Jürgen Overhoff: "Vom Glück, lernen zu dürfen"
Für eine zweckfreie Bildung
Zweckfreies
fröhliches Lernen
Das vorliegende Buch möchte ein Plädoyer sein
"Für eine zweckfreie
Bildung" (Untertitel) - Lernen kann nicht allein unter den
Zwängen
wirtschaftlicher Notwendigkeit gesehen werden, es sollte wieder als
Zeichen der
menschlichen Würde und Freiheit begriffen werden, wie dies die
führenden Aufklärer
des 18. Jahrhunderts propagierten. "Lebenslanges Lernen"
steht als
Grundsatz deutscher und europäischer Bildungspolitik in allen
Programmen -
allerdings, so beklagt es Overhoff, wird immer nur ein eindimensionales
Lernen
unter ökonomischer Orientierung angestrebt. Unter diesem
Aspekt gerät das
Lernen zum zwanghaften Überlebenstraining, um sich im
Wettbewerb zu behaupten.
Wie im Zeitalter der Aufklärung möchte Overhoff das
Lernen wieder als
"Verheißung" verstehen, als "einen
vielversprechenden Weg zur
Entfaltung der in uns allen angelegten intellektuellen und emotionalen
Möglichkeiten".
Er möchte ein "glückliches Lernen"
neu entdecken, welches mit
Freude und Lust praktiziert wird. Dass dieses Lernen auch von
großem "Nutzen
für das bürgerliche Leben" sei, war schon
den Aufklärern bewusst.
Overhoff möchte nun eine Art "Kanon der wichtigsten
pädagogischen
Schriften des 18. Jahrhunderts" vorlegen, indem er elf
Aufklärer mit
ihren Ideen genauer vorstellt.
Als "Urquelle aller Erziehungsentwürfe und
Lernprogramme" wird
John Lockes Schrift "Some thoughts concerning education"
(1693)
angesehen. Er möchte die natürliche "Wissbegierde"
der Kinder
pflegen und die "Lust am Lernen", welche er sich
spielerisch
und fröhlich entfalten lässt, um die Schüler
zu "selbstständig
lernenden und glücklichen Menschen" mit "geistiger
Frische und
mentaler Beweglichkeit" heranzubilden. Lernen solle Spiel und
Erholung
sein - dann würden die Kinder regelrecht ein "desire
to be taught"
entwickeln.
In Deutschland versucht Reimarus die Ideen Lockes
fortzuführen, indem er mit
seiner Schrift "De philosphiae in re scholastica usu"
(1723)
die Philosophie für die Schule nutzbar machen möchte,
um den Schülern
beizubringen, was Vernunft ist und wie man den eigenen Verstand am
besten
einsetzt. Die Befähigung zur Logik führt für
ihn zum menschlichen Glück, die
Schüler sollen kritisch und vorurteilsfrei sein und
eigenständig denken. Für
Johann Jakob Bodmer sind Einbildungskraft und "politische
Phantasie" wichtig, damit sich die Schüler
später auch als Erwachsene
für eine freiheitliche Gesellschaft einsetzen. Seine Gedanken
legt er zusammen
mit Breitinger in dem Traktat "Von dem Einfluß und
Gebrauche der
Einbildungs-Kraft" (1727) nieder. Auch ihm liegt an "vergnüglichem
Wissenszuwachs", indem man durch fantasievoll vorgetragene "Erzehlungen"
die Schüler "ergetzet".
Während es Christian Fürchtegott Gellert um die "Reinheit
des
Lernwillens" ging, indem mit Lust und Verstand die
Unterscheidung von
Gut und Böse unternommen wird, stand für Benjamin
Franklin die "Gemeinnützigkeit"
im Mittelpunkt. Dem gegenüber pflegte Jean-Jacques Rousseau
das "Mitgefühl"
als zentrale Kategorie. In seiner Erziehungsschrift "Emile"
(1762) möchte er vorführen, wie junge Menschen den "Gebrauch
ihrer
Freiheit" erlernen können. Dabei lesen sich viele
Passagen des "Emile"
wie Paraphrasen von Lockes "Some thoughts concerning
education". Die Kenntnis "erhabener
Gefühle" solle auch die
Urteilsfähigkeit sowie das Verstehen des Schönen und
der "moralischen
Bezüge der Wesen untereinander" fördern.
