absprechen wollte.
Müllers zentrale Erkenntnis jedenfalls lautet: "Meinung
kann man machen." Und spezifischer noch behauptet er: "Wer
über viel Geld und/oder publizistische Macht verfügt,
kann die politischen Entscheidungen massiv beeinflussen. (...) In einer
von Medien und Geld geprägten Gesellschaft ist das zum Problem
der Mehrheit unseres Volkes geworden." Unser
öffentliches Leben wird demnach bestimmt durch "Mythen,
Legenden und Lügen", ein zunehmender Prozentsatz der
Bürger fühlt sich ohnmächtig und
ausgeliefert. Müller behauptet grundsätzlich, dass
wir heutzutage "Opfer von bewusst angelegten Kampagnen der
Meinungsbeeinflussung" sind. Dabei mutet man uns auch die "wendige
Korrektur gemachter Meinungen" zu, der Verlust unserer
Gedankenfreiheit steht unterschwellig auf dem Programm. Als aktuelle
Indizien brandmarkt Müller: "die Auslieferung
unserer öffentlichen Universitäten an die Wirtschaft,
die Zerstörung des Vertrauens in die sozialen
Sicherheitssysteme, die bewusst betriebene Verarmung des Staates, die
Kommerzialisierung und Privatisierung unserer Medien, der
Verkehrssysteme und kommunaler Versorgungseinrichtungen." Die
Parteien und die Medien, die uns bei unserer politischen
Meinungsbildung eigentlich unterstützen sollten, sind selbst "zu
einem Teil der Propaganda" geworden, viele Journalisten "stehen
unter massivem Druck", und bei den Politikern tanzen die
Lobbyisten auf den Tischen. Müller zieht einerseits das
ernüchternde Zwischenfazit: "Wichtige
Voraussetzungen für das Gedeihen demokratischer
Willensbildungsprozesse sind nicht mehr gegeben" -
andererseits hofft er, dass die Leser seines Buches wieder Lust
verspüren, selbst zu denken und "wieder zweifeln zu
lernen".
Die Meinungsmächtigen regieren seit jeher nach der
Propagandaformel TINA: There is no alternative! Was
soll man dagegen sagen?! Dabei dominieren in Regierungskreisen "Ideologie,
Phrasen und Stereotype". Das lässt sich ja nebenbei
bemerkt auch recht anschaulich studieren in den einschlägigen
Polit-Gesprächsrunden diverser TV-Kanäle -
übrigens jeweils charmant moderiert von
dezent-hübschen Weiblichkeiten. Die Leute spüren
zusehends ihre Ohnmacht und werden von den Medien außerdem
noch verhöhnt: der Kommerz macht vor nichts halt, und die "Grundlinien
der neoliberalen Ideologie und die daraus folgenden Forderungen und
Rezepte - Privatisierung, Deregulierung und Entstaatlichung - werden
gegen den erkennbaren Willen und das Interesse der Mehrheit
durchgesetzt." Uns werden "Experten" vorgeführt,
oder es heißt, eine Entscheidung liege im internationalen
Trend. Der solidarische Gedanke der Gemeinschaft geht mehr und mehr
verloren, es bilden sich politische Eliten heraus, denen sogar daran
gelegen ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung zur
Politikverdrossenheit neigt - was man ihr dann wiederum ironischerweise
zum Vorwurf machen kann. Müller kritisiert u.A. die
"Bild-Zeitung" und die "Bertelsmann-Stiftung" als neoliberale
Meinungsmacher, mit denen sich sogar der Verfassungsschutz
beschäftigen müsste. Er erinnert an den Artikel 20
des deutschen Grundgesetzes, der ein Widerstandsrecht einräumt
gegenüber jedem, der es unternimmt, demokratische Grundrechte
einzuschränken. Da nirgendwo gesagt wird, wie dieses
Widerstandsrecht in der Praxis umzusetzen wäre, sieht
Müller als einzige Alternative den "Aufbau einer
Gegenöffentlichkeit". Im Grunde hat er - neben der
Veröffentlichung seiner Bücher - in diesem Sinne auch
eine Netzplattform geschaffen (siehe weiter unten), wo er in
vielfältiger Weise auf den unterschiedlichsten Themengebieten
aufklärerisch zu wirken versucht.
