Dagmar Leupold: "Die Helligkeit der Nacht"
Ein Journal
Die
1955 geborene
Schriftstellerin Dagmar Leupold, die schon in der Vergangenheit
aufgrund eher
ungewöhnlicher Bücher einem ganz speziellen Publikum
bekannt geworden ist, hat
in "Die Helligkeit der Nacht" ein Genre wiederentdeckt.
"Ein Journal" nennt sie ihren Briefroman, in dem sie eine regelrechte
Totenbeschwörung inszeniert.
Es geht um zwei Selbstmörder, deren Lebensenden Jahrhunderte
voneinander
entfernt liegen und denen sie ihre umfangreichen Gedanken und
Überlegungen
leiht.
Der eine Selbstmörder nennt sich
Heinrich
von Kleist. Haltlos
ist er, der berühmte
und umstrittene Schriftsteller, quasi aus der Zeit gefallen und doch
ganz gegenwärtig.
Er bewegt sich durch halb Europa, taucht in Danzig auf und in
München, dann
findet er sich in Stuttgart wieder und in Ferrara, oft in Begleitung
eines
anderen toten Mannes, den er Marius nennt und dessen
Lebenshintergründe unklar
bleiben.
Dieser Wiedergänger Heinrich von Kleist folgt einer starken
Sehnsucht. Er will
endlich einmal verstanden werden. Diese Sehnsucht treibt ihn um und
quält ihn,
insbesondere seit er glaubt, bei einem Ausflug nach
Oßmannstedt dort einer Frau
begegnet zu sein, die ihn seither beschäftigt und von der er
nicht loskommt.
Dieser Frau schreibt er Brief um Brief über ein ganzes Jahr,
will verstanden
werden und ihr nahe kommen, erklärt Stationen seines Lebens im
18. Jahrhundert,
kommentiert aktuelles Geschehen im Zeitraum der Niederschrift
(2008-2009) und
sucht permanent Gemeinsamkeiten mit der Adressatin herzustellen.
Die Frau, der er diese zum Teil sehr kurzen Briefe schreibt, die sich
zu einem
richtigen Journal auswachsen, hat fast 200 Jahre nach ihm ihrem Leben
ein Ende
gesetzt. Sie trägt einen Namen, der in der Gegenwart fast
schon ein
Mythos geworden ist:
Ulrike
Marie Meinhof, jene Frau, die als engagierte Journalistin
begann und als
brutale und kalte Mörderin endete.
Mit jedem weiteren Brief gesteht er ihr seine Zuneigung und
Bewunderung,
vergleicht ihr Schicksal und ihre Gedanken mit seinen eigenen, (was sie
nicht
immer unwidersprochen hinnimmt zwischendurch), und notiert interessante
Beobachtungen zu unserer Gegenwart.
Indem sie Heinrich von Kleist, sein Leben und seine Werke mit Ulrike
Meinhof und
ihren politischen Gedanken sowie ihrem Handeln zusammentreffen
lässt, setzt
sich Dagmar Leupold nicht nur mit der jeweiligen Vita der beiden in
ihrer
jeweiligen Zeit und auch danach umstrittenen Menschen auseinander,
sondern lässt
auch sozusagen zwei Epochen aufeinandertreffen.
Immer wieder kommentiert Ulrike als Adressatin von Kleists Briefen
deren Inhalt,
weist auf ihre Sicht von Politik, ihre Meinung von Recht und Wahrheit
hin, und
man spürt diesen kleinen Dialogen ab, wie sich ihre Autorin
die vermutlich auch
quälende Auseinandersetzung mit dieser Ikone des politischen
Protests von der
Seele schreibt.
Das Buch ist eine außergewöhnliche
Auseinandersetzung mit dem Leben und dem
Werk zweier historischer Personen, mehr noch mit jenem von Kleist als
jenem von
Ulrike Meinhof, und gleichzeitig eine luzide Beobachtung von
Phänomenen unserer
Zeit.
Dagmar Leupold hat etwas gewagt: Sie hat zwei Tote miteinander ins
Gespräch
gebracht, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Und
sie hat
erstaunliche Erkenntnisse über die beiden gewonnen. An einer
Stelle kommentiert
Ulrike Meinhof:
"Lieber Kleist, Sie sind unverbesserlich im
Verschränken unserer
Lebensläufe! Aber in einem gebe ich Ihnen recht; Die
Vorstellung, das Faktische
- also zweihundert Jahre - einfach zu missachten und ein gemeinsames
Wirken
anzunehmen, ist sehr reizvoll. Als junges Mädchen habe ich
lauter Koalitionäre
erträumt, die durchweg aus anderen Zeiten stammten. Oder nie
gelebt hatten, außer
schwarz auf weiß. Es waren die beständigsten
Freunde."
Und Kleist
antwortet: "Sehen Sie Ulrike, ganz so sind wir einander
zugefallen."
So wie die beiden Dagmar Leupold zugefallen sind, irgendwann. Wir
wissen nichts
Genaues darüber, sicher aber ist dieses Journal das Ergebnis
einer ebenso
langen wie intensiven Beschäftigung mit Kleist und Meinhof und
dem radikalen
Denken generell.
(Winfried Stanzick; 11/2009)
Dagmar
Leupold: "Die Helligkeit der
Nacht. Ein Journal"
C.H. Beck, 2009. 206 Seiten.