Einen viel umfassenderen Ansatz wagt Immanuel Kant, der
die
Französische Revolution als ein "eminent
pädagogisches Experiment
allergrößten gesellschaftlichen Maßstabs"
sieht. Erziehung soll dem
Menschen helfen, "in Freiheit das Gute aus sich selbst
herauszubringen." In der geistigen Nachfolge von Reimarus
möchte er
schon seinen Studenten das selbstständige Denken schmackhaft
machen, sie sollen
ihr Wissen "forschend" erwerben und nicht "dogmatisch":
"Sie werden bei mir nicht Philosophie lernen, aber -
philosophieren!" In seiner Schrift "Beantwortung
der Frage: Was
ist Aufklärung?" (1784)
kommt er sowohl auf die Freuden als auch auf die Pflichten des Lernens
zu
sprechen. Auch zum fröhlichen Lernen bedürfe es immer
wieder der Überwindung
der eigenen Lethargie. In seiner Schrift "Über
Pädagogik"
(1803) plädiert Kant für das exemplarische Lernen -
es genüge, in der Schule
Weniges gründlich zu lernen, um sich später als
Autodidakt weiterzubilden. Das
Lernen sei insofern eine Pflicht des Menschen, als er "seine
Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln" habe. Kant
sieht das Ziel
darin, dass das Lernen, auch ohne einem beruflichen Zweck zu dienen,
glücklich
macht - eine "mit Freuden erworbene Weisheit" macht
uns glücklich.
Nun stellt sich freilich die Frage, was uns Overhoff damit sagen will,
dass er
uns diese aufklärerischen Erziehungsideen neuerlich referiert
und sie auch aus
ihrem jeweiligen sozialen und historischen Kontext heraus bewertet. Das
heutige
Bildungswesen soll wohl eher fürs Geldverdienen qualifizieren
- und der heutige
Schüler ist zwar orientiert auf "Spaß", dies aber
aus
Freizeitmentalität anstelle von "natürlicher
Wissbegier".
John Locke, der "große Pionier der
Aufklärungspädagogik" hat
zwar viele Theoretiker inspiriert - aber die Bildungspolitiker scheinen
sich zu
verweigern, und die Lehrer an der Klassenfront resignieren zusehends in
einem
Umfeld, wo ihnen überehrgeizige Eltern überforderte
Kinder aufbürden - und
sich als neue Qualität einer Parallelgesellschaft die
sogenannten "bildungsfernen
Schichten" aufbauen. Heutzutage geht es wohl kaum noch um das
Vergnügen
am oder das Glück durch Lernen - es geht um "Job",
"Karriere",
"Standort behaupten" und sich "gut
aufstellen".
Es geht scheinbar nur noch um einen "Wettbewerbsvorsprung in
globaler
Hinsicht", im Zuge dessen die geistigen Ressourcen der jungen
Menschen
ausgebeutet werden sollen.
Freilich gilt es zu berücksichtigen, dass die im vorliegenden
Buch besprochenen
Aufklärer "pädagogisch und politisch
wirksame
Gesellschaftsreformer" waren, die sich für die
Verwirklichung von persönlicher
Freiheit und Menschenrechten einsetzten. Somit waren sie Sympathisanten
gesellschaftlicher Veränderungen - was man von unseren
heutigen
Bildungspolitikern sicherlich nicht behaupten darf. Lernen
muss wieder als gesellschaftliches Bedürfnis entdeckt werden,
um sich kritisch
und engagiert am öffentlichen Leben beteiligen zu
können. Und so ist Overhoffs
Buch als ein Plädoyer zu verstehen in der Nachfolge der
Aufklärer, die "das
Lernen, den umfassenden und beständigen Wissenszuwachs, das
unablässige
Streben nach geschichtlicher, naturwissenschaftlicher und moralischer
Erkenntnis
mit glühenden Worten als tiefen Sinn des Lebens beschrieben"
haben.
