Günter Kunert: "Das letzte Wort hat keiner"
Über Schriftsteller und Schriftstellerei
Der
schreibende Leser
Einer der vielseitigsten Gegenwartsautoren, der zudem die Erfahrung des
Wechsels aus der DDR in die BRD mitbringt bzw. zu verarbeiten hatte,
legt hier eine Sammlung von Aufsätzen über eigene
Leseerlebnisse vor. Denn eine seiner Grundthesen ist eben die, dass man
Schriftsteller nicht allein durch Schreiben wird, sondern v.a. eben
auch durch Lesen. Für seine eigene Praxis stellt Kunert fest: "Übermäßiges
Lesen verlockt zur Nachahmung", deswegen sei er eben auch zum
Schreiben gekommen: "Und insofern stellen meine Texte
über Autoren einen etwas verklausulierten Dank für
die heimliche Unterstützung bei meiner eigenen Arbeit dar."
Freilich stellt er sich als Realist quasi auch die ketzerische Frage: "Was
zum Teufel bringt uns denn unsere Lektüre?" Und er
macht auch darauf aufmerksam, wie der Trend läuft: "Von
einem aktuellen, sich epidemisch ausbreitenden Standpunkt aus
betrachtet, ist
Literatur
das Überflüssige
schlechthin." Und wir dürfen davon ausgehen, dass
Kunert an "Literatur" im Sinne von "anspruchsvoll" denkt und nicht an
all das Geschreibsel, das die sogenannten Verkaufsbestenlisten
verstopft. Dabei wolle man als Leser doch grundsätzlich "abschalten"
- allerdings konstatiert Kunert: "Es gibt kein folgenloses
Lesen." Dabei beschäftigt er sich mit dem, was in
unserem Gedächtnis verbleibt und dem, was uns
berührt. Dabei passiert es, dass Literatur zum
"Lebensersatz" wird, ja dass sie uns den existenziellen Sinn liefert.
Freilich bleibt man letztendlich ein Voyeur ohne Eigenverantwortung und
Gefahr. Soweit der moderne Leser allerdings überhaupt noch zum
Buch greift, sucht er weniger nach dem Sinn des Lebens als nach
Amüsement darin - literarisches Lesen wird wohl
früher oder später die Angelegenheit einer Elite
werden. Insofern räsoniert Kunert mit einem gewissen Hang zum
Abschweifen über das eine oder andere Thema, welches mit
Literatur zu tun hat, er scheut verbindliche Aussagen oder Urteile -
was ihm aufgrund seiner Erfahrung zustünde - oder was er sich
womöglich gerade wegen seiner Erfahrenheit verbietet.
Allerdings konfrontiert uns Kunert mit einer der immer wieder
auftauchenden Problemstellung, nämlich der Frage nach dem
legitimen Zusammenhang von Literatur und Politik - immer auf dem
Hintergrund, ob ein Autor von Bedeutung nicht Engagement zeigen
müsse bzw. ob denn die Politik nicht der Ästhetik
schade. Dabei schwingt die fundamentale Frage mit: "Gibt es
so etwas wie literaturunwürdige Themen?" Oder setzt
sich ein Autor allzu schnell einem
"Ideologieverdacht" aus? Ist die Literatur denn nicht dazu da,
für das
"Reich der Freiheit" zu kämpfen - oder wird die Literatur dann
überflüssig, wenn dieses Reich, das "Himmelreich
auf Erden" im
Heine’schen
Sinne, verwirklicht
wurde? Die Geschichte der Zensur zeigt uns nur scheinbar, dass die
Literatur eine
"Waffe im Kampf um Humanität" ist - denn andererseits
könnte man sich mit Kunert die deprimierende Frage stellen, "was
eigentlich dieses ganze Geschreibsel soll, wenn es weder Krieg noch
Terror, weder Massenmord noch Ausbeutung verhindert." Und so
muss Kunert bereits in seiner "Einleitung" konzedieren: "Wir
erwarten viel vom Wort und wissen, diese Erwartung trügt."
Dabei bleibt die Frage bestehen, ob es eine Frage des Charakters oder
des Temperaments ist, eine Frage der Erziehung oder der Kultiviertheit,
weswegen soundso viele Leute hartnäckig und mit Begeisterung
weiterhin gute Bücher lesen.
