Jürgen Leonhardt: "Latein"
Geschichte einer Weltsprache
"Die
Weltreiche der Sprache erstrecken sich nicht nur im Raum, sondern auch
in der Zeit." (Seite 16)
In der Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Schulfaches Latein
hört man unter den Gegnern immer wieder Schlagworte, wie
Latein sei bloß eine "tote Sprache". Die Befürworter
hingegen sprechen davon, wie prägend nach wie vor
die antike
Welt für die europäische Kultur sei.
Doch Dispute, die sich aus Halbwissen und medial vermittelten Meinungen
speisen, vernachlässigen die endlos vielen Zwischenpositionen
und das wenig zugängliche Wissen zwischen
Befürwortung und Ablehnung. In seinem hervorragend
recherchierten und exzellent geschriebenen Sachbuch offeriert
Jürgen Leonhardt, Professor für Latinistik mit
Spezialisierung auf neulateinische Literatur, dem interessierten Leser
genügend Fakten und Argumentationen, um diese Extrempositionen
zu relativieren und das Wissen über die Weltsprache Latein zu
mehren.
Aha-Erlebnis zur Quantität der Überlieferung bieten
gleich die ersten Seiten: Bei Weitem nicht die Mehrheit der
lateinischen Texte stammt aus der Antike, sondern aus der Neuzeit. Nur
etwa 0,01 Prozent aller in lateinischer Sprache verfassten Texte ist
aus der Zeit vor dem Ende des römischen Reichs
überliefert. Und von diesem winzigen Teil, der
ungefähr fünfhundert Bänden zu je
fünfhundert Seiten entspricht, fallen wiederum 80 Prozent auf
die christliche Spätantike. Was gemeinhin als lateinische
Literatur bezeichnet und auszugsweise in den Gymnasien
übersetzt wird, also beispielsweise Plautus,
Cicero,
Ovid oder Tacitus, ist nur ein Fünfzigtausendstel
dessen, was Bibliotheken an lateinischen Texten zu bieten haben (Seite
2ff.).
Im Vergleich zu anderen "toten Sprachen" und durch die Anwendung von
Methoden der modernen Sprachwissenschaft, die sich nach Jürgen
Leonhardts Meinung viel zu wenig mit den klassischen Sprachen befasst,
prägt er den Begriff der "fixierten Sprachen",
die zwar schriftlich und als Zweitsprache auch mündlich
weitertradiert werden, deren Norm sich aber wie auch im Falle des
Altkirchenslawischen, des Sanskrit oder des klassischen Arabisch nicht
mehr weiterentwickelte.
Damit unterscheidet er das Lateinische von anderen, "wirklich" toten
Sprachen wie Etruskisch oder Hethitisch, mit denen sich außer
einigen wenigen Spezialisten niemand mehr beschäftigt, die
also praktisch keine Sprecher oder Schreiber mehr haben.
Welche Wege das Lateinische nahm, nachdem es nicht mehr von einem
Großteil der Bewohner des römischen Reichs als Erst-
oder Zweitsprache gesprochen wurde, füllt einen
großen Teil des umfangreichen, leider aber nur schwach
bebilderten Buches des Professors an der Universität
Tübingen. Immer wieder vergleicht er die Geschichte der
Sprache mit heutigen Weltsprachen, mit Englisch, Arabisch,
Spanisch und
Chinesisch, um durch den Vergleich jene Besonderheiten sprachlicher
Entwicklungen zu illustrieren; die eine Weltsprache erst ausmachen,
z.B. das Nebeneinader regionaler Sonderformen.
Je näher Jürgen Leonhardt seinem Spezialgebiet
Neulatein (etwa ab 1500) kommt, desto lebendiger wird das Buch. Allein
der Vergleich mit dem Petersdom (S. 188) erleichtert das
Verständnis für die sprachlichen Entwicklungen
ungemein: dass zwischen 1506 und 1626 der größte
antike Kirchenbau, die im 4. Jahrhundert über dem Grab des
Apostels errichtete Petersbasilika, abgerissen und durch den heutigen
Bau ersetzt wurde, dessen Fassade dem antiken Modell einer heidnischen
Tempelfassade verpflichtet ist, zeigt deutlich den Paradigmenwechsel
vom mittelalterlichen zum Neulatein. Nicht mehr die
spätantiken Kirchenväter und das Bibellatein waren
Vorbild und Schullektüre, sondern Ciceros Reden und Vergils
Aeneis.
Jürgen Leonhardt präsentiert kenntnisreich die
Bedeutung des Lateinischen in den großen
Kulturräumen Westeuropas im Bezug auf die Heranbildung der
heutigen Nationalsprachen Deutsch, Englisch, Französisch,
Spanisch und Italienisch. Kaum Erwähnung findet leider die
Rolle des Neulatein in Mittel- und Osteuropa, vor allem in Polen und
Ungarn, wo Latein bis weit ins 19. Jahrhundert als politisch neutrale
Sprache - statt Deutsch oder Russisch - nicht nur in der Verwaltung
verwendet wurde, sondern bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in
weit höherem Maße gelehrt und gelernt wurde als im
Rest Europas. Die Amtssprache Ungarns war bis 1918 Lateinisch!
Die Zeit nach 1800, als das Lateinische als aktiv gebrauchte Sprache
weitgehend aufgegeben wurde, wird leider fast nur noch aus der Sicht
deutscher Bildungspolitik beschrieben, wenn auch differenziert und -
wie auch in den vorhergehenden Kapiteln - äußerst
pointiert. Insbesondere wie der "Kampf gegen die Grammatik"
(Seite 274ff.) und somit gegen das Lateinische als normierte Sprache
die Diskussion im 20. Jahrhundert dominiert und die
Basisfunktion des
Lateinischen in einem grundlegenden und auch für die Kenntnis
der Muttersprache sowie anderer Sprachen wichtigen Grammatikunterricht
in Frage stellt, gehört hier zu den zentralen Themen: wo
Sprachrichtigkeit und Grammatik abgelehnt werden, glaubt man auch kein
Latein zu brauchen.
Dieser Überblick über die 2500-jährige
Geschichte einer Sprache ist ein Fundus für Fragen der
Sprachenpolitik, der Sprachkultur und des Sprachenlernens. Hierbei geht
es nicht um eine Gewinn- und Verlustbilanz, sondern darum, sprachliche
Phänomene in einem äußeren
größeren historischen, kulturellen und
sprachwissenschaftlichen Rahmen zu verstehen.
(Wolfgang Moser; 11/2009)
Jürgen
Leonhardt: "Latein. Geschichte einer Weltsprache"
C.H. Beck, 2009. 339 Seiten.
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