Was in unserer ökonomisch bestimmten Welt so altmodisch und
praxisfern klingen
mag, wird im Kern wohl die einzige Überlebenschance einer
humanen
Zukunftsgesellschaft sein. Insofern gilt die Rückbesinnung in
diesem Buch
wieder einmal im Sinne der Erkenntnis: wer größere
Sprünge (nach vorne)
machen will, muss vorher Anlauf (von weiter hinten) nehmen, damit er
genügend
Schwung bekommt.
(KS; 03/2009)
Jürgen
Overhoff: "Vom Glück, lernen zu
dürfen. Für eine zweckfreie Bildung"
Klett-Cotta, 2009. 272 Seiten.
Buch
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Jürgen
Overhoff, geboren 1967 in
Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte,
Evangelische Theologie, Philosophie und Politologie. Zwischen 1999 und
2007 war
er am Institut für Erziehungswissenschaft der
Universität Potsdam tätig. Er
lehrt an der Universität Hamburg Historische
Pädagogik und Neuere
Geschichte.
Weitere Buchtipps:
Nils Altner: "Achtsam mit Kindern leben. Wie
wir uns die Freude am Lernen erhalten. Ein Entdeckungsbuch"
Mit einem Vorwort von Jon Kabat-Zinn.
Die Fähigkeit zum Im-Moment-anwesend-Sein ist die Basis
für genussvolles
Lernen. Das Buch lädt ein, Lernräume zu Hause, im
Kindergarten und in der
Schule so zu gestalten, dass die Freude am Fragen, Entdecken und
Erkennen ein
Leben lang erhalten bleibt. Lehrer und Eltern finden
Anregungen für eine
achtsame Selbstfürsorge: der beste Schutz gegen Stress und
Ausgebranntsein. (Kösel)
Buch
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Peter
Struck: "Lernen
lernen. Bildung und Erziehung nach PISA"
Im Jahr 2000 ereilte Deutschland der
berühmt-berüchtigte "PISA"-Schock.
Doch schon zuvor und auch danach haben internationale Vergleichsstudien
den
Deutschen bescheinigt, dass sie
keine
guten Schulen hätten. Die Folge war, dass
in keinem Land der Welt so viel über
Erziehung und Bildung geredet wurde wie in
Deutschland, in keinem anderen sich aber auch so wenig bewegte.
Inzwischen ist
das allerdings anders: Die deutschen Schulen haben sich gewandelt in
Richtung
von mehr Erziehungs- und Bildungseffizienz. Klar ist aber auch, dass
eine Schule
keine "pädagogische Insel" ist, sondern dass sie sich im
Umfeld des
gesellschaftlichen und des familiären Wandels behaupten muss.
Bildung ist also
nicht unabhängig vom erzieherischen Rahmen zu sehen.
Der renommierte Erziehungswissenschaftler Peter Struck bezieht in
diesem Buch
Stellung zu wichtigen aktuellen Fragen und Tendenzen der Erziehungs-
und
Bildungsdebatte in Deutschland. (Primus Verlag)
Buch
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Leseprobe:
Prolog oder Das Lernen als große Verheißung
Spätestens seit dem PISA
-Schock und gerade auch im Zuge der fortschreitenden Globalisierung
der
Wirtschaft wird von deutschen und europäischen
Bildungspolitikern jeglicher
Couleur immer häufiger und mit immer
größerem Nachdruck die Forderung
vorgetragen, daß lebenslanges Lernen nunmehr eines der
überragenden Gebote der
Stunde sei. Dabei wird das Lernen vorrangig als zentrale Aufgabe jedes
gewissenhaften Bürgers definiert, der danach strebt, auf dem
immer
anspruchsvolleren Arbeitsmarkt der sich formierenden
Wissensgesellschaft
mithalten zu können. Augenscheinlich erlauben es die rasanten
Veränderungen im
Arbeitsleben unserer Gesellschaft kaum noch, ein Leben lang im gleichen
Beschäftigungsfeld
tätig zu sein. Das beständige Hinzulernen, die
stetige Weiterbildung, so
scheint es, ist demnach eine der ersten Bürgerpflichten
geworden, die man auch
schon Kindern (möglichst im Vorschulalter) beizeiten nahe
bringen sollte.
