Robert Gellately: "Lenin, Stalin und Hitler"
Drei Diktatoren, die Europa in den Abgrund führten
Interessanter
Beitrag zum
Verständnis der Zeitgeschichte
Adolf Hitlers monströse Rolle im Zweiten Weltkrieg und
bezüglich der Gräuel
an Juden, so genannten Zigeunern, Regimegegnern und
Angehörigen besiegter Völker
ist unbestritten. Mittlerweile gibt es auch recht zuverlässige
Schätzungen darüber,
wie viele Millionen seiner eigenen Staatsangehörigen sowie
Polen und andere
"Feinde" Stalin auf dem Gewissen hat. Erst neuerdings wagen es
Historiker, ernsthaft an der Ikone Lenin zu kratzen und auch ihn zu den
Gewaltherrschern zu zählen, die für die katastrophale
Entwicklung im Europa
der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts verantwortlich zeichnen.
Der us-amerikanische Historiker Robert Gellately untersucht in seinem
umfangreichen Werk die Rolle jedes einzelnen der titelgebenden
Diktatoren. Dabei
geht er zu dessen Ursprüngen zurück und beschreibt,
wie Lenin, vor allem aber Stalin
und Hitler sich in ihrer jeweiligen Partei beziehungsweise Bewegung
hochgearbeitet und dieser mehr und mehr ihren persönlichen
Stempel aufgedrückt
haben. Gellately lenkt den Blick des Lesers jedoch auch auf jene
Entwicklungen
des Ersten Weltkrieges und der Jahre danach, die ganz wesentliche
Auswirkungen
auf den Werdegang der Diktatoren hatten: wie Lenins Bolschewisten an
die Macht
kamen und Lenin den Frieden von Brest-Litowsk unterzeichnete, wie
Stalin sich frühzeitig
durch unerbittliches Vorgehen gegen Regimegegner hervortat und Hitler
seine
ganze Politik auf der "Dolchstoßlegende" aufbauen konnte.
Das Buch ist nicht als Abfolge dreier Vitae zu verstehen, sondern es
folgt einer
chronologischen Ordnung. Zehn Teile mit je mehreren Unterkapiteln
schildern den
Schreckensweg Europas, insbesondere von Deutschland ostwärts
bis zum Ural, ab
dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution. Sehr detailliert
schildert
der Autor die wechselhaften Geschicke, vor allem aber den Terror, die
zur
Etablierung des Kommunismus führten, ebenso die
Vorgänge in Deutschland,
insbesondere in
München,
aus denen Hitlers Machtposition in der extremen Rechten Deutschlands
resultierte. Weiterhin zeigt er auf, wie Stalin an die Macht gelangte
und diese
durch eine unerbittliche Strategie festigte, wie er sich die
Bevölkerung durch
massiven Terror gefügig machte, das GULAG-System
einführte und letztlich
seinem Land auf entsetzliche Weise schadete - nicht nur, weil er
zahllose
erfahrene Offiziere ermorden ließ, die der Roten Armee im
Krieg empfindlich
fehlen sollten.
Hitlers politischer Aufstieg, eingebettet in den gesamtpolitischen und
wirtschaftlich-sozialen Kontext, wird ebenso intensiv betrachtet.
Der Zweite Weltkrieg umfasst vier der zehn Teile des Buchs. Hierin geht
es vor
allem um die Opfer, militärische wie zivile,
hauptsächlich die Juden als
zentrale leidtragende "Gruppe", die diese in der Geschichte einmalige
Massenschlächterei zu verzeichnen hatte. Die leitende Rolle
der beiden zu
diesem Zeitpunkt noch lebenden Diktatoren, Stalin und Hitler, wird
sorgfältig
herausgearbeitet; zugleich lernt der Leser auch den Einfluss einiger
Entscheidungsträger und Ausführenden im direkten
Umfeld der Potentaten kennen.
Mit dem Ende des Krieges endet mehr oder weniger auch das Buch, von
einem Epilog
abgesehen.
Es schließen sich mehrere Karten, ein Glossar und weitere
interessante Angaben
an.