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Dagmar
Leupold, 1955 geboren,
studierte Germanistik, Philosophie und Altphilologie in Marburg und
Tübingen
sowie Komparatistik in New York, wo sie auch promovierte. Sie
veröffentlichte
zahlreiche Gedichtbände und Romane, von denen im Verlag C.H.
Beck "Eden
Plaza", "Edmond", "Nach den Kriegen" und zuletzt "Grüner
Engel, blaues Land" erschienen sind. Außerdem erschien hier
ihr Band
"Alphabet zu Fuß. Essays zur Literatur". Die Autorin wurde
mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem "Aspekte-Preis",
dem "Bayerischen Literaturförderpreis", dem "Mont-blanc-Preis"
und dem "Glaser-Preis". 2002 hatte sie die Liliencron-Dozentur an der
Universität Kiel inne. Dagmar Leupold lebt
in
München. Sie leitet das "Studio
für Literatur und Theater" an der Universität
Tübingen.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Nach den Kriegen. Roman eines Lebens"
Wer war dieser Mann? Rudolf Leupold, 1913 in der deutschsprachigen
Enklave
Bielitz geboren, die 1918 polnisch wurde, spricht beide Sprachen
fließend und
ist mathematisch hochbegabt. Vom Gefühl nationaler
Kränkung und der Hoffnung
auf Karriere getragen, hat er sich im NS-System mehr engagiert, als die
Familie
zu seinen Lebzeiten ahnte.
Der im Krieg versehrte, von Schlaflosigkeit gequälte, manchmal
genialisch-charismatische, oft aber auch die Familie mit Tiraden und
Wutausbrüchen
strapazierende Vater ist nach dem Krieg eher ein Liberaler - ein
gewöhnlicher,
begabter Mann, "dessen Ehrgeiz größer war
als sein Mut". Erst
nach seinem Tod gelingt der Tochter eine Art Rekonstruktion seines
Lebens - und
die Erkundung einer Generation und ihrer Mentalität, der
Voraussetzungen ihres
emotionalen und politischen Schicksals und Handelns. (dtv)
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"Grüner
Engel, blaues Land"
Dagmar Leupold erzählt die ungewöhnliche
Liebesgeschichte der Archäologin
Sophia, die ihr Geld damit verdient, Produktnamen für
Parfüms zu erfinden, und
des Historikers Johannes, der an einer Biografie des
Esperanto-Erfinders Ludwig
Lazarus Zamenhof schreibt. Johannes lädt Sophia, die er
bislang nur angelächelt
hat, auf einen Abstecher nach Belgien ein, in die Nähe von
Liège. Sophia
trauert ihrer großen Liebe zu einem verheirateten Mann nach,
Johannes ist seit
einem Kindheitstrauma stumm. In den sieben Tagen ihrer Reise, im Herzen
Europas,
entwickelt sich eine folgenreiche Liebe. (dtv)
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"Alphabet zu Fuß. Essays zur
Literatur"
Wie aus Erfahrung Literatur wird.
Schreiben bedeutet, dem Wunsch zu folgen, dass man in die Haut eines
Anderen
schlüpfen, dass man aus der eigenen Haut fahren
könnte. Die Haut ist wie die
Sprache, von Innen und Außen zugleich gezeichnet, von
Geschichte wie von einer
Spur geprägt und doch bereit, dass auf ihr etwas Neues
eingetragen werden kann.
Wie Wünsche Begehren, Sprache Begegnung von Ich Welt verwoben
sind und wie sie Geschichten, zu Text werden, das erzählen
schon die Mythen. Daphne
und Apollo, Echo und
Narziss - nicht nur in
Romanen wie "Edmond"
und "Eden Plaza" hat sich Dagmar Leupold die antiken
Erzählungen
anverwandelt, auch in ihren Essays liest sie diese neu und entwickelt
aus ihnen
ihr eigenes poetisches Programm.
Im Zentrum von "Alphabet zu Fuß" stehen die
Poetik-Vorlesungen, die
Dagmar Leupold über "Vergessen, Erinnern, Korrespondieren"
unter dem
Titel "Poetischer Stoffwechsel" gehalten hat. Von der Bilderwelt des
Mythos über die Überlieferung der Literaturgeschichte
bis zur körperlichen
Empfindung untersucht Dagmar Leupold Prozesse der Verwandlung, der
Ähnlichkeit
und der Verdichtung und zeigt, durch welchen Stoffwechsel aus
Erfahrungen
Literatur wird.
Ob sie über Laufen und Literatur,
Ingeborg
Bachmann oder
Uwe
Timm, den "Tor!"-Schrei beim Fußball schreibt oder
das
musikalische Protokoll ihres Schreiballtags gibt: Die Essays von Dagmar
Leupold
sind klug, poetisch und dicht, Erkundungen der Sehnsuchtslandschaft der
Literatur. (C.H. Beck)
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Noch ein Buchtipp:
Marcel
Reich-Ranicki (Hrsg.): "Mein Kleist"
"Heinrich von Kleist war ein Kämpfer, ein Streiter,
einer, wie es sich
für einen guten Preußen schickt, der auf seine Weise
und nicht selten auch
gegen den preußischen Geist rebellierte." Marcel
Reich-Ranicki
Marcel Reich-Ranicki hat die für ihn persönlich
wichtigen Texte des
Schriftstellers und Werke, die er vor allen liebt, die ihn beeinflussen
und geprägt
haben, ausgewählt. Er begründet seine Auswahl in
einem Vorwort. (Hoffmann und
Campe)
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