An immer neuen Bildungsprogrammen, die lebenslanges Lernen als
Leitlinie und
offizielles Ziel europäischer und deutscher Bildungspolitik
ausweisen, herrscht
denn auch kein Mangel. Die meisten der aktuellen deutschen Programme
sind den
einschlägigen Vorgaben der Bund-Länder-Kommission
für Bildungsplanung und
Forschungsförderung verpflichtet, wie sie in der 2004
veröffentlichten Strategie
für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland nachzulesen
sind.
Mit ihrer Empfehlung, "lebenslanges Lernen zu einer
Selbstverständlichkeit in
jeder Bildungsbiografie werden zu lassen", ist die deutsche
Bund-Länder-Kommission
wiederum einer entsprechenden Entschließung des Rates der
Europäischen Union
aus dem Jahr 2002 gefolgt, in der sämtliche Mitglieder der
Staatengemeinschaft
ausdrücklich ersucht werden, "umfassende und
kohärente Strategien" zur Förderung
des lebenslangen Lernens auszuarbeiten. Denn erst wenn alle
ständig lernen, so
der Europäische Rat, wird "die Union zum
wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" werden
können, der
allein "ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren
Arbeitsplätzen"
garantiert.
Das Urdokument und zugleich der gemeinsame Bezugspunkt all dieser
Bestrebungen
ist jedoch das bereits im Jahr 2000 von der Europäischen
Kommission
verabschiedete Memorandum über Lebenslanges Lernen.
In dieser
Denkschrift sind erstmals jene bildungspolitischen Leitvorstellungen
und
Standards in verbindlicher Form definiert worden, die seither
"richtungsweisend
für die künftige Politik und Aktionen der
Europäischen Union" sind. Wer
immer heute im nationalen, europäischen oder auch regionalen
Rahmen öffentliche
Gelder zur Finanzierung von Förderprogrammen beantragt, die
dem lebenslangen
Lernen gewidmet sind, wird deshalb kaum umhin kommen, in seinen
Projektvorschlägen
Geist und Gehalt des Memorandums genau zu beachten
und grundsätzlich zu
bejahen.
Leider zeugt der Wortlaut des Memorandums
von einer sehr eindimensionalen Lesart des Lernens, da er
nahezu ausschließlich
die ökonomische Bedeutung des Lernens
betont, was sich auch in den auf
ihn bezogenen und bereits zitierten deutschen Bildungsprogrammen in
aller
Eindeutigkeit widerspiegelt. Darüber hinaus ist der Text der
Denkschrift von
einer derartigen Krisenrhetorik geprägt, daß den
Leser notgedrungen das
beklemmende Gefühl beschleicht, mit einer unvergleichlich
schwierigen, ja gefährlichen
historischen Situation konfrontiert zu sein. Tatsächlich weist
das Memorandum
unentwegt darauf hin, daß die Art und Weise, wie
moderne Volkswirtschaften
"den Wettbewerb untereinander austragen", heute sehr viel
"größere Risiken
und Unsicherheiten" für den einzelnen Bürger mit sich
bringt, als die
wirtschaftlichen Gepflogenheiten früherer Jahre.
So erlebten die europäischen Nationen momentan einen noch nie
dagewesenen,
"tiefgreifenden
Wande[l] der Produktionsverfahren, der Handelsströme und der
Investitionsmuster",
der die eingefahrenen und zur Gewohnheit gewordenen Lebens- und
Arbeitsmuster
zwangsläufig zu Auslaufmodellen degradiere. Vor allem die
"digitale
Technik",
die fundamentale "Änderungen in sämtlichen Bereichen
des Lebens der Menschen
herbeiführe", mache völlig neue Kenntnisse
erforderlich. Verstärkt gefragt
sei daher die Tugend der raschen "Anpassungsfähigkeit", um den
sich
wandelnden gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen zu
entsprechen und
damit die eigene Arbeitsfähigkeit erhalten zu können.