Auf den ersten Blick scheint es dem an der Zeitgeschichte
interessierten Leser
wohl, als hätte er über all dies bereits in den
zahlreichen weiteren
Publikationen zu der Zeit von Weltkrieg zu Weltkrieg
erschöpfend gelesen. Der
zweite Blick zeigt, dass in diesem Buch andere Schwerpunkte gesetzt
werden als
üblich. Zum einen lässt sich der Aufstieg jedes
einzelnen der drei Diktatoren
ausgezeichnet nachvollziehen, denn der Autor bietet bestens
recherchierte und
logisch durchdachte Begründungen dafür, wie ein Lenin
und Hitler als Anführer
einer kleinen Gruppierung innerhalb einer größeren
Partei beziehungsweise
einer Splitterpartei jeweils eine ganze Nation hinter sich versammeln
konnten,
und wie es einem Stalin gelang, trotz gewisser Vorbehalte Lenins dessen
Erbe
anzutreten.
Zum anderen zeigt sich, dass die Terrorsysteme in der Sowjetunion,
Deutschland
und den von den Deutschen besetzten Gebieten ohne Stalin und Hitler
wohl kaum in
ihrer schier unglaublichen destruktiven Effizienz hätten
aufgebaut werden können.
Der Autor umreißt alle Aspekte der massenhaften
Menschenvernichtung, die von
Lenin bis Hitler angeordnet und durchgeführt wurden, sowohl
hinsichtlich ihrer
Funktionsweise und Historie als auch der Opferzahlen. Zugleich
betrachtet er Ähnlichkeiten
und Unterschiede zwischen den Ideologen und Ideologien sowie deren
Umsetzung.
Die bodenlosen Abgründe in diesen drei
Persönlichkeiten werden dem Leser vor
allem anhand der von ihnen gegebenen Anordnungen bewusst; manchmal
erscheinen
sie auch direkt vor des Lesers Augen, etwa anhand von
Augenzeugenberichten, in
denen die Kaltblütigkeit der Diktatoren durchscheint.
Interessant wären wohl
Psychogramme der drei Machthaber gewesen, wenngleich diese nicht zum
Fach des
Historikers gehören: Letztlich bleibt es unklar, was Lenin,
Stalin und Hitler
zu den Monstren - das Wort sei in diesem Kontext erlaubt - werden
ließ, als die
sie sich Europa gegenüber offenbarten.
Ungewöhnlich ist, wie eingangs erwähnt, die
Herausarbeitung Lenins als
"gleichberechtigt" mit Stalin und Hitler. Es gelingt Gellately, die
Einordnung Lenins unter die drei Diktatoren zu rechtfertigen, die
Europa in den
Abgrund führten.
Ein trotz seines Umfanges sehr gut lesbares Buch mit hohem
Informationsgehalt,
das auf aktuellen Quellen fußt und einen interessanten und
erschütternden
Beitrag zur Zeitgeschichte leistet.
(Regina Károlyi; 03/2009)
Robert
Gellately: "Lenin, Stalin und Hitler. Drei Diktatoren, die Europa in
den Abgrund führten"
(Originaltitel "Lenin, Stalin, and Hitler: The Age of Social
Catastrophe")
Übersetzt
von Norbert Juraschitz
und Heike Schlatterer.
Gustav Lübbe, 2009. 891 Seiten.
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Robert Gellately, geboren 1943 in Kanada, ist Professor für
die Geschichte des
Holocaust an der Clark University in den
Vereinigten Staaten von Amerika.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk"
Wie gelang es dem NS-Regime, sich die Kollaboration ganz normaler
Deutscher mühelos
zu sichern?
Nach dem Krieg wollte kaum jemand in Deutschland etwas von den
Konzentrationslagern, von Terror und Mord gewusst haben. Es schien, als
hätten
nur wenige "willige Helfer" im Verborgenen die von
Hitler
befohlenen
Verbrechen begangen. Robert Gellately beweist anhand bislang
vernachlässigter
Dokumente das Gegenteil:
Nach dem Willen der nationalsozialistischen Machthaber sollte das Volk
informiert werden. Sie nutzten die breite Zustimmung der Deutschen zu
"Recht
und Ordnung", um mit genau geplanten Strategien die Menschen an
Verhaftungen, Polizeiwillkür, Ausgrenzung und Verfolgung
ganzer Bevölkerungsgruppen
zu gewöhnen - und zur Mithilfe - sei es durch Zustimmung,
Denunziation oder
aktive Mitarbeit - zu veranlassen. (dtv)
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Weitere
Buchtipps:
Orlando Figes: "Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland"
Viele Darstellungen behandeln die sichtbaren Aspekte der
stalinistischen
Diktatur: die Verhaftungen und Prozesse, die Versklavung und das Morden
in den
Gulags. Kein Buch hat jedoch bislang die Auswirkungen des Regimes auf
das
Privat- und Familienleben der Menschen untersucht, den "Stalinismus,
der
uns alle ergriff", wie es ein russischer Historiker einmal formuliert
hat.
