Ulrich Greiner: "Ulrich Greiners Lyrik-Verführer"
Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten
Die
sprachlichste Versuchung
Nach seinem "Leseverführer"
zur schönen Literatur möchte uns dieser Kenner und
Idealist nun also mit
seiner "Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten" (Untertitel)
für
die Lyrik begeistern - welche Absicht ja aller Ehren wert ist.
Böte uns die
Lyrik doch den Luxus meditativer Momente, wie wir sie nur allzu selten
dem schnöden
Alltagsleben abzuringen verstehen. Und wie macht uns Greiner Appetit -
indem er
uns erklärt, das Gedicht sei eine Erzählung, ein
Lied, ein Gefühl, eine Idee,
eine Form, ein Rätsel oder ein Spiel. Für alles kennt
er natürlich etliche
Beispiele, die er uns quasi populärwissenschaftlich zu
erläutern versucht. Und
er behauptet, "dass sich jeder intelligente,
schreibfähige Mensch
irgendwann einmal in seinem Leben an Gedichten versucht hat."
Dementsprechend gebe es auch "eine gewaltige Zahl von
Autoren, die mehr
oder weniger unbemerkt Gedichte schreiben." Im vorliegenden
Buch erläutert
uns Greiner seine Ein- und Ansichten allerdings an mehr oder weniger
"prominenten"
Beispielen.
Da vergleicht er Homer mit Murray ("Fredy Neptune", 2004) und
tröstet
uns über alle Hexameter
und Pentameter hinweg: "Das
Zählen der Versfüße
kann etwas durchaus Beckmesserisches haben." Mit Johannes von
Tepl ("Der
Ackermann aus Böhmen", um 1400) hält die ungebundene
Rede verstärkt
Einzug in die Literatur. Und die sinngemäße
Begründung dafür macht sich später
gar die moderne Lyrik zunutze: die Wahrheit ist ungereimt - und wer nur
schöne
Verse liefere, verfehle sie. Ein weiteres Problem zieht sich durch die
Lyrik-Geschichte: wie erzählerisch dürfen Gedichte
eigentlich sein? In den
alten Epen und bei Balladen war das Erzählen ja Programm,
später wurde es eher
verpönt, bis es die Beat-Poeten wieder
aufgriffen.
Vermutlich hatte
Charles
Darwin recht, wenn er meinte, die Sprache sei aus dem Singen
entstanden.
Dieses drückt ja Gefühle und Stimmungen aus. Das
Gedicht ist nun nach Greiner
der Ort, "wo sich Musik und Sprache begegnen, bis hin zu dem
Moment, da
die Sprache ihren definitorischen und damit auch
herrschsüchtigen Zugriff
aufgibt und nurmehr Klanggebilde ist." Dieser Zusammenhang
ist in dem
Wort Lyrik quasi noch erhalten. Was sind Gedichte eben auch noch:
Erinnerungen
und Erfahrungen. Und: ein Gedicht ist ein Mittel, "dem
Unsagbaren oder
schwer zu Fassenden Sprache zu verleihen."
Eine radikale Kehrtwendung gegen jegliche traditionelle Ansicht der
Lyrik
unternahm Rolf Dieter Brinkmann mit seinem Text "Ein Gedicht" (aus dem
Band "Westwärts 1 & 2", 1975), wo es u.a.
heißt: "Keine
Farbe kannst du in diesem / Gedicht hier sehen. Keine
Gefühle sind / in
dem Gedicht. / (...) / In diesem Gedicht spürst du keinen
Hauch. / (...) / Du
kannst mit diesem Gedicht nichts anfangen." Also
wäre nach Brinkmann
das Gedicht eben auch der Ort der falschen Gefühle. Das kann
auch an der
Abnutzung der Sprache liegen bzw. daran, dass immer wieder
Wörter oder
Formulierungen zu Klischees gerinnen oder bestimmte Reime einfach
albern werden.
Ein Gedicht lebt von der Wahrheit, von der Authentizität des
Gesagten. Über
kein Thema wurde jemals beeindruckender oder auch abgedroschener
gedichtet als
über die Liebe. Da genügt schon ein Vergleich von
Goethe-Gedichten mit
Schlagertexten der 1960er-Jahre - oder man hält einen Leonard
Cohen dagegen.
Leicht errötend müssen wir ohnehin eingestehen, dass
die schlichtesten Verse
auch die eindringlichsten waren und geblieben sind, die uns anonym
überliefert
wurden: "Du bist min / ich bin din / des solt du gewis sin."
Selbst in der Stakkato-Version von von
Ernst Jandl klingt diese Ursprünglichkeit noch
dermaßen durch, dass Jandl
vom Zyniker zum Melancholiker zu mutieren scheint.