Die möglichst zügige
und flächendeckende Implementierung lebenslangen Lernens sei
daher auch eine
"unabdingbare Voraussetzung" für "die
Beschäftigungsfähigkeit im Europa des 21.
Jahrhunderts". Sie sei geradezu der "Schlüssel" zum
persönlichen Erfolg in
der »wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft«
der Zukunft. Denn nur der
permanent lernwillige, "von der Wiege bis zum Grab" täglich
hinzulernende
Mensch werde verläßlich dazu befähigt, in
der "Informationsgesellschaft" überhaupt
bestehen und flexibel auf die sich rasant verändernden
Umweltbedingungen
reagieren zu können. Wer nicht lernt, nicht lernen will, nicht
lernen kann,
bleibt also - wie es im Memorandum resümierend
und ohne Ironie in bewußt
drastischen Worten heißt - "auf der Strecke".
Nun ist diese (Über-)betonung der ökonomischen
Bedeutung eines lebenslangen Lernens möglicherweise sachlich
nicht ganz falsch,
doch klingt sie wenig verheißungsvoll. Denn durch den
suggestiven Verweis auf
machtvolle wirtschaftliche Zwänge wird die Aufforderung zum
beständigen Lernen
doch eher als eine bedrückende Botschaft empfunden. Im
Vordergrund steht eine
neue Beschwernis, die Last, nicht die Lust
des Lernens. Doch geht es
beim Lernen
wirklich in der Hauptsache darum, sich an seinem jeweiligen
(nationalen) "Standort"
gut "aufzustellen", um dann aufdringliche Wettbewerber mit einer
gezielt
lancierten "Bildungsoffensive" auszustechen? Ist das Lernen
tatsächlich
seinem innersten Wesen nach eine Art Überlebenstraining, das
notgedrungen
absolviert werden muß, wenn man seine wirtschaftliche
Existenz sichern will? Muß
man wirklich gezwungenermaßen Tag
für Tag aufs neue lernen, oder ist es
nicht viel eher ein Zeichen der persönlichen Freiheit
, also ein
Privileg und ein großes Glück, lernen zu dürfen?
Vielleicht könnten europäische und deutsche
Bildungspolitiker ein größeres
Maß an Gelassenheit zurückerobern und bessere, weil
menschenwürdigere Begründungen
für die Bedeutung des lebenslangen Lernens liefern, wenn sie
dafür zu gewinnen
wären, den gegenwärtigen gesellschaftlichen und
ökonomischen Wandel mit
durchaus ähnlichen Entwicklungen der europäischen
Geschichte zu vergleichen.
Vielleicht ließe sich ja aus der Geschichte lernen,
könnten frühere
Erfahrungen neu bedacht werden, zum Nutzen und Vorteil auch der jetzt
lebenden
Generation. Denn daß die heutigen sozialen und
wirtschaftlichen
Transformationsprozesse möglicherweise doch nicht so ganz ohne
historische
Parallelen sind, wie es vielfach unterstellt wird, scheinen selbst die
Verfasser
des europäischen Memorandums zu erahnen:
Ohne diesen Zusammenhang näher
zu illustrieren oder zu erklären, wird dort nämlich
beiläufig behauptet, daß
Europa heute einen Wandel erlebe, dessen "Ausmaß" allenfalls
mit dem der
- Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden - "industriellen Revolution"
zu
vergleichen sei.
