Zhu Xiao-Mei: "Von Mao zu Bach"
Wie ich die Kulturrevolution überlebte
Ein
zeitgeschichtliches Dokument mit für Westeuropäer
ungewohntem Hintergrund
Zhu Xiao-Mei ist eine von fünf Töchtern eines einst
gut situierten bürgerlichen Ehepaares, das nach Maos Machtübernahme ein erbärmliches Dasein fristen muss.
Die Kinder werden in der üblichen Sippenhaft-Manier mit
abgestraft: Kinder von Bourgeois können keine guten
Revolutionäre werden, auch wenn sie sich noch so sehr
bemühen. Dies erfährt auch Zhu Xiao-Mei, als sie, als
Kind, von der Mutter unterrichtet, bereits am Klavier erfolgreich,
während ihres Studiums am Konservatorium erste Schikanen und
Benachteiligungen ertragen muss.
Diese aber sind nichts im Vergleich zu dem, was im Rahmen der
Kulturrevolution ab 1966 über die junge, hochbegabte Studentin
hereinbricht. Lehrer, die sich immer als linientreue Kommunisten
hervorgetan und für die Studierenden eingesetzt haben, werden
von selbstbewussten, grausamen Rotgardisten gedemütigt, schwer
misshandelt und oft in den Selbstmord getrieben. Die Autorin nennt
etliche Beispiele.
Westliche Musik, darunter Bach,
Beethoven,
die Romantiker und praktisch alle
Größen
der
Klavierliteratur, wird verboten - und die Klavierstudenten
haben somit
plötzlich keine Noten, keinen Instrumentalunterricht, bald
überhaupt keinen Unterricht mehr. Sie werden in
Umerziehungslager geschickt, wo sie unter unsäglichen
Bedingungen und Erniedrigungen landwirtschaftliche, häufig
sinnlose Zwangsarbeit leisten und ständige Erniedrigungen
aushalten müssen.
Unter ihnen ist Zhu Xiao-Mei. Unsägliche Qualen begleiten sie
durch die nächsten fünf Jahre. Zwar kann sie nach
einiger Zeit heimlich, später offen am Klavier üben,
doch letztlich kostet sie die Kulturrevolution zehn wertvolle Jahre, in
denen sie so viel hätte studieren und praktizieren
können. Im Anschluss an das Lager soll sie in der Provinz
Klavieranfänger unterrichten. Sie weigert sich.
Und da sie findet, dass sie zwar ihr Land liebt, das Land jedoch nicht
sie, entschließt sie sich zur Auswanderung. Dies gelingt nur
mit Mühe. Über Hongkong gelangt sie in die USA, wo
sie weitere Demütigungen aushalten muss, um ihr Studium
abzuschließen. Schließlich findet sie in Paris ihre
neue Heimat und ein Publikum, das sie liebt und respektiert - als
nunmehr Vierzigjährige! -, nachdem Freunde ihr immer wieder
scheinbar unüberwindliche Hindernisse aus dem Weg
räumen mussten.
Die Kulturrevolution, ein in Anarchie mündendes Gewalt- und
Zerstörungsspektakel, ist dem westeuropäischen Leser
vermutlich in groben Zügen bekannt. Einzelschicksale freilich
vermögen es nach wie vor, uns zu erschüttern.
Zu
diesen Schicksalen gehört jenes von Zhu Xiao-Mei und
ihrer
Familie, die sich einzig den Umstand "vorwerfen" muss, von
fleißigen und daher wohlhabenden Bürgerlichen
abzustammen, und die dennoch unweigerlich in Maos Mühlen und
das Visier der Roten Garden gerät.
Zhu Xiao-Mei arbeitet in ihrer Autobiografie nicht mit dem "Druck auf
die Tränendrüse", obwohl dies durchaus verzeihlich
wäre; solches widerspräche ihrer Mentalität.
Doch gerade die auf Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Wahrheit ausgelegte
Darstellung schockiert in ihrer Offenheit. Manch groteske Szene oder
Begebenheit reizt zum Lachen, das jedoch angesichts des Hintergrundes
und der Folgen im Hals des Lesers stecken bleibt - und gelegentlich
möchte man weinen.
Zehn vergeudete Jahre der Autorin und massive Behinderungen beim
Neuanfang, von den psychischen Folgen ganz zu schweigen, etliche
zerstörte potenzielle Karrieren begabter Musiker in ihrem
Umfeld, eine zerrissene Familie: allein dieser winzige Ausschnitt aus
dem nachhaltigen destruktiven Wirken der Kulturrevolution, die in China
eine "verlorene Generation" erzeugt hat, zeigt auf, welch
zerstörerisches Potenzial Terror-Regimes dem Einzelnen
gegenüber entfalten.
Trotzdem handelt es sich auch um ein "Mutmach-Buch", denn die Autorin
beschreibt ganz schlicht, wie ihre eigene Entschlossenheit und das
Engagement weniger Freunde, eines funktionierenden sozialen Netzwerkes,
das trotz widriger Umstände immer bestand, ihr zur
Erfüllung ihrer Sehnsucht verhalfen, Pianistin zu werden.
Nicht zuletzt erfährt der Leser zu seiner
Verblüffung, dass es eine enge Verbindung zwischen
Bach
und
Laotse
gibt, sofern man die Ausdauer besitzt, sie zu suchen.
Dieses so wunderbare wie verstörende Buch wendet sich
keineswegs nur an Liebhaber der so genannten "klassischen" Musik, es
missioniert nicht unbedingt, vermag jedoch die Sensibilität
für die Musik zu wecken. Vor allem aber ist es ein
bemerkenswertes zeitgeschichtliches Dokument, das sich gegen Diktatur
und Unterdrückung wendet.
(Regina Károlyi; 05/2009)
Zhu
Xiao-Mei: "Von Mao zu Bach. Wie ich
die Kulturrevolution überlebte"
Aus dem Französischen von Anna Kamp.
Verlag Antje Kunstmann, 2009. 288 Seiten.
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Zhu Xiao-Mei, geboren in Shanghai, entstammt einer Künstlerfamilie und trat schon mit sechs Jahren in Rundfunk und Fernsehen auf. In ihrer Autobiografie, die in Frankreich zum Verkaufsschlager wurde, erzählt sie ihren abenteuerlichen Lebensweg. Seit 1985 lebt Zhu Xiao-Mei in Paris, wo - spät, aber umso erfolgreicher - ihre internationale Pianistenkarriere begann. Sie lehrt am Konservatorium in Paris, gibt zahlreiche Konzerte und begeistert insbesondere mit ihren Bach-Interpretationen.
Ein weiteres Buch:
Yiyun Li: "Die Sterblichen"
Leben und Sterben in China.
China, Ende der 1970er-Jahre: In einer Provinzstadt weit weg von Peking
soll die junge Gu Shan hingerichtet werden. Ihr Verbrechen: Sie, die
während der Kulturrevolution
fanatische Rotgardistin war, hat dem Kommunismus abgeschworen. Shans
Tod wird weitreichende Konsequenzen haben. Nicht nur für ihre
Eltern, sondern auch für die Rundfunksprecherin Kai, die
längst an der Partei zweifelt; für die behinderte
Nini, die in ihrer Familie wie eine Sklavin gehalten wird, oder
für den kleinen Tong, der nur von seinem Hund geliebt wird.
(dtv)
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