In einem Interview auf "Spiegel Online" menetekelt Müller: "Wir
haben keine demokratischen Verhältnisse mehr. Und wir haben
noch Glück, dass bisher kein Rechtsradikaler aufgetaucht ist,
der klug genug ist, aus dem Ärger darüber politisches
Kapital zu schlagen." In einem Interview mit dem "Freitag"
fordert Müller eine Zusammenarbeit der SPD mit der "Linken",
um eine Alternative zu "Merkels rechtskonservativer Koalition"
zu erlangen. Dazu fordert er auch "mehr Pluralität"
in der Parteiführung und bedauert, die SPD habe "keine
Ahnung von Wahlkämpfen". Freilich weiß er
auch, dass die eigentliche Gestaltungsmacht in der heutigen Zeit
weniger bei der Politik, sondern mehr beim Kapital und den Medien
liegt. Dazu führt er zahlreiche Beispiele an, wenn es etwa um
Argumentationsketten bei Mindestlöhnen, Rentenentwicklung,
Privatisierung, Bankensanierung, bei der angeblichen Abwanderung von
Arbeitsplätzen oder Energiekosten geht. Müller
bestreitet, dass die Finanzkrise in Deutschland durch die USA
verursacht worden sei. Er erläutert, welches Schindluder
getrieben wird mit den Begriffen "Reformstau" bzw. "Reform"
- je nach Argumentationsbedürfnis wird die BRD als "Exportweltmeister"
oder als "Sanierungsfall" etikettiert. Drei der
wesentlichen Propagandalügen seien: der Sozialstaat sei zu
teuer, der demografische Wandel führe in die Altersarmut, und
die Globalisierung sei überhaupt an allem schuld. Dabei sieht
er "die Meinungsmache zum Thema Globalisierung" als
"Vorwand für die eigene Untätigkeit".
Heftige Kritik äußert Müller auch an der
Reaktion auf die "PISA"-Studie: statt unser Bildungssystem wirklich von
Grund auf effizienter zu gestalten, wird im Sektor Evaluation solange
herumexperimentiert, bis man ein geeignetes Paradigma gefunden hat, um
die Blamage im internationalen Vergleich kleinreden zu können.
Durch Meinungsmache werden wirtschaftliche Entscheidungen zuungunsten
der Mehrheit schöngeredet, ebenso werden Kriege vorbereitet
und Kriegseinsätze gerechtfertigt. Und obwohl beispielsweise
im Nachhinein unumstößlich ruchbar wurde, wie sehr
der damalige us-amerikanische Präsident George W. Bush die
gesamte Welt propagandistisch belogen und benutzt hat, läuft
dieser Mann frei herum statt im größten
Kriegsverbrecherprozess unseres Jahrhunderts auf der Anklagebank zu
sitzen. In diesem Zusammenhang gelangt Müller zu der
erschütternden Erkenntnis: "In modernen Zeiten ebnet
Meinungsmache eher dem Krieg als dem Frieden den Weg." Und
dabei steht auch zu befürchten, dass die manipulierte
Politikentwicklung in die Geschichtsbücher eingehen wird,
denn: "Geschichte wird von denen geschrieben, die die
Meinungsmacht haben". Das erinnert doch fatal an
Orwells
"1984" - haben wir denn daraus noch nichts gelernt?!
Fatal wirkt sich der Lagerkampf zwischen konservativen und irgendwie
"sozialistisch" geprägten Entscheidungsträgern aus.
Jegliche inhaltliche Auseinandersetzung über die negativen
Auswirkungen des Kapitalismus wird versuchsweise erstickt mit dem
Vorwurf des Kommunismus und dem Verweis auf die DDR. Obwohl kein
vernünftig denkender Mensch die pervertierte Variante des
DDR-Funktionärssozialismus in der Praxis wieder aufleben
lassen möchte, wirkt diese Propagandakeule immer noch
genügend abschreckend. Dabei zeigt sich auch exemplarisch,
dass Meinungsmache pauschal und undifferenziert funktioniert.