Tatsächlich schlägt dieser nur vage angedeutete
Vergleich zwischen unserer
Zeit und dem 18. Jahrhundert eine sehr hilfreiche Brücke vom
21. Jahrhundert
ins Zeitalter der Aufklärung - und eröffnet damit
höchst interessante
Perspektiven. Denn, so kurios es zunächst klingen mag, die
heutigen Aufrufe zum
lebenslangen Lernen mit ihrer effektvoll vorgetragenen Begleitmusik
immer neuer
Bildungsprogramme sind so neuartig nicht: Schon vor 300 Jahren, zu
Beginn des
18. Jahrhunderts, begannen die führenden Pädagogen
und hellsichtigsten Lehrer
Europas ihre Regierungen und Mitbürger mit einer derartigen
Vehemenz und mit
einem solchen Erfolg auf die gesellschaftliche Bedeutung des Lernens,
der
Bildung und der Erziehung aufmerksam zu machen, daß dieses
Säkulum schon von
den Zeitgenossen als "unser pädagogisches Jahrhundert"
tituliert und gefeiert
wurde.
Wohl ohne Übertreibung läßt sich sagen,
daß in der uns bekannten Geschichte
der Menschheit kaum eine Epoche so sehr von der Bedeutung des Lernens
erfüllt
war wie das Zeitalter der Aufklärung. Viele der
bildungspolitischen Ziele
dieses lernbesessenen Jahrhunderts entsprachen den heutigen Forderungen
nach
einer größtmöglichen Stärkung der
gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit
bereits voll und ganz. Denn der Wunsch, effektiv, flexibel,
wettbewerbsfähig
und wirtschaftlich erfolgreich zu sein, war dem 18. Jahrhundert
keineswegs
fremd. Immerhin veröffentlichte Adam Smith, der Wegbereiter
des Kapitalismus
und Begründer der Theorie der Marktwirtschaft, sein
wirtschaftswissenschaftliches Hauptwerk Der Wohlstand der
Nationen schon
1776. Er selbst konnte zu diesem frühen Zeitpunkt auf etliche
moderne, von ihm
favorisierte ökonomische Praktiken verweisen, die bereits seit
der Wende zum
18. Jahrhundert in der Ausbreitung begriffen waren.
Allerdings argumentierten die überzeugendsten und
kompetentesten Verfechter
eines gesteigerten gesellschaftlichen Lernwillens damals im Grunde
völlig
anders als die Mehrheit der heutigen Bildungspolitiker. Denn gerade den
pädagogisch
ambitioniertesten und einflußreichsten Aufklärern
ging es zuerst und
wesentlich darum, das Lernen als eine große Verheißung
darzustellen:
Verheißungsvoll schien ihnen die Aktivität des
Lernens deswegen zu sein, weil,
wie sie feierlich postulierten, der Mensch nur durch seine
beständige
Weiterbildung dazu befähigt würde, die in ihm
angelegten intellektuellen und
emotionalen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen,
sein Leben sinnvoll
zu meistern und damit seiner Bestimmung gerecht zu werden: Erst als ein
sich über
seine Welt immer neu verständigender Lernender würde
sich der Mensch seines
Daseins so recht erfreuen können.
Freude, dazu auch Lust, Verlangen und Liebe: Das
sind die
wichtigsten Stichworte, mit denen jene im 18. Jahrhundert so lebhaft
geführte
Debatte über die Bedeutung des Lernens angestoßen
wurde - und zwar zuerst
und vor allem durch die Schriften des großen englischen
Philosophen, Arztes und
Hauslehrers John Locke. In seinem bereits 1693, also an der Schwelle
zum neuen Säkulum
veröffentlichten Buch Some thoughts concerning
education sprach zwar
auch er davon, daß ein stetes Lernen von großem
Nutzen für das bürgerliche
Leben sei. Doch in der Hauptsache hob Locke hervor, daß das
Lernen - ganz
ungeachtet seines möglichen Nutzens für die
Sicherstellung des beruflichen
Fortkommens und des persönlichen Wohlstandes - bereits an
und für sich ein
unendliches Vergnügen und ein unvergleichlicher
Genuß sei. Lernen bedeutete für
Locke vor allem, zweckfrei nach beglückender Erkenntnis und
nach persönlicher
Erfüllung zu streben.
