Andrej Kurkow: "Der Milchmann in der Nacht"
Das Geheimnis lauert überall
Eine junge Frau verlässt ihr Haus in Lipowka im Kiewer Gebiet
und sinniert über den nicht mehr existenten Rauch des Schornsteins, da der alte Ofen
durch einen Heizkessel ersetzt worden ist. Diese Szene eröffnet den Roman
von Andrej Kurkow und bringt schon hier die Tendenz der Melancholie und der Nostalgie in
den Blick des Lesers.
"Es gibt Geschichten, die beginnen eines Tages und gehen nie
zu Ende. Sie können einfach nicht enden, weil sie mit ihrem Beginn
Dutzende einzelner
Geschichten hervorbringen, von denen jede ihre Fortsetzung hat. Wie
wenn ein
Stein in eine Windschutzscheibe schlägt [...]."
So beginnt der Roman um einige Menschen in Kiew, die durch das
Schicksal der
Stadt, die ewige Kälte und die politisch-industriellen
Machenschaften bestimmt
werden. Und tatsächlich spinnt der ukrainische Autor Andrej
Kurkow eine
Geschichte, die nicht mit einem wirklichen Ende gesegnet sein kann.
Irina lebt ein Leben im ständigen Erinnern. Das zeigen ihr die
Träume, das
zeigen ihr ihre Gedanken. Irina ist alleinstehende Mutter einer
kleinen, drei
Monate alten Tochter. Die ernährt sie jedoch mit Milchpulver,
ihre eigene
Muttermilch verkauft sie in Kiew an eine Firma. Wohin die Milch geht,
weiß sie
nicht, aber bestimmt bekommt sie irgendein Kind reicher Eltern. Das
Geld braucht
Irina allemal.
Dima, der Flughafenwächter, sucht mit seinem
Schäferhund Schamil in dieser
Zeit auf dem Borispoler Flughafen nach Schmuggelware. Doch an jenem
Morgen lässt
er einen Koffer mit verdächtigem Inhalt von zwei gerissenen
Gepäckträgern,
die ihn dazu überreden, dass dies ein gutes Geschäft
für sie werden könnte,
davontragen. Dass dies für ihn und seine
katzenverrückte Frau Walja noch zum
Verhängnis werden könnte, stört ihn im
Moment noch nicht.
Semjon, ein Leibwächter, lebt mit seiner Veronika in Kiew.
Doch nachts verschwindet Semjon immer wieder, und Veronika glaubt, dass dahinter
mehr als nur die zeitraubende Arbeit als Bewacher eines großen
Politikers steckt.
Vor allem aber bestimmen die Politik und der geheime Bund der Arzneiindustrie
das Leben aller Figuren. In dem Koffer, den die Gepäckträger vom Flughafen
Borispol entfernen und in Dimas Garage bunkern, befinden sich nach
Baldrian duftende Ampullen, deren Inhalt kraftstrotzende Wirkungen hat. Und auch
Irina, die sich in den adretten Jegor verliebt, den sie im Park in Kiew in den
Pausen ihrer Arbeit als Milchgeberin kennenlernt und daher mit ihrer Arbeit
als Amme aufhören will, ist verstrickt in eine politische
Affäre, denn ihre Milch ist das Wundermittel zur Verjüngung für einen reichen
Parlamentarier, für den Semjon arbeitet.
Der Autor erschafft in seinem Roman einen Bilderreigen an Menschen, das
Leben drei junger Paare breitet er - getrennt voneinander - vor dem Leser
aus. Ihre Schicksale lässt Kurkow sukzessive ineinander
übergehen. So erstrecken sich die Puzzleteile der Geschichte größtenteils im Grau
eines Alltags, der viele Entbehrungen birgt, doch dazwischen leuchten farbige Tupfer auf. Die
Papageien
zum Beispiel, die Dima auf dem Markt sieht, wo er einen grauen Kater
für seine trauernde Frau erstehen will, denn den geliebten alten Murik hat er mit
dem Inhalt einer der Ampullen getötet; oder das frisch
grün gefärbte Tuch, das Irina eigenhändig neu coloriert hat, um dem fremden Jegor zu
gefallen. Besonders auffallend und sehr atmosphärisch ist des Weiteren,
dass im Roman
viel
Wodka, viel Whisky und viel Kaffee
getrunken wird. Aber was will man gegen die ewigen Kälte und das Leben der
Entbehrungen schon Anderes tun?
Alle Figuren jedoch scheinen eher unwillkürlich in ungute
Machenschaften verwickelt zu sein, es beginnt im Leser der Gedanke zu reifen, dass diese
Menschen, die in und um Kiew leben, etwas Anderes zwingt, die Ruhe des eigenen Daseins
zu gefährden: das System.