Müller erläutert uns auch die gängigsten
Methoden der Meinungsmache, wie wir sie im Grunde auch aus der Werbung
kennen: Wiederholung bis zur Dominanz, die gleiche Botschaft aus
(scheinbar) unterschiedlichen gesellschaftlichen oder institutionellen
Bereichen, Umwertung von Begriffen (wie etwa: Freiheit, Wettbewerb,
Leistung), affirmatives Auftreten (mit Formeln wie "es steht
außer Zweifel" oder "wie wir alle wissen"),
offensives Auftreten, Berufung auf sogenannte Experten, das
"pars-pro-toto"-Verfahren, die Übertreibung sowie die Methode "man
sagt B, um A zu transportieren". Klar ist, dass man
über die "organisatorischen" Voraussetzungen verfügen
muss, um Meinungen publik zu machen und durchzuboxen. Basierend auf
diesen Grundeinsichten erläutert Müller eine Vielzahl
aktueller Problemfelder - wobei er, wie das so ist, den eingefleischten
Neoliberalen nicht überzeugen wird. Denn irgendwann wird
Politik zu Religion - man nennt das dann verharmlosend Ideologie.
Der Streit um die Kompetenz bei Politikern währt auch schon,
seit es Politiker gibt: ob wir uns nun lieber Staatsbürokraten
oder Wirtschaftsmanagern anvertrauen wollen, hängt eben doch
sehr von deren Bild ab - und an dem wird in den Medien gearbeitet. Die
Herangehensweise an Probleme unter dem Aspekt des Ökonomischen
wird immer mehr als der einzig realistische Weg angepriesen. Man stelle
sich vor, das Bildungssystem wird wie ein Konzern bewirtschaftet,
Kultur gäbe es nur noch, wenn " es sich rechnet" - welche Art
Bildung und welche Art Kultur käme dabei wohl heraus?! Mit
Humanismus und Kreativität lässt sich heutzutage wohl
kein Wahlkampf mehr bestreiten - bestenfalls in Bereichen, in denen
noch keine systemrelevante Kritik aufkommt, lässt man solche
zu (etwa bei den sogenannten "Streitschlichtern" in Schulen oder im
Kindergarten beim Basteln und Malen). Denn eine
Systemveränderung darf es nur im Sinne der Meinungsmacher
geben - die "anarchischen" Veränderer werden stigmatisiert und
der manipulierten Öffentlichkeit zum Abschuss freigegeben.
Albrecht Müller formuliert dementsprechend gegen Ende seines
Buches die Erkenntnis: "Alle Menschen, die verstanden haben,
dass die Idee der Demokratie entscheidend darauf gründet, dass
es Alternativen gibt, alle Menschen, die erkannt haben, dass Demokratie
nur dann funktioniert, wenn die Herrschenden wissen, dass sie
kontrolliert werden und auf Zeit gewählt sind, müssen
zwingend ein Interesse an einer Alternative zur herrschenden Macht
haben." Man kann sich zwar nach Lektüre dieses
Buches kaum noch vorstellen, wie die vielen lethargischen Mitmenschen
aktiviert werden sollen, sich aus der virulenten Manipulation durch
Meinungsoligarchen zu befreien - dennoch kann man nur immer wieder den
Appell hinaustragen, jeder möge sich aus der "selbstverschuldeten
Unmündigkeit" (I. Kant) durch kritische
Eigeninitiative befreien. Und wie geht solches? Durch Denken,
Informieren, wieder Denken. Ja, Zweifel und Denken müssen
wieder als Lustfaktoren entdeckt werden - das sei die animierende
Erkenntnis nach der Lektüre dieses Buches.
(KS; 09/2009)
Albrecht
Müller: "Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns
das Denken abgewöhnen wollen"
Droemer, 2009. 447 Seiten.
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Albrecht Müller, geboren 1938, studierte Nationalökonomie und war Redenschreiber des deutschen Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller. Von 1973 bis 1982 Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt, von 1987 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er lebt als Publizist in der Südpfalz und betreibt die Netzpublikation https://www.NachDenkSeiten.de.