Doris Lessing: "Alfred und Emily"
Was
wäre gewesen, wenn ...?
In vielen ihrer Bücher hat die
Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing Erfahrungen ihrer
Familie verarbeitet. Oft spielen sie an jenen Orten, an denen Doris
Lessing als Kind oder junge Frau gelebt hat. Wie sie im zweiten Teil
des gegenständlich besprochenen Buchs berichtet, hat sie in
"Martha Quest", dem ersten Band eines großen
fünfteiligen, heute leider fast vergessenen Zyklus ("Kinder
der Gewalt"), fast eins zu eins ihre eigene Geschichte
erzählt.
Das vorliegende Spätwerk, das sie im Alter von fast 90 Jahren
anno 2008 schrieb und das zum Einen eine Annäherung an ihre
und die Auseinandersetzung mit ihren Eltern und zum Anderen eine
rudimentäre Form der Autobiografie darstellt, hatte sie wohl
bereits lange so oder ähnlich mit sich herumgetragen. Schon in
ganz jungen Jahren, zunächst in Persien und dann ab 1924 in
Süd-Rhodesien, hatten die furchtbaren Berichte ihres Vaters
über seine Erlebnisse im
Ersten
Weltkrieg, als er ein Bein verloren hatte und Zeuge
schrecklichen Leides geworden war, ihre prägenden Wirkungen
bei der jungen Doris hinterlassen. Im Grunde genommen war es dieser
Krieg, der das noch junge und zuvor so zukunftsoffene Leben ihrer
Eltern ruiniert hat.
Deshalb versucht Doris Lessing mit der erzählenden und
imaginierenden Kraft, die sie immer noch besitzt, ihre Eltern mit
alternativen Biografien auszustatten. In ihrer erfundenen Geschichte
hat der Vater die Möglichkeit, seinen Lebenstraum zu leben und
eine Farm in England zu bewirtschaften, während sie ihre
Mutter mit vielen wichtigen gesellschaftlichen und karitativen Aufgaben
betraut. Sie geht fiktiv davon aus, dass es in Europa friedlich
geblieben ist, nur auf dem Balkan und im fernen Lateinamerika sowie in
Asien lässt die Autorin kriegerische Auseinandersetzungen
ausbrechen. Das ist alles nicht begründet, sondern die reine
Erzählung, die auf jeder Seite die Trauer darüber
ausstrahlt, dass ihren Eltern ein solches Leben nicht beschieden war.
In einem zweiten Teil des Buchs, ebenso umfangreich wie der erste,
erzählt Doris Lessing von der traurigen Lebenswirklichkeit der
Eltern zunächst in Persien und dann in Süd-Rhodesien.
Von der Hoffnung dieser Menschen, dort neu anfangen zu können,
endlich ihr Glück zu finden. Doch es ist eine lange Geschichte
des Scheiterns, des Mangels an Geld und Perspektive und der
Krankheiten.
Eigentlich ist es ein Wunder, dass Doris Lessing inmitten dieses Lebens
mit Hilfe von Hunderten von Büchern, die sie prägten
und ihr Kraft und Orientierung gaben, von denen sie auch einige Dutzend
aufzählt, zu jener Lebenslust und Kraft findet, die ihr
späteres Werk und ihr Leben so prägen sollten. Doch
auch dieses Leben war von Schatten umwölkt. Die
unglückliche Ehe mit dem Deutschen Lessing und die permanente
Auseinandersetzung mit ihrer Mutter haben ihre ersten Werke
geprägt.
"Über Mütter und Töchter ist viel
geschrieben worden, und ich habe meinen Anteil daran. Man sieht, dass
sich nicht viel verändert hat, denn immer noch heißt
es: 'Sie hat geheiratet, um ihrer Mutter zu entkommen.'"
Besonders der zweite Teil von "Alfred und Emily" bietet allen Freunden
der Bücher Doris Lessings eine gute Gelegenheit, etwas direkt
aus ihrem Leben zu erfahren und wird sicher noch oft zur Interpretation
einzelner Werke hinzugezogen werden.
(Winfried Stanzick; 02/2009)
Doris
Lessing: "Alfred und Emily"
(Originaltitel "Alfred and Emily")
Übersetzt von Barbara Christ.
Hoffmann & Campe, 2008. 301 Seiten.
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