Irina scheint die einzige Person zu sein, die nicht
zum
Bösen geleitet wird, die ihr Leben lebt in der Suche nach aufrichtiger Liebe und deren
Dasein sich einfach nach vorn gestaltet, ohne große Überlegungen
- wenn diese sie auch von selbst heimsuchen.
Spätestens mit dem Unfall Irinas, die von einem Auto
angefahren wird, läutet
die Geschichte andere Tendenzen ein, hier wird es kein schönes
Zusammenkommen der Menschen geben; alle Taten, alle Entscheidungen haben Folgen, auch
wenn der Eine oder Andere diese verdrängen möchte, das
Schicksal sucht sie doch heim.
Man würde nicht genau wissen, in welchem Jahr der Roman
spielt, gäbe es nicht diese kleinen, klaren Details. Ein Mobiltelefon, das Irina geschenkt
bekommen soll, um sich bei Jegor zu melden, der Klapprechner eines jungen
Mädchens, der in einem Café aufgeklappt wird, die kleinen
Ohrstöpsel, die als Funkverbindungen der Wachmänner dienen, weisen auf die
Gegenwart hin, doch die Erzählweise ist recht traditionell, der Erzähler
scheint allwissend zu sein, sogar die Tiere sprechen hin und wieder, und eine stark dem Realismus
verhaftete Sprache drängt sich dem Leser nahezu auf. Doch die
beängstigende Tendenz der Gegenwart, die Überwachung
bezwingt das Althergebrachte, die Postmoderne
verschlingt den Realismus.
Jeder hat ein Geheimnis, überall lauert das Geheime, so
schimmert es zwischen den Zeilen und wird für jeden Einzelnen im Buch zur immer
klareren Gewissheit. Wenn auch jeder die
Verantwortlichkeit
für das eigene Handeln lieber zurückweisen
würde. Als Semjon beispielsweise für seine
nächtlichen Ausflüge, die er sich nicht erklären kann, vom Psychiater ein Attest ausgestellt
bekommt, "dass Sie wirklich an Schlafwandlerei leiden und für Ihre nachts
begangenen Taten keinerlei Verantwortung tragen!", ist er mehr als
erleichtert, "und ein nachdenkliches Lächeln erschien auf seinen Lippen".
Die Verantwortung für ihre Taten schreibt Andrej Kurkow
tatsächlich nicht unbedingt seinen Charakteren zu. Man erlebt deren unheilvolle
Geschichten und Verirrungen mit, die manchmal gar ein wenig zu überspitzt und
unglaublich klingen, doch sie gehen in der großen Verschwörung
der Welt unter, die sich über ihre Unglaublichkeit selbst gar nicht mehr wundert. Letztendlich geht
jeder seinem eigenen Schicksal nach und hofft auf die Erfüllung der
eigenen Träume.
Dabei malt der ukrainische Autor ein recht düsteres Bild, das
sich durch das Finale des Romans nicht sofort begreifen mag, doch aufgrund der klaren
Oberhand der Großen und Mächtigen und der vielen kleinen
Details des Buches überaus lesenswert gezeichnet wird.
(Christin Zenker; 10/2009)
Andrej
Kurkow: "Der Milchmann in der Nacht"
(Originaltitel "Noĉnoj Moloĉnik")
Aus dem Russischen von Sabine Grebing.
Gebundene Ausgabe:
Diogenes, 2009. 544 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Diogenes, 2011.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Der Gärtner von Otschakow"
Jedes Mal, wenn Igor in die alte Uniform samt Stiefeln und Mütze schlüpft, reist
er durch die Zeit und landet in Otschakow am Schwarzen Meer, im Jahr 1957. Dort
trifft er auf Weindiebe und andere Gauner, und auf eine schöne, rothaarige
Marktfrau, bei deren Anblick Igor die Gegenwart beinahe vergessen möchte ...
Ein geheimnisvoller Mann, dieser Gärtner, den Igors Mutter eingestellt hat. Um
die 60, wortkarg, trinkt keinen
Alkohol. Und was hat es mit der verwischten,
unleserlichen Tätowierung an seinem Oberarm auf sich? Mit Hilfe eines
befreundeten Computernarren gelingt es dem jungen Igor, sie zu entziffern: "Otschakow
1957" steht da, und: "Jefim Tschagins Haus". Als er diesem Rätsel auf den Grund
gehen will, gerät Igor nicht nur nach Otschakow, eine Hafenstadt am Schwarzen
Meer, über 500 Kilometer von seinem Haus bei Kiew entfernt. Sondern tatsächlich
auch in das Jahr 1957...
In Andrej Kurkows fantastisch-absurder Erzählkunst ist alles möglich - auch eine
Zeitreise in eine Vergangenheit, von der aus man die Gegenwart womöglich umso
klarer sieht .... (Diogenes)
zur Rezension ...
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