Gedichte wollen ja hin und wieder auch trösten, appellieren
oder Ideen
vermitteln. Vielleicht formulierte es
Rainer
Maria Rilke in seinen
"Duineser
Elegien" am konzentriertesten: "Ach, wen vermögen /
wir denn zu
brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, / und die findigen Tiere merken
es schon,
/ daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus
sind / in der gedeuteten Welt."
Bei allen leichtfüßigen oder schwerblütigen
Inhalten, die uns Gedichte
offerieren mögen - letztendlich kommt es auf die Form an, in
der dies geschieht
- denn Inhalte haben alle Menschen, aber Formen kennen nur die Poeten.
Erst
dadurch erhält (frei nach Novalis) das "Gemeine einen hohen
Sinn."
Viele Gedichte weisen über sich hinaus, andere sind dadurch
vollkommen, dass
sie sich nur auf sich selbst beziehen. Der Streit zieht sich durch die
Epochen,
ob das Gedicht sich selbst genügend autonom sei oder eine
Nützlichkeit zu
verfolgen habe. Den Anspruch auf Autonomie seitens der Lyrik bezeichnet
Greiner
als "elitär und minoritär" -
gleich wohl er
Hugo
von
Hofmannsthal zitiert: "Es führt von der
Poesie kein
direkter Weg ins
Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie." Freilich
widerstreiten sich
hier l'art pour l'art und litérature engagée -
eine Ausgewogenheit zwischen
Inhalt und Form wird man selten finden. Eigentlich gibt es ja drei
Positionen,
die man einnehmen kann: erbaulich, nützlich oder
ästhetizistisch. Würde man
die Form als zentrale Kategorie akzeptieren, könnte man auch
verstehen, dass
Paul Valéry vom "literarischen Ingenieur"
sprach. Oder steckt
die ästhetische Pointe doch in dem, was
Eichendorff
so unvergleichlich formulierte: "Und die Welt hebt an zu
singen, /
Triffst du nur das Zauberwort." Wobei noch kein Poet auch nur
annähernd
verraten konnte, worin dieses "Zauberwort" besteht. Ist das der Grund,
warum immer mehr zahlreiche Dichter und Möchtegernpoeten meist
in Form von
Erlebnis- oder Bekenntnistexten drauflos lyrizieren, was das Zeug
hält?!
Schließlich geht ja auch noch um das "Verstehen" eines
Gedichts - und
da weiß uns Greiner sowohl zu trösten als auch
herauszufordern: "Sie
sollten sich beim Lesen von modernen Gedichten nicht sofort von deren
nicht
seltener Rätselhaftigkeit entmutigen lassen, sondern dem oft
gewinnbringenden
Abenteuer zu folgen versuchen, wobei ich hinzufügen muss, dass
man ein bisschen
Zeit dafür braucht und sich vom üblichen Begriff des
Verstehens frei machen
sollte." Schließlich ist Lyrik wohl die
sprachlichste Versuchung seit
es Literatur gibt.
Greiner erspart uns nicht Adornos Trauma, wenn er 1949 in "Kulturkritik
und
Gesellschaft" noch unter dem Eindruck der totalitären
Gesellschaft
schrieb: "Noch das äußerste
Bewußtsein vom Verhängnis droht zum
Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten
Stufe der Dialektik
von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht
zu schreiben, ist
barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die
ausspricht, warum es unmöglich
ward, heute Gedichte zu schreiben." Dieses Zitat in einem
Band zu
bringen, welcher zumindest zum Gedichtelesen animieren möchte,
scheint gewagt -
allerdings mag dadurch auch der dialektische Trick gelingen, wie sehr
dringlich
die Beschäftigung mit Gedichten heutzutage
tatsächlich ist. Das mag auch unter
dem Aspekt gelten, den
Karl
Kraus einmal ansprach - nämlich, dass je
länger man ein Wort anschaue, es
desto fremder zurückblicke. Haben wir denn nach der Barbarei
unsere Sprache
wiedergefunden? Oder droht sie uns neuerlich ganz harmlos und
unauffällig zu
entgleiten? Oder vielleicht hilft es, wenn wir die Absurdität
von
Sprachbedeutungen akzeptierend das Gedicht als Spiel zelebrieren und
uns von
allen Konventionen der Produktion und Rezeption lyrischer
Ergüsse befreien. Und
warum sollte man nicht wieder einmal bei
Christian
Morgensterns
"Fisches
Nachtgesang" landen, um sich an der zeitlosen Schönheit der
menschlichen Fantasie
zu erfreuen.
(KS; 10/2009)
Ulrich
Greiner: "Ulrich Greiners Lyrik-Verführer. Eine
Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten"
C.H. Beck, 2009. 224 Seiten.
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