Kunert stellt die bewusst naive Frage, warum Literatur die "Veredelung
des Gemütes" im Schiller’schen
Sinne noch
nicht bewerkstelligt hat. Immerhin könnte man der Literatur
eine Leistung attestieren, nämlich "uns
lebensfähiger zu machen, nämlich fähiger,
unsere Existenz, also deren Unsinnigkeit, Beiläufigkeit, krude
Vermessenheit überhaupt zu ertragen. Ich lese, also bin ich."
Freilich muss man Kunert hier entgegen halten, dass genau dieser
existenzielle Überlebensakt heute für viele durch
digitale
Medien abgeleistet wird. Abgesehen von den strikt
religiösen Mitmenschen glauben wohl immer mehr Zeitgenossen
gar nicht mehr an eine
fundamentale
Sinnhaftigkeit des Lebens - also
gilt es schlichtweg, sich von der Sinn-Losigkeit abzulenken, sie nicht
zur Kenntnis zu nehmen. Es lässt sich doch statistisch eine
Flucht aus der Lektüre registrieren, bzw. viele
Bücher, die noch gelesen werden, bewegen sich auf einer Fantasy-Ebene
oder in einem trivialen Rahmen, wie sie auch in den Medien vorkommen.
Festzustellen bleibt, dass Politik und Medien gleichermaßen
durch Simplifizierung in der Praxis dominieren, während
Literatur eigentlich der Differenzierung dient. In dieser Art
kulturellem Klima sieht Kunert das Ende einer Literatur, wie sie etwa
Heinrich Böll repräsentierte, gekommen. Die Zeit, in
der das geschriebene Wort noch die Welt zu bewegen schien, geht zu
Ende.
Dennoch glaubt wohl Kunert an eine gewisse Wirkung von Literatur -
würde er sonst exemplarisch einige für ihn besondere
Autoren dergestalt präsentieren, wie sie für ihn
jeweils singulär bedeutsam wurden?! Dazu gehört auch,
dass er uns Schwächen bei
Lichtenberg
oder Goethe
aufzeigt, um aus ihnen Schriftsteller
wie andere auch werden zu lassen. Lichtenberg weist er durchaus
voraufklärerisches Denken in manchen Bereichen nach, Goethe
entlarvt er, dass er sich hin und wieder verstellt bzw. selbst
inszeniert habe: "Auch G. ist ein Monstrum, das das
Unvereinbare, nämlich Sein und Schein, dichterisch
zusammenzwingt." Ist es nötig zu betonen, dass dies
doch die wahre Qualität eines Schriftstellers ausmacht? Im
Übrigen sieht Kunert das literarische Schaffen als "eindeutige
Zwangsneurose", die man sich in jungen Jahren als
begeisterter Leser angeeignet hat.
Im Märchen
entdeckt Kunert einen Fundus, aus dem sich mancher
frühere deutsche Schriftsteller bedient hat, wie auch er
selbst. Für die heutigen Autoren beklagt er es fast als
Verlust, dass der Bezug zu den alten Stoffen verloren gegangen ist. Die
alte Ambiguität ist verloren gegangen, der moderne Mensch lebt
eben in einem Raum der "Zweifelsfreiheit mathematisch
bestimmter Systeme." Wie es sich ja auch gehört, hat
Kunert seine eigene Lesart bei einigen Autoren und bringt das Schreiben
manches Kollegen auf einen überraschenden Punkt. Bei
Isaac
B. Singer etwa sticht für ihn die Sentenz
heraus: "Im Anfang war die Lust" - das eigentliche
Agens der Figuren Singers ist in Kunerts Interpretation der
Eros.
Und
unter dieser Prämisse, dass er einige der hier
aufgeführten Autoren ganz spezifisch für sich
persönlich entdeckt, schildert uns Kunert seine
Eindrücke bei der Lektüre etwa von
Klabund,
Trakl,
Becher, Huchel, Hermlin, Schnurre oder
Kempowski.
Dabei stellt er sich eine ganz zentrale Frage: "Was denn
verleiht dem Dichter ... diese seltsame Fähigkeit, etwas
aufzunehmen und zu erfassen, was der im Alltag und deren Gewohnheiten
befangenen Mehrheit entgeht?" Zwar antwortet Kunert hier
für Trakl: "Ihn verletzt und schmerzt, was andere
kaum bemerken" - dennoch muss man wohl auch lapidar
feststellen, dass nicht jeder "verletzte" Mensch sich den Luxus leisten
kann, darüber zu schreiben. Dazu kommt ein weiterer Aspekt,
der sich bei Kunerts Analyse so artikuliert: "Trakls Gedichte
sind für harmoniesüchtige Zeitgenossen wenig
erfreulich, vielleicht sogar schwer erträglich."
