Henning Mankell: "Daisy Sisters"
"Der
neue Mankell!" Mit dieser Überschrift wird in vielen
Medien vom Verlag ein Buch beworben, das so neu gar nicht ist. Im
Gegenteil.
Lange bevor der schwedische Erfolgsautor Henning Mankell mit
seinen "Wallander"-Romanen und seinen beeindruckenden
Afrika-Büchern die europäische Literaturszene
eroberte, hat er, knapp vierunddreißigjährig, im
Jahr 1982 in Schweden einen Roman veröffentlicht, der
nun "völlig durchgesehen" zum ersten Mal
auf Deutsch erscheint.
Es wäre seitens des Verlags klug gewesen, dies so auch
deutlich zu machen, denn mit der Vorstellung eines "neuen Mankell"
werden Erwartungen beim Leser geweckt, die das Buch automatisch mit den
bisherigen Titeln Mankells vergleichen. Damit tut man dem vorliegenden
Buch jedoch nur Unrecht.
Im Roman "Daisy Sisters" zeigt der junge Mankell schon alle
Ansätze seiner späteren Sozialkritik sowie seiner
außerordentlichen sprachlichen und stilistischen
Fähigkeiten. Aus der Sicht der frühen 1980er-Jahre,
durchaus als fortschrittlicher Mann schon geschult am Feminismus und
der sozialgeschichtlichen Herangehensweise, beschreibt Henning Mankell
die Geschichte von Frauen, ihre Erfahrungen untereinander, mit ihren
verschiedenen Vätern und Männern, mit der Adoleszenz
und ihrer Sexualität wie auch einer sich permanent
verändernden Welt und Umwelt.
Er beginnt seine Geschichte mit Elna aus Sandviken, die nach drei
Jahren endlich mit der damals durch eine Schullehrerin vermittelten
Brieffreundin zusammentrifft. Auf einer gemeinsamen Radtour lernt sie
Vivi Karlsson richtig kennen, Tochter eines Werftarbeiters und
Kommunisten aus Landskrona. Vivi ist immer gleich bei der Sache, sagt,
was sie denkt und fühlt und ist allem Neuen gegenüber
sofort aufgeschlossen. Die beiden verbringen wunderbare Tage, Elna
blüht auf. Natürlich lernen sie auch junge Burschen
kennen, und von einem von ihnen, er heißt Nils und ist als
Soldat in jenem Ort stationiert, wo die beiden Mädchen auf
einem Bauernhof bei der Ernte helfen, wird sie vergewaltigt.
Die "Daisy Sisters" ,so haben sie sich schon am Anfang ihrer
Brieffreundschaft genannt, haben nach dieser Tour noch lange Kontakt,
der dann einschläft , aber in späteren Jahrzehnten
wieder aufgefrischt wird.
Den etwa 400 Seiten umfassenden Mittelteil des Romans bildet allerdings
die Lebensgeschichte von Eivor, dem Mädchen, das aus der
Vergewaltigung hervorgegangen ist. Auch ihr steht ein
ähnliches Schicksal bevor; sie wird, auch durch gewaltsamen
Sexualverkehr, im Alter von 18 Jahren schwanger.
Doch sie kämpft und hangelt sich von einer Lebensphase in die
nächste. Sie gibt nicht auf, auch wenn sie jeden Tag ein
Dutzend Mal Anlass dazu hätte.
Es ist ein hartes Leben in den 1950-er, 1960er- und 1970er-Jahren, die
ungelernten Frauen arbeiten in den Fabriken, die nach
Arbeitskräften rufen, sie in den Akkord zwingen und
später in der ersten Krise wieder entlassen.
Es ist aber auch eine spannende Zeit, mit viel Musik, neuen Erfahrungen
in der Liebe und der Sexualität, mit sich wandelnden
Rollenbildern.
Mankell zeigt sehr eindrücklich und bewegend am Beispiel von
Elna, Eivor und auch deren Kindern, die sie natürlich
früh bekommt, das
Lebensschicksal von Frauen in Schweden nach
dem Zweiten Weltkrieg. Sensibel versetzt er sich in deren Lage und
schildert so in einem locker und leicht lesbaren Roman mit ersten
literarischen Qualitäten ein Stück schwedischer
Sozialgeschichte.
Sehr spät erkennt Eivor etwas, das ihr Leben ausgemacht hat,
und wohl nicht nur ihres, wie ihr die "Daisy Sister" Vivi
erklärt:
Eivor habe, so Vivi, "Es nie vermocht, sich selbst als ein
Teil in einem größeren Zusammenhang als den ihrer
Familie und ihrer Arbeit zu sehen. Warum steht sie
verständnislos vor dem was geschieht, als sei gerade sie
für eine verblüffende Serie unglücklicher
Umstände ausersehen? Sie ist doch keine ausgewählte
Landebahn für verunglückte Flugzeuge. Die
Weltgeschichte
gerät nicht jedes Mal aus den Fugen, wenn sie
sich auf der Straße zeigt oder ihre Gardine hochzieht. Sie
ist kein Satellit, der einsam seine Bahn zieht, sie ist Teil eines
Zusammenhangs. Und ehe sie das nicht einsieht und anfängt,
Erklärungen dafür zu suchen, was um sie herum
geschieht, wird sie wie eine Beinamputierte durchs Leben robben, der
man die Krücken geklaut hat."
Es bleibt offen, ob Eivor das jemals schaffen wird. Mühe gibt
sie sich. Was Vivi ihr da ins Lebensstammbuch geschrieben hat, liest
sich wie ein Programm für die zukünftige
schriftstellerische Arbeit eines jungen Henning Mankell, der in den
folgenden Jahrzehnten in zahllosen zum Teil wunderbaren
Büchern genau diese Zusammenhänge aufgezeigt und
aufgeschlüsselt hat.
Fazit:
Ein erstaunliches Frühwerk eines bedeutenden Literaten, den
man durchaus auch einmal mit dem
Literaturnobelpreis
in Verbindung bringen könnte.
(Winfried Stanzick; 08/2009)
Henning
Mankell: "Daisy Sisters"
Übersetzt aus dem Schwedischen von Heidrun Hoppe.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2009. 560 Seiten.
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Hörbuch (gekürzte Lesung,
Sprecher: Axel Milberg):
Dhv der Hörverlag, 2009. 6 CDs.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011.
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