Auf der Basis von Hunderten Interviews mit Zeitzeugen und zahllosen
bislang
unbekannten Dokumenten liefert Orlando Figes in "Die
Flüsterer"
erstmals einen unmittelbaren Einblick in die Innenwelt
gewöhnlicher Sowjetbürger
und zeigt an zahlreichen eindringlichen Beispielen, wie Einzelne oder
Familien
in einem von Misstrauen, Angst, Kompromissen und Verrat beherrschten
Alltag um
ihr Überleben kämpften. Für die Zeit der
Revolution
von 1917 bis zu Stalins
Tod und darüber hinaus rekonstruiert Figes das moralische
Gespinst, in dem sich
die allermeisten Russen gefangen sahen: Eine einzige falsche Bewegung
konnte
eine Familie zerstören oder am Ende womöglich deren
Rettung bedeuten. Keiner
konnte sich sicher fühlen, nicht einmal die
überzeugtesten Anhänger des
Regimes. Wahrheit und Wahn, Schuld und Unschuld waren in diesem
Unterdrückungssystem
immer wieder auf fatale Weise miteinander verquickt. Das breit
angelegte Porträt
einer Gesellschaft, in der jeder nur noch flüstert - entweder
um sich und
Andere zu schützen oder um zu verraten. Ein ebenso
schonungsloser wie
ergreifender Bericht davon, wie schwach - und wie unvorstellbar stark -
Menschen
in einer von Paranoia geprägten totalitären
Gesellschaft werden können.
(Berlin Verlag)
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Mark
Grosset, Nicolas Werth:
"Die Ära Stalin. Leben in einer totalitären
Gesellschaft"
Er gilt - nach Hitler - als das größte menschliche
Ungeheuer der Geschichte.
Mehr als 20 Millionen Menschen verloren während seiner
Gewaltherrschaft ihr
Leben. Gleichzeitig wurde er zum Übervater stilisiert, zum
allwissenden und
gerechten Lenker des Sowjetvolkes. Dieses Buch erzählt die
Geschichte der
Sowjetunion unter Stalin.
Vom Ende der 1920er-Jahre bis zu seinem Tod 1953 betrieb Stalin eine
brutale, rücksichtslose
Politik der Industrialisierung. Um den Preis schrecklicher Opfer zwang
er den rückständigen
Agrarstaat zur Militärmacht, ließ Fabriken bauen und
Städte aus dem Boden
stampfen. Gleichzeitig löste der "Mann aus Stahl" Bewunderung
aus.
Vor allem der Zweite Weltkrieg und der Sieg über
Nazideutschland ließen Stalin
in der Sowjetunion als Retter des Landes, ja der gesamten westlichen
Welt
erscheinen. 250 zumeist unveröffentlichte Fotos geben Zeugnis
davon -
offizielle Bilder eines Landes im Aufbruch, eines Volkes auf der Suche
nach dem
sozialistischen Glück, aber auch brutale Bilder des
"Großen Terrors"
und der alltäglichen Entbehrungen. (Theiss-Verlag)
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Wolfgang
Leonhard:
"Anmerkungen zu Stalin"
In Russland feiert eine historische Figur eine erstaunliche Wiederkehr:
Bei einer Volksumfrage wurde Josef Stalin jüngst zum
"größten Held der
russischen Geschichte" gewählt. In dem Land, in dem
auch wieder die alte
Stalin-Hymne gesungen wird, droht die Erinnerung an die Gräuel
zu verblassen,
wird einer der schlimmsten Diktatoren des letzten Jahrhunderts gern in
mildem
Licht gesehen, als Patriot und Garant nationaler Stärke.
Anlass genug für
Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, den letzten Überlebenden der
legendären
"Gruppe Ulbricht", sich erneut mit dieser Jahrhundertgestalt zu
beschäftigen.
Leonhard schöpft dabei aus eigener Erfahrung: Er verbrachte
seine Jugendjahre
in Moskau, seine Eltern wurden Opfer der Säuberungen unter
Stalin.
In diesem Buch versucht er, das Phänomen Stalin für
heutige Leser verständlich
zu machen: Wie vollzog sich dessen Aufstieg vom georgischen
Schustersohn zum
kommunistischen Diktator? Wie gelang es ihm, im Namen des Marxismus ein
bürokratisches
Schreckensregime zu etablieren? Eine ebenso leidenschaftliche wie
persönliche
Auseinandersetzung mit einer Figur, die das 20. Jahrhundert
maßgeblich prägte.
(Rowohlt Berlin)
Buch
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