Dieser von Locke vorgegebene Tenor des glücklichen Lernens
prägte den Diskurs
und das Schrifttum über Bildung und Erziehung im Europa der
Aufklärung wie
kein zweiter Text. Sogar der Königsberger Philosoph Immanuel Kant,
der das
Lernen nach Ablauf des 18. Jahrhunderts als einer der letzten
großen Aufklärer
dieser Epoche auch als Pflicht beschrieb - und in
seinem 1803
publizierten Buch Über Pädagogik betonte,
daß ein gewisser Zwang
bisweilen nötig sei, um den Menschen von dieser Pflicht zu
überzeugen -,
verstand das Lernen dennoch nicht als freudlose Angelegenheit. Im
Gegenteil: Wie
Locke wußte er und hielt daran fest, daß das
beständige Lernen - auch wenn
es in gewissen Momenten nicht ohne Einsatz einer gehörigen
Portion
Selbstdisziplin auskommt - ganz wesentlich als überaus
köstliches Spiel des
Witzes zu begreifen war, das höchsten Genuß
versprach. Daß das Lernen
geistige Freuden ganz besonderer Art bereithielt, stand somit selbst
für Kant
außer Frage. Deshalb wurde er auch nicht müde, die
Lust, die durch die
intellektuelle und kreative Tätigkeit des Lernens bereitet
wird, in seinen pädagogischen
Schriften an exponierter Stelle zu thematisieren und als ein
großes Glück zu
beschreiben.
Im Vergleich zu den viel zu technokratischen und immer von einem
eigenartigen
wirtschaftswissenschaftlichen Jargon durchzogenen Bildungsprogrammen
der
heutigen Zeit nahm sich das Vokabular der pädagogisch
interessierten Aufklärer
also allemal lustbetonter, fröhlicher und leidenschaftlicher
aus. Und wenn an
dieser Stelle ganz allgemein von den Aufklärern
die Rede ist, dann
geschieht das weder unüberlegt noch zu unrecht
verallgemeinernd, sondern aus
der festen Überzeugung heraus, daß alle führenden
Aufklärer des 18.
Jahrhunderts - trotz mancher Unterschiede im Detail - jene
fundamentale, von
Locke übernommene pädagogische Auffassung einte,
derzufolge man Kinder
und Erwachsene überhaupt nur dann für das
beständige Lernen würde motivieren
können, wenn man ihnen den permanenten Wissenserwerb
zunächst als eine der
ursprünglichsten menschlichen Freuden erfahrbar
gemacht hatte. Wegen
dieses einen gemeinsamen pädagogischen Bezugspunktes wurde
Lockes Schrift Some
thoughts concerning education auch bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts ganz
ausdrücklich als "Urquelle" aller Erziehungsentwürfe
und Lernprogramme des
Zeitalters der Aufklärung verehrt und gefeiert.
Wer immer also heute ein echtes Interesse daran hat, das Lernen - und
erst
recht das lebenslange Lernen - als ein für alle verbindliches
gesellschaftliches Ziel zu deklarieren, ist gut beraten, sich mit
möglichst
unbefangener Neugier den wichtigsten Aufklärern des 18.
Jahrhunderts
zuzuwenden, um von ihnen Rat und Weisung auch für
pädagogische Fragen unserer
Zeit einzuholen. Denn die von diesen Lehrern, Schulmännern,
Philosophen und
Publizisten im Verlauf eines pädagogisch bewegten Jahrhunderts
gemachten
Erfahrungen sind viel zu bedeutsam, um dem Vergessen
überantwortet zu werden.
Sie können somit - übrigens auch im Unterschied oder
in Ergänzung zu den
jetzt immer populärer werdenden neurobiologischen und
kognitionspsychologischen
Deutungen des effektiven Lernens - als wertvolles bildungshistorisches
Korrektiv verstanden werden. Deshalb wollen sie auch sorgsam bedacht
sein, wenn
die heutigen Appelle an die ständige Lernbereitschaft der
Menschen fruchten und
eine segensreiche Wirkung entfalten sollen.