Eines der banalen Kriterien, warum Autoren in welcher Weise schreiben,
ist nämlich dieses, dass die einen etwas "Schönes"
produzieren wollen, den anderen geht es um "Kunst"
oder "Wahrheit".
Allerdings weiß Kunert aus eigener Erfahrung: "Mit
seinen fatalen Wahrheiten kann er nicht reüssieren."
Überraschend mag womöglich sein, wie Kunert in
Johannes R. Becher in erster Linie den "allerletzten
romantisierenden Deutschlandbedichter" sieht, fernab von
dessen ideologischer Verblendung. Diesem Problem versperrt sich Kunert
keineswegs, indem er seine eigene Vergangenheit in der DDR reflektiert
und sich etwa mit der Verhaltensweise von
Hans Sahl im Exil vergleicht.
Wie sehr hatte man sich als Intellektueller einem System oder einer
Ideologie übereignet? Wie konsequent sollte man sich dazu
bekennen, oder wie schwer sollte es fallen, sich davon zu
lösen und eine neue Identität zu gewinnen?! "Von
Kindheit an gewöhnt, Außenseiter zu sein",
sieht sich Kunert in der Rolle eines Verfolgten, der sich seine
Reputation täglich schwer erkämpfen muss. Und er
betont, dass er sich, ähnlich wie Hans Sahl, für
keine Zwecke in den Dienst nehmen lassen wollte und will.
Zu erwähnen gilt es, dass Kunert den autobiografischen Roman
"Geheimnis und Gewalt" von Georg K. Glaser für ein
"Jahrhundertwerk" hält, welches "einen ganzen
Zentner Geschichtsschreibung aufwiegt", denn der Betroffene "reflektiert
... was ihm zustößt, auf literarisch bewundernswerte
Weise." Ja, Kunert wird geradezu euphorisch: "Wer
wissen will, was damals tatsächlich los war, greife zu Glasers
Buch." Abgesehen davon, dass solcherart Bücher und
derartige Urteile mit einer gewissen Zurückhaltung zu lesen
sind, weiß man zumindest um Kunerts lautere Absicht, dass
nämlich die "schmerzhafte Wahrheit" nicht
verlorengehen möge.
An Hermlins Beispiel versucht Kunert klarzumachen, dass man zum
Scheitern verurteilt ist, wenn man gleichzeitig der Kunst und der Macht
dienen will: Hermlin war kein hundertprozentiger Kommunist, wohl aber
ein hundertprozentiger Literat. Im Unterschied dazu bescheinigt er
Ralph
Giordano, er habe niemanden gekannt, der kompromissloser der
Wahrheit gedient hätte. Und in seiner hier abgedruckten
Laudatio bemerkt Kunert grundsätzlich: "Die
Aufklärung ist in Deutschland noch lange nicht beendet, und
daher sind Aufklärer wie Ralph Giordano unbedingt
nötig; sie wehren sich namens einer stets bedrohten
Humanität gegen deren Todfeind: das Vergessen. Die Vernunft
wachzuhalten und wachsam zu sein - diese Lehre hat uns unser Freund
Giordano erteilt." Und im Grunde genommen tut dies genau auch
Günter Kunert mit seinem Werk und den hier versammelten
Texten. Im Zusammenhang mit Heinz Czechowski fordert er uns auf, uns
auch schwierigen Texten zu widmen, weil wir dabei lernen
können, dass wir "als Gattung noch nicht zur
Gänze normiert sind." Woher Kunert diesen Optimismus
nimmt, hat zwar in diesem Buch nicht wirklich explizieren
können, aber seine einerseits ironischen, andererseits
tiefernsten Kommentierungen sollten uns dazu verleiten können,
uns mit unserer Welt wieder mehr literarisch zu beschäftigen.
(KS; 09/2009)
Günter
Kunert: "Das letzte Wort hat
keiner. Über Schriftsteller und Schriftstellerei"
Wallstein Verlag, 2009. 192 Seiten.
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