Bei der erwünschten Hinführung zu den zentralen
pädagogischen Einsichten der
Aufklärer will der nun folgende narrative Essay auf seine
eigene Weise einen
besonderen Beitrag leisten. Erzählt und vorgestellt werden
soll das
erziehungsreformerische Bemühen des Zeitalters der
Aufklärung nämlich im
Folgenden als Geschichte des pädagogischen Denkens
und Handelns von elf
bedeutenden Persönlichkeiten, die sehr entscheidende und
für ihre Epoche ganz
und gar repräsentative Akzente im damals leidenschaftlich
geführten Diskurs über
das Lernen setzten: John Locke, Joseph Addison, Hermann Samuel
Reimarus, Johann
Jakob Bodmer, Christian Fürchtegott Gellert, Benjamin
Franklin,
Jean-Jacques
Rousseau, Johann Bernhard Basedow, Moses Mendelssohn, Mary
Wollstonecraft und
Immanuel Kant.
Sie alle, zehn Männer und eine Frau, zehn Christen und ein
Jude, zehn Europäer
und ein Amerikaner - die auch in diesem Zahlenverhältnis die
pädagogische
Avantgarde des 18. Jahrhunderts getreu repräsentieren -
betätigten sich nicht
nur ohne Ausnahme als Lehrer, Dozenten und in manchen Fällen
sogar als Schulgründer,
sondern beschrieben in ihren stilistisch meisterhaften Schriften
zugleich elf für
das Lernen bedeutsame Eigenschaften, die sich bis heute geradezu als
Tugendkatalog des vergnüglichen und erfolgreichen
Lernens lesen: Neben
der immer wachzuhaltenden Lernlust, also der natürlichen Wißbegierde
,
sind dies das Training einer genauen Anschauung,
der rechte Gebrauch der
Vernunft, die Schulung der Einbildungskraft,
das Beherzigen von Aufrichtigkeit, der Anspruch auf
Gemeinnützigkeit, das Kultivieren von Mitgefühl,
das Einfordern von Toleranz, Tröstung
durch Gottvertrauen,
der Kampf um Chancengleichheit und der Zwang zur Selbstdisziplin.
Als gute Pädagogen wußten sie eben sehr genau,
daß es beim Lernen nicht um
das bloße Sammeln von Fakten geht, sondern um den Erwerb von
Einstellungen und
Haltungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie um Ausdauer und
Freude.
Indem sowohl das allgemeine erzieherische Wirken der
ausgewählten elf Aufklärer
wie auch die von ihnen gesetzten besonderen pädagogischen
Akzente nun in elf
einzelnen, von Dekade zu Dekade fortschreitenden Kapiteln dargestellt
werden, läßt
sich überdies jedes Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in seiner
ganzen Eigenheit
auf pädagogischem, politischem und ökonomischem
Gebiet ausführlich
betrachten. Da jedes Kapitel zudem einen ganz bestimmten Ort vorstellt,
an dem
die Protagonisten dieser Erzählung entweder
hauptsächlich tätig waren oder
ihre wichtigsten Texte verfassten, vortrugen und
veröffentlichten, kann sich
der Leser zugleich ein Bild von einigen der wichtigsten
Stätten der europäischen
und amerikanischen Aufklärung und von den dort entwickelten
Grundgedanken
klassischer Pädagogik machen.
Schließlich wird in jedem Kapitel jeweils ein zentraler Text
der behandelten
Aufklärer in aller Ausführlichkeit gewürdigt
und interpretiert, so daß sich
am Ende des Buches so etwas wie ein Kanon der wichtigsten
pädagogischen
Schriften des 18. Jahrhunderts extrapolieren läßt.
Die Kenntnis dieses Kanons
- der unser unaufgebbares pädagogisches Erbe der
Aufklärung ausmacht - sowie das Wissen um die historischen
Umstände, die zu seiner Entstehung führten,
sollte dann dazu beitragen, daß auch wir Heutigen das Lernen
wieder viel stärker
als große Verheißung betrachten, also als einen
vielversprechenden Weg zur
Entfaltung der in uns allen angelegten intellektuellen und emotionalen
Möglichkeiten,
den wir - ungeachtet aller ökonomischen Fragen, Problemen oder
Zwängen
unserer Zeit - fröhlich und guten Mutes beschreiten